Faktoren, die die Lage an der Front beeinflussen
Das russische totalitäre Regime bereitete sich lange auf eine umfassende Invasion in die Ukraine vor. Mit angehäuften Ressourcen konnte sich der Kreml nach einem gescheiterten Blitzkrieg 2022 auf einen langen und anstrengenden Krieg einstellen. Die Mittel des Nationalen Wohlstandsfonds Russlands, der mit Petrodollar systematisch aufgefüllt wurde, werden jetzt in den militärisch- industrieller Komplex reinvestiert. Die russischen Rüstungsfabriken produzieren bereits intensiver, als vor dem Krieg
Die europäischen Rüstungsunternehmen bekamen gleichzeitig nach dem Ende des Kalten Krieges keine großen Aufträge. Auf den großen Krieg bereitete sich niemand vor, außer den Russen. Die Rüstungsindustrie der Ukraine und unserer Partner im Westen wurde nicht auf eine beispiellose Intensität der zweijährigen Kämpfe in der Ukraine entlang der riesigen Frontlinie ausgelegt. Und die Beschleunigung der Produktion, der Aufbau neuer Kapazitäten sind kein schneller Prozess. Der Krieg in der Ukraine ist der größte Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg und braucht enorme Ressourcen.
Nach zwei Jahren Krieg ist die militärische Stärke Russland noch erheblich. Und das, obwohl ihre Waffenvorräte aufgrund des enormen Verluste auf dem Schlachtfeld schnell aufgebraucht werden. Seit dem letzten Treffen im Ramstein-Format (nach mehr als ein Monat seit dem 14. Februar) zerstörten die ukrainischen Verteidigungskräfte 12 russische Jagdbomber, ein Aufklärungsflugzeug vom Typ A-50, über 350 Kampfpanzer und fast 1000 Schützenpanzer des Feindes. Trotz der enormen Verluste auf dem Schlachtfeld ist Russlands Überlegenheit an Waffen dank Vorräten aus der Sowjetzeit bedeutend. So zerstörten die ukrainischen Verteidigungskräfte seit Beginn der Invasion mehr als 10600 (!) Artilleriesysteme der Russen. Das ist aber weniger als die Hälfte ihrer Vorräte.
Russische Trümpfe
Russland schätzte die aktuellen Produktionskapazitäten der Ukraine und der verbündeten Staaten ein und nutzt seine Überlegenheit an Munition, ohne Intensität der Feuerangriffe zu verringern. Seit Anfang 2024 liegt das Verhältnis bei der Artillerie entlang der Frontlinie bei 7 zu 1 zugunsten des Feindes. Der Kreml rechnet damit, dass seine Artilleriemunition für die Dominanz auf dem Schlachtfeld noch für eine lange Zeit reicht. Für diese Feuerwalze sorgen nicht nur russische Werke. Das nordkoreanische Regime hilft den Russen mit erheblichen Mengen Waffen.
Der Luftraum wird von der russischen Luftwaffe dominiert. Die feindlichen Jagdflugzeuge setzen gegen unsere Frontstellungen und in frontnahen Gebieten lenkbare Fliegerbomben ein. Seit Anfang des laufenden Jahres (77 Tage) warfen die Kampfflugzeuge des Gegners über 3500 Bomben auf unsere Positionen ab, das ist 16 Mal mehr als 2023.
Die russische Dominanz am Himmel sollten die lange erwartenden F-16 brechen, was die Fähigkeiten der ukrainischen Verteidigungskräfte am Boden erhöhen wird. Momentan ist die Situation aber so, dass wir die F-16 noch nicht haben und Vorräte bestimmter Munitionsarten auf ein kritisches Niveau fallen. Diese und andere Faktoren erschweren den Abwehrkampf der Verteidigungskräfte gegen den Aggressor.
Sie werden nicht aufhören!
Die riesigen Personalressourcen sind ein weiterer wichtiger Trumpf der Besatzer. Das sind die Menschen, die bewusst Ukrainer töten wollen und die Millionenmassen in Russland, die den aggressiven Krieg ihres Landes gegen die Ukraine unterstützen. Putin gelingt es, die Kontrolle über den russischen Informationsraum zu behalten.
Diejenigen, die über steigende Kriegsverluste der russischen Armee in der Ukraine informiert werden und denken, dass sie aufhören müssen, die irren sich. Sie werden nicht aufhören! Weil die Soldaten in Russland Verbrauchsmaterial sind. Eine Bestätigung dafür ist das Vorrücken der russischen Armee nach Bachmut und dann nach Awdijiwka. Die Russen erlitten enorme Verluste bei „Fleischstürmen“ dieser Städte.
Grausame Einstellung gegenüber dem Leben eigener Soldaten ist die schrecklichste Waffe des Kremls. Seit dem letzten Treffen im Ramstein-Format verlor Russland mehr als 32.000 Soldaten, insgesamt bereits über 431.000. Die riesigen Verluste stoppen aber weder Putin noch russische Kommandeure.
Zweifellos wird Putin nach einiger Zeit nach der Scheinwahl in Russland seine neuen Soldaten mit neuer Wut nach vorne treiben. Er wird eine neue Mobilisierung anordnen und Söldner aus Drittländern rekrutieren. An Anfang seiner neuen Amtszeit als Präsident und Diktator wird er mehr Siege auf dem Schlachtfeld in der Ukraine sehen wollen, mehr Angst für Europäer. Bis diese neue Welle an die Front gelangen wird, können wir etwas Zeit für die Mobilisierung der Kräfte haben, für die Verstärkung der Brigaden, für die Bildung der Reserven.
Wann wird der russischen Armee die Luft ausgehen?
Gerade diese zwei Faktoren, viel Waffen und Soldaten, geben den Russen derzeit Hoffnung auf den langen Krieg, der, wie sie erwarten, für sie erfolgreich wird. In diesem Zusammenhang stellt sich eine Frage: „Wie lange wird Russland die militärische Stärke demonstrieren und was getan werden muss, um den Zeitpunkt zu erreichen, an dem der Aggressor Waffenmangel haben wird?“.
Ich habe nur eine Antwort – das derzeitige Tempo der Verluste der Besatzer muss beschleunigt werden.
Dazu ist es für die Verteidigungskräfte der Ukraine besonders wichtig, ihre Feuerkraft zu erhöhen. Ja, wir sind immer noch in vielerlei Hinsicht von unseren Partnern abhängig. Wir brauchen mehr moderne Waffen und viele Waffentypen aus dem Westen. Wenn wir z.B. genug weitreichende hochpräzise Raketen haben, mit denen wir die feindlichen Stellungen tief hinter der Front treffen, gibt das uns die Möglichkeit, ständig die Stützpunkte im Hinterland des Feindes anzugreifen, seine Versorgung mit Munition zu erschweren. Das bedeutet also eine Verringerung des Potentials der Fronteinheiten des Feindes, insbesondere der Artillerieeinheiten.
Es ist offensichtlich, dass wir mit den Russen bei der Zahl der Panzer, Geschützen, Soldaten nicht konkurrieren können. Deswegen lege ich Wert auf moderne Waffentypen, die stärker, präziser als die russischen und also effektiver sind. Eine große Reichweite und die Präzision sind Schlüsselfaktoren.
Ukrainischer Soldat braucht moderne Kriegswerkzeuge
Trotz der schwierigen Realitäten von heute habe ich Gründe, für die Entwicklungen optimistisch zu sein. In den USA und in europäischen Ländern wird die Situation und russische Bedrohungen objektiv eingeschätzt. Die einzige Sicherung vor dem langen und größeren Krieg ist die notwenige Militärhilfe für die Ukraine. Das ist kein Lehrsatz mehr, der bewiesen werden soll. Das ist ein Axiom.
In diesem Zusammenhang setze ich große Hoffnungen auf wichtige Entscheidungen über neue militärische Hilfspakete für die Ukraine während des nächsten Treffens der Ukraine Defense Contact Group im Ramstein-Format. Ungeachtet der Probleme mit Munitionsproduktion in der Welt müssen wir Möglichkeiten für die Versorgung der Verteidigungskräfte mit allem Notwendigen finden.
Ohne moderne Kriegswerkzeuge ist es schwierig, mit wesentlichen Veränderungen an der Front zu rechnen. Wir brauchen vor allem Flugabwehrsysteme, Kampfflugzeuge, weitreichende Raketen, Artilleriegranaten besonders im Kaliber von 155 mm, moderne Systeme der elektronischen Kampfführung u.a.m.
Das Ergebnis dieses Krieges hängt in erster Linie vom ukrainischen Soldaten auf dem Schlachtfeld und vom Waffen- Fließband unserer Verbündeten ab.
Unsere Soldaten überraschten schon die Welt mit ihrer Widerstandsfähigkeit, ihrer Tapferkeit und ihrer Kampffähigkeit. Dafür spricht die Zahl der verbrannten russischen Kampfpanzer, der abgeschossenen feindlichen Kampfflugzeuge und zerstörten Schiffe der Schwarzmeerflotte. Wir müssen weiterkämpfen. Viele Ukrainer kommen täglich zu Rekrutierungszentren ukrainischer Brigaden. Es ist sehr wichtig, dass jeder von diesen motivierten Verteidigern und Verteidigerinnen moderne Waffen in den Händen hat, die einen technologischen Vorteil über dem Feind verschaffen und den Sieg der Ukraine näher bringen werden. Der Sieg der freien Demokratien über der autoritären Tyrannei.
Iwan Hawryljuk, Generalleutnant, der stellvertretende Verteidigungsminister der Ukraine