
Aufwachen Europas als Begreifen gemeinsamer Verantwortung für die Zukunft
Der europäische Integrationsprozess der Ukraine und die enge Zusammenarbeit mit nationalen Regierungen und europäischen Institutionen sind eine der vorrangigen Aufgaben der Ukraine. Ihre Rückkehr in die europäische Gemeinschaft, die historisch durch den Beitrag der Kiewer Rus und des Kosakenstaates bei der Bildung unserer Identität bedingt ist, ist ein natürlicher, aber zugleich komplexer Prozess.
Das Erlangen der Vollmitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union wird nicht nur uns, sondern auch die Europäische Union selbst verändern, denn Integration ist eine Straße mit Gegenverkehr. Auf diesem Weg sind Missverständnisse und das Gefühl einer gegenseitigen Müdigkeit möglich, die Geduld und Vertrauen erfordern werden. Politische Entscheidungen und gesellschaftliche Praktiken verschiedener Prozessbeteiligter können im Laufe der Zeit einen eher merkwürdigen Charakter haben.
Wir können unsere Partner nicht verstehen, besonders wenn sie hartnäckig versuchen, mit dem russischen Aggressor Geschäfte zu machen, sogar dann wenn sie sich seiner Absicht bewusst sind, die Grundlagen der europäischen Werte zu zerstören? Unsere Partner können uns nicht verstehen. Ist die Freiheit so viele Leben wert, wenn es einen Weg gibt, sich einfach zu ergeben und zu warten, bis Putin stirbt?
Doch wir sind noch immer eine Familie und trotz allem, was die schizophrenen russischen Führer in ihren pseudohistorischen Artikeln schreiben, ist unsere ukrainische Einheit mit Europa in grundlegenden Dokumenten verankert.
„Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ weist darauf hin, dass die Ukraine Teil der europäischen Gemeinschaft ist und einen europäischen Geist in sich trägt, der manchmal deutlich stärker ausgeprägt ist als in einzelnen europäischen Staaten. Der erste Artikel der Charta besagt: „Die Würde eines Menschen ist unantastbar. Sie muss respektiert und geschützt werden.“ Und erst im zweiten Artikel steht über das Menschenrecht auf Leben. Offenbar sind das nicht einfach nur die Folgenummer von Artikeln in einem der wichtigsten Dokumente Europas. Dies spiegelt die Tatsache wider, dass die Ukraine bei der Verteidigung ihrer Würde, Kultur und Subjektivität (obwohl sie dies nie wollte) das Leben ihrer Töchter und Söhne opfert.
Für die Politiker einiger europäischer Staaten, die Putins Narrative verbreiten und ihn auf jede erdenkliche Weise zu beschwichtigen versuchen, ist es wahrscheinlich schwer, eine solche ukrainische Haltung zu verstehen. Dies bedeutet jedoch schon gar nicht, dass wir aufhören sollten, sie zu überzeugen. Man muss daran arbeiten, einen richtigen Stil und die richtige Form der Kommunikation mit ihnen zu finden.
Gerade deshalb können die kulturelle Dimension und die für die Ukraine und Deutschland gemeinsamen Werte, eine gemeinsame Vision in der Frage der Bewahrung des europäischen Kulturerbes zu der Sprache werden, die wirksam vermittelt und erklärt, wer die Ukrainer sind und warum sie das tun, was sie tun.
Bei dem kürzlichen Besuch in Berlin, bei dem es darum ging, internationale Unterstützung für den Schutz der ukrainischen Kultur in Kriegszeiten zu gewinnen, wurde mir noch stärker die Notwendigkeit bewusst, unsere gemeinsame Sprache zu vervollkommnen und zu verfeinern.

In der deutschen Hauptstadt fanden Treffen mit der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Staatsministerin Claudia Roth, und Wirtschaftsvertretern sowie eine offizielle Eröffnung der Ausstellung der Meisterwerke aus dem Museum von Odessa für östliche und westliche Kunst „Von Odesa nach Berlin. Europäische Malerei des 16.–19. Jahrhunderts“ statt, die Werke europäischer Künstler des 17.–19. Jahrhunderts präsentiert.

Diese Ausstellung, die unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier und mit Unterstützung des Staatssekretärs für Kultur und Medien stattfindet, wurde zu einem Symbol der deutsch-ukrainischen Freundschaft, insbesondere im Kontext der bewaffnete Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine.

Die Kunstsammlung der Ausstellung wurde aus Odessa evakuiert und so vor russischen Angriffen gerettet. Präsident Steinmeier betonte, dieser Krieg sei nicht nur ein Angriff auf das Territorium der Ukraine, sondern auch auf ihr kulturelles Gedächtnis und ihre Identität. Er verzeichnete die heldenhaften Bemühungen der Ukrainer, ihr Erbe auch unter Beschuss zu bewahren.

Claudia Roth ihrerseits betonte die Bedeutung der Unterstützung der ukrainischen Kultur als integralen Bestandteils des europäischen Erbes. Sie bestätigte die Bedeutung der ersten Internationalen Kulturkonferenz in der Ukraine zum Thema „Kooperation für Stabilität“ und lud uns zudem ein, an Schlüsselkulturveranstaltungen in Deutschland teilzunehmen, etwa an der Berlinale und Buchmessen.

Frau Roth hat vorgeschlagen, die Werke der Ausstellung auch in anderen Städten, wie zum Beispiel Heidelberg, auszustellen, woran wir gemeinsam arbeiten werden. Ebenso wie an der Integration kultureller Themen in die Arbeit der internationalen Schlüsselplattformen, wie etwa der Konferenz zur Wiederaufbau der Ukraine in Rom in 2025.
Ich bin dankbar dafür, dass Deutschland seit 2022 rund 30 Millionen Euro in den Kulturbereich der Ukraine, insbesondere in die Übersetzung von Literatur, die Teilnahme an internationalen Ausstellungen und den Kampf gegen russische Propaganda investiert hat. Es gibt jedoch noch viel zu tun. Insbesondere in den Fragen der Entkolonialisierung der ukrainischen Kultur (einschließlich der Entkolonialisierung des deutschen Denkens über die Ukraine und Russland) und der Verhinderung russischer Geschichtsfälschungen. Insbesondere im Kontext des 80. Jahrestages des Sieges im Zweiten Weltkrieg und des ukrainischen Beitrags zu diesem Sieg.
Am 23. Januar 2025, als wir mit Kollegen in Berlin arbeiteten, verabschiedete das Europäische Parlament mit absoluter Mehrheit eine sehr mutige (fast im ukrainischen Stil) Entschließung, in der die Geschichtsfälschung und der Einsatz von Desinformation zur Legitimierung der unprovozierten groß angelegten bewaffneten Aggression gegen die Ukraine verurteilt wurden. Eine Übersetzung dieser Resolution mit seinen Kommentaren ins Ukrainische hat freundlicherweise der ukrainische Historiker Serhij Hromenko zur Verfügung gestellt. Auch das Team des Ministeriums für Kultur und strategische Kommunikation der Ukraine war inoffiziell an der Arbeit an dieser Resolution beteiligt.
Zu den wichtigen Punkten dieses Dokuments gehören die Unterstützung der Erklärung des ukrainischen Parlaments vom 2. Mai 2023 über die Ideologie von „Raschismus“. Angesichts dieses Begriffs und seiner Definition verurteilte das europäische Parlament die nationalistische, imperialistische Ideologie, die Politik und die Methoden des derzeitigen russischen Regimes und betonte, dass diese Politik und diese Methoden völkerrechtswidrig sind und im Widerspruch zu den europäischen Werten stehen.
Wie die ukrainische Parlamentsabgeordnete Yevheniya Kravchuk in ihrem Facebook-Beitrag feststellte, weist die Resolution des Europarlaments historische Ansprüche des russischen Regimes zurück, die darauf abzielen, die Geschichte und die nationale Identität der Ukraine zu unterminieren, darunter auch auf die Rechtfertigung der andauernden Aggression.
Frau Kravchuk betonte, dass das Wesen der russischen Aggression liegt in der Leugnung der nationalen Identität der Ukraine. Darüber schrieb ich ausführlich in einem meiner vorherigen Beiträgen.

Die Europaabgeordneten verurteilten auch Russland für Zerstörungen von Holodomor-Gedenkstätten und Wiedereinrichtungen von Lenin-Denkmälern in den besetzten Gebieten der Ukraine sowie die Tatsache, dass der Kreml die Orthodoxie für geopolitische Zwecke missbraucht, insbesondere, wenn er die Kirche und das Glauben als Waffe für die Kontrolle in der Ukraine, Georgien, Moldau, Serbien und weiteren Ländern einsetzt.
Unser Kollege, der ukrainische Parlamentsabgeordnete Yaroslav Yurchyshyn, der ein aktives Mitglied und einer der Initiatoren des vorübergehenden Sonderausschusses für die von Russland unterdrückten Völker ist, drückte sich noch prägnanter aus, indem er sagte, dass das „Europaparlament „Russki mir“ als Böse anerkannte“.
Unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen gibt es Anzeichen dafür, dass Europa aufwacht. Natürlich kann man nicht sagen, dass seine Rolle beim Kampf der Ukraine für ihre Würde und Unabhängigkeit passiv war. Doch auch starke Ausdrücke sollten gereift werden. Und wir hoffen aufrichtig, dass den starken Worten auch starke Taten folgen.

Es ist bemerkenswert, dass eine mutige und offene Rede von Karl Habsburg, des Führungspolitikers der Paneuropa-Bewegung, einer der Vorboten dieser Wiedergeburt war. Er betonte, dass der Imperialismus nicht nur eine Charaktereigenschaft von Putin ist, sondern auch tief in der russischen Gesellschaft verwurzelt ist.
Eine gemeinsame Eröffnung der Ausstellung mit dem deutschen Bundespräsidenten war eine Erinnerung an die enormen Verluste, die die europäische Kultur durch die russische Aggression in der Ukraine erleidet. Hunderttausende Artefakte in den besetzten Gebieten sind der Gefahr der Zerstörung oder des Verkaufs auf dem Schwarzmarkt ausgesetzt.
Unser Dialog stärkt die bilaterale Zusammenarbeit zwischen der Ukraine und Deutschland und erinnert die Welt an die Bedeutung der Bewahrung kultureller Identität und der Bekämpfung des russischen Imperialismus. Wir arbeiten weiterhin daran, einander besser zu verstehen und den Weg zu einem gemeinsamen, erfolgreichen, demokratischen und geeinten Europa zu gehen.

Mykola Totschyzkyj, Minister für Kultur und strategische Kommunikationen

Das Ministerium für Kultur und strategische Kommunikationen
Erstes Foto: David von Becker
* Meinung des Autors spiegelt nicht unbedingt die Meinung der Agentur wider