Holocaust-Museum von Charkiw: Wenn die Erinnerung bewahrt wird, wird das Volk bestehen bleiben

Holocaust-Museum von Charkiw: Wenn die Erinnerung bewahrt wird, wird das Volk bestehen bleiben

Ukrinform Nachrichten
Das erste Museum nicht nur in der Ukraine, sondern auch im ganzen postsowjetischen Raum erzählt über die Tragödie der Vernichtung von Juden durch Faschisten

In der Stadtmitte Charkiws, in der Jaroslaw Mudryj-Straße 28 nahe der U-Bahn-Station Puschkinska befindet sich ein unscheinbares dreigeschossiges Gebäude. Werden Sie aber Ihren Blick auf den bescheidenen Schild beim Eingang werfen, wo "Holocaust-Museum von Charkiw" geschrieben steht, bleiben Sie kaum ungerührt. Der Holocaust, der als katastrophale Vernichtung der Juden in die Weltgeschichte einging, ist kein lokaler Begriff. Er erschreckt sich über alle Städte und Länder, in denen Menschen andere Menschen nur für die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk getötet haben.

Über das Erschießen der Juden in Babyn Yar in Kyjiw ist viel geschrieben worden. In aller Munde ist auch die Stadt Oświęcim (Auschwitz), die 70 Kilometer vom polnischen  Kraków entfernt liegt, wo sich das größte Vernichtungslager Auschwitz befand, das für das Netzwerk anderer Lager darunter auch des Lagers Auschwitz 2 (Auschwitz-Birkenau) grundlegend wurde. Es ist auch bekannt, dass die Nazis im Zweiten Weltkrieg über sechs Millionen Juden und Millionen Menschen anderer Nationalitäten getötet haben.

Auschwitz-Birkenau wurde am 27. Januar 1945 von sowjetischen Truppen (insbesondere den Einheiten der 1. ukrainischen Front) befreit. Der 27. Januar wurde zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust von den Vereinten Nationen im Jahr 2005 erklärt. Bemerkenswert ist das, dass das Lager von der Sturmabteilung der 100. Schützendivision unter dem Kommando von Major Anatolij Pawlowytsch  (Anschel Faitelewytsch) Schapiro befreit wurde, eines Juden, der aus der Stadt Krasnohrad, der Region Charkiw kam. Durch den Erlass des ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko wurde ihm den Titel des Helden der Ukraine (postum) verliehen.

Hat Charkiw, ein anerkanntes Industrie-, Wissenschafts- und Kulturzentrum im Osten der Ukraine, eine Stadt, die 1941 den deutsch-faschistischen Truppen aufgegeben wurde und deshalb trotz heldenhafter Bemühungen um seine Befreiung 1943 nie den Titel einer Heldenstadt erhielt, auf den Holocaust Bezug?

Es stellt sich heraus, dass Charkiw, genauer gesagt, Drobytsky Jar, Schlucht am Stadtrand im direkten Zusammenhang mit dem Holocaust steht. Hier hatten die Besetzer im Dezember 1941 fast die gesamte jüdische Bevölkerung der Stadt erschossen.

Am besten aber werden die Exponate des Holocaust-Museums von Charkiw darüber berichten - des ersten desartigen Museums nicht nur in der Ukraine, sondern im gesamten postsowjetischen Raum.

WIE BEGANN DAS MUSEUM?

Die Museumsführerin für Korrespondenten von Ukrinform war dessen Gründerin und Leiterin, die Verdiente Künstlerin der Ukraine, Laryssa Wolowyk. Dieser Titel wurde Laryssa Faliijwna übrigens 2004 auf Initiative der seit 28 Jahren in Charkiw tätigen gesellschaftlichen Organisation "Gerechte unter den Völkern" verliehen.

Wie viele Exponate gibt es im Museum?

Innerhalb von  23 Jahren - das Museum wurde 1996 gegründet - haben wir 7.000 Exponate gesammelt, darunter 5.000 Hauptfonds. Nicht alles kann in den Ausstellungen in unseren Ausstellungsräumen untergebracht werden. Regelmäßig ergänzen wir, verändern die Ausstellungen, schaffen neue. Der Museumsbestand ist durch Archivdokumente und Materialien der staatlichen Archive und des SBU-Archivs (SBU - Sicherheitsdienst - Red.) vertreten, und zwar nicht nur von Charkiw, sondern auch von Kyjiw und anderen Städten. Jeder Museumsraum wird einem einzelnen Thema gewidmet.

Gemeinsam mit Laryssa Faliijwna besichtigen wir den Hauptraum des Museums „Drobytskyj Jar“. Hinter dem Glas der Vitrinen sind Urkunden, von Pässen und Haushaltsbescheinigungen bis Geburts- Sterbe- und Eheurkunden. Dort sind auch die Fotos aus Familienalben, wo glückliche Leute im Familienkreis und ernsthafte während einer Prüfung an einer Hochschule zu sehen sind... In einem Zimmer nebenan wird der Alltag einer einfachen jüdischen Familie vor dem Krieg gezeigt, mit alten Möbeln, darunter ein Sessel und ein Regal, geschmückt mit bestickten Servietten, Kleidung, Kippot, Haushaltsgegenstände wie die Kohle-Eisenbügel, Tischdecken mit Fransen, ein Klavier aus der Vorkriegszeit, Schreibmaschinen vom Anfang des 20. Jahrhunderts...

In einem weiteren Raum befinden sich Materialien, die dem Beitrag des jüdischen Volkes zum Sieg über Nazi-Deutschland gewidmet sind. In den Vitrinen werden originale Gegenstände aus der Kriegszeit aufbewahrt - Urkunden, Orden, Medaillen, Fotos. Im anderen Raum werden Materialien über jüdische Berufe Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gezeigt. Damals dürften die Juden Grund und Boden nicht kaufen und sie übten ihre ursprünglichen Berufe als Schneider, Uhrmacher, Schmiede, Köche, Friseure und Juweliere aus.

Die Besichtigung dieser Gegenstände ist ohne Betroffenheit unmöglich, weil sie alle den Menschen gehörten, die den Holocaust nicht überlebten. Die Gegenstände mit unschätzbarem Erinnerungswert brachten ins Museum Angehörige der Opfer, ihre Klassenkameraden, Kommilitonen, Kollegen, Nachbarn. Ihre Namen werden im Museum erwähnt...

Wie begann doch das Museum?

Noch 1988, auf der Welle der Perestroika, wurde in Charkiw das Regionalkomitee „Drobytskyj Jar“ gegründet. Das Komitee setzte sich zum Ziel, das Andenken an die hingerichteten Opfer der Nazi zu verewigen und das Martyrologium, eine Namensliste der Opfer zu erstellen. Wir folgen der Volksweisheit: „Wenn die Erinnerung bewahrt wird, wird das Volk bestehen bleiben.“ Seit 1991 leitet der in Charkiw bekannte Aktivist Leonid Petrowytsch Leonidow das Komitee. Fünf seine nächsten Verwandten wurden in Drobytskyj Jar erschossen, unter ihnen der kleine Marik, der etwas mehr als drei Jahre alt war. Ich wurde zum Sekretär des Komitees gewählt. Ich habe auch Opfer des Holocaust in meiner Familie: mein Opa und meine Großmutter sind in der Stadt Kropewez, in der Region Sumy erschossen worden... Ich musste mich nicht nur mit der Registrierung der Satzung des Komitees beschäftigen, sondern auch mit Bewohnern Charkiws, die die Besatzung überlebten, sowie mit deren Rettern treffen, um Geschichten aus erster Hand zu erfahren und sie aufzuschreiben. Damals hatten wir keine eigenen Räumlichkeiten, wir trafen uns auch in Parkanlagen, auf Bänken. Damals haben wir auch begonnen, in den Staatsarchiven von Charkiw, Kyjiw zu arbeiten. Wir haben die Erlaubnis erhalten, in den SBU-Archiven Charkiws, Saporishshjas Prozessakten der Verräter zu prüfen. Endlich haben wir die Wahrheit erfahren, wie Juden ermordet wurden, nur weil sie Juden waren. Zu Sowjetzeiten wurden an Erschießungsorten, wenn auch diese bekannt waren, bescheidene Denkmäler aufgestellt, daran stand geschrieben  "Für sowjetische Friedensbürger", und das war ein Stereotyp.

Im Jahr 1995 hat die Stadtverwaltung drei kleine Zimmer im zweiten Stock des Hauses 28 in der Petrowskyj-Straße (heute Jaroslaw Mudryj) für das Komitee vermietet. Zu diesem Zeitpunkt wurden ziemlich viele Archivdokumente, Fotos, Erinnerungen gesammelt. Bei einer der Sitzungen des Komitees habe ich vorgeschlagen, in einem der Zimmer ein Museum zu schaffen. Man musste die Materialien nicht nur für den persönlichen Gebrauch aufbewahren. Grundlage der ersten Ausstellung waren Materialien und Konzepte, die ich sechs Jahre lang gesammelt habe und die durch das Komitee Drobytskyj Jar ergänzt wurden.

Die erste Museumsbesichtigung habe ich im Dezember 1996 nach dem Besuch von Drobytskyj Jar am 55. Geburtstag seit dem Tag der Tragödie im besetzten Charkiw durchgeführt. Ein Bus mit Teilnehmern hat uns zu einem Haus in der Petrowskyj-Straße gebracht. Unter den Anwesenden der ersten Museumsexkursion waren Kinder der Gefallenen im Charkiwer Getto und Drobytskyj Jar, die ehemaligen Gefangenen des Gettos, die diese Hölle überlebten, und diejenigen, die ihnen geholfen haben, zu überleben. Es war eine Geschichte über sie, über ihr Schicksal. Zum ersten Mal wurde über sie in aller Offenheit gesprochen und es war ihr Museum. Später, seit mehr als 20 Jahren, sind sie treue Freunde des Museums geblieben. Sie nahmen an sämtlichen Veranstaltungen teil. Sie kamen selbst, brachten dann ihre Kinder und erwachsene Kinder bringen ihre Kinder, ihre Enkel und Urenkel. Und als ich beim ersten Rundgang Tränen in den Augen sah, habe ich verstanden, dass alles, was wir tun, ist nicht nur als erstarrte Erinnerung an die Tragödie notwendig. Das ist wichtig für die Nachkommen. Man muss sich beeilen, diejenigen zu befragen, die Zeugen der Gräueltaten der Besatzer waren. Nicht nur Archivmaterialien, sondern auch persönliche Erinnerungen, die erhalten gebliebenen Familiendokumente, alles zusammen, geben ein vollständigeres Bild  dessen, was man den Holocaust genannt hat.

Es sind 24 Jahre vergangen. Das Holocaust-Museum von Charkiw ist im Laufe der Jahre nicht nur flächenmäßig gewachsen - wir haben jetzt fünf Zimmer -, sondern auch nach der Anzahl der Exponate: 7.000 allerlei Dokumente, Fotos, sachliche Zeugnisse der Erlebnisse. War es am Anfang ein Museum, das die Erinnerung an die Charkiwer Ereignisse bewahrt, so ist es jetzt das Holocaust-Museum, das von der Tragödie der Judenvernichtung nicht nur in der Ukraine, sondern auch in allen von Nazis besetzten Ländern erzählt.

Es aus sieht so aus, dass Sie nicht nur ein Museum, sondern auch ein wissenschaftliches Bildungszentrum geworden sind...

Und nicht nur bezüglich des Holocaust, sondern auch betreffs der  Geschichte der Juden - mit unserer Bibliothek, Videothek, dem Archiv. Das Museum ist nicht nur in der Ukraine bekannt, sondern auch im nahen und entfernten Ausland. Es ist in alle Reiseführer eingetragen worden. Auch ausländische Gäste  besuchen das Museum. Und für Studenten und Schüler Charkiws ist es eine Basis für das Holocaust-Studie.

Unser offizieller Name ist die "Öffentliche Organisation" Holocaust-Museums von Charkiw". Der Organisation gehören das erste Holocaust-Museum in der Ukraine, das wissenschaftliche Bildungszentrum und die Galerie "Ami" ("Mein Volk") an. "Ami" sind zusätzliche Ausstellungsräume mit wechselnder Ausstellung und die monatliche Zeitung "Digest E", die seit Dezember 1995 erscheint.

GESCHICHTEN ÜBER KINDER IMMER AM TRAGISCHSTEN

Das Museum erzählt nicht nur von Ereignissen in Charkiw, sondern auch vom Widerstand gegen die Nazis in Getto und KZ in anderen Ländern, von Aufständen der Gefangenen. Wir haben eine bewegende Ausstellung, die den Opfern des Nationalsozialismus gewidmet ist, den  Kindern, die nie erwachsen werden. Auf alten Fotos sind glückliche lächelnde Gesichter von Kindern aus verschiedenen Ländern zu sehen: Babys, etwas ältere Kinder, Jugendliche. Für sie öffnete sich eine ganze Welt und sie waren nur daran schuld, Juden geboren zu werden. Wir haben von ihren Familien und Schicksalen erzählt. Geschichten über die Kinder sind immer die tragischsten.

Ja. Bringt zum Weinen...

Wir haben ein Foto mit einer sehr traurigen Geschichte. Es zeigt Inna Beckman, die 1927 in Charkiw geboren wurde. Ihr Vater Emil, ein Deutscher, starb, als Inna klein war. Ihre Mutter Rahel heiratete erneut und die Familie zog nach Zentralasien um. Ein Jahr vor Kriegsbeginn stirbt die Mutter und der Stiefvater schickt das 13-jährige Mädchen nach Charkiw zu einer deutschen Tante, der Schwester ihres Vaters.

Als die Deutschen Charkiw besetzten und auf Befehl des deutschen Kommandanten alle Juden ins Getto geschickt wurden, blieb Inna bei ihrer Tante und lebte ruhig. Aber die Tante, als eine gesetzestreue Deutsche, entschied sich, das Mädchen zum Kommandeur zu bringen, wo sie erzählte, dass ihre Mutter eine Jüdin sei. Inna wurde ins Getto gebracht, dann starb sie neben Tausenden in Drobytskyj Jar. Die Tante rechtfertigte: Sie wusste aber nicht, dass es so was passiere und nach der Befreiung Charkiws verschwand sie aus der Stadt.

Diese Erzählungen und Fotos aus ihrem Familiennalbum übergab die Kindheitsfreundin von Inna Beckman, Iryna Wassylijewa, dem Museum. Iryna Boryssiwna machte sich große Sorgen, dass der Name von Inna in Vergessenheit gerate, denn es gibt keinen der Angehörigen, der sich an ihr tragisches Schicksal erinnern kann. Wir haben den Namen Inna Beckman ins Martyrologium eingetragen. Ihr Foto wurde in der Ausstellung unter den Fotos von anderen Opfern von Drobytskyj Jar ausgestellt.

In der Ausstellung gibt es Fotos von Menschen, die in der ganzen Ukraine ums Leben gekommen waren. Die Fotos wurden aus anderen Städten und sogar Ländern an uns geschickt.

Hier ist ein Foto des kleinen Jungen Hryscha Kuznezkyj mit seinem Dreirad. Sein Vater, Kuznezkyj, war vom ersten bis zum letzten Kriegstag an der Front und hatte so viel Glück, dass er nicht einmal verletzt wurde. Er hat seine Familie innerhalb von fünf Jahren nicht gesehen. Nach dem Sieg, glücklich, kehrt er nach Lugansk zurück zu seiner jungen Frau und seinem Sohn und erfährt, dass sie einfach lebend in den Schacht geworfen wurden. Nach einem Augenzeugenbericht sind seine Haare in einer Minute grau geworden. Seine Psyche hat es nicht ausgetragen.

Das Schlimmste ist dass, dass zuerst in keiner sowjetischen Zeitung geschrieben wurde, dass Deutsche Juden ermorden. Ich habe persönlich in den Archiven Vorkriegsausgaben und Zeitungen der ersten Kriegsjahre erforscht. Erinnern wir uns an Molotow-Ribbentrop-Pakt, der abgeschlossen worden war. Die Sowjetunion und Nazi-Deutschland waren Freunde. Deutsche Offiziere studierten in sowjetischen Akademien. Die erste Erwähnung über Vernichtung der Juden war in der Zeitung, glaube ich, Izwestija, 1943, wenn in den Gebieten des postsowjetischen Raums fast alle Juden bereits getötet wurden. Durch Hitler und Stalin...

Und hat sich jemand aus dem Massengrab Drobytskyj Jar gerettet? Und warum steht der Denkstein für Gerechter unter den Völkern nicht in Drobytskyj Jar, wo die Menschen erschossen wurden, sondern am Ort des ehemaligen Gettos, in der Nähe der Trauermauer, die nahe dem Moskauer Prospekt liegt?

Gerettet konnte man sich nur aus dem Getto, bis es von Stacheldraht umgeben war. In Charkiw waren vor dem Krieg viele binationale Ehen geschlossen worden. Und wenn nichtjüdische Angehörige sich bereit erklärten, jüdische Kinder aufzunehmen, versuchten sie, indem sie die Wachen bestochen hatten, die Kinder aus dem Getto, das in Baracken des Maschinenbauwerkes untergebracht war, zu befreien.

Alle Geretteten, die uns bekannt sind, haben eben so überlebt. In Erinnerung an jene, die durch ein Wunder überleben konnten, waren die Baracken alt, kalt, das Wasser bezog man aus der Säule außerhalb des Getto-Geländes. Holztoiletten.

Auf Initiative des Regionalkomitees "Drobytskyj Jar" wurde im Dezember 1997 ein Denkstein mit der Aufschrift aufgestellt: "Für die Retter - Gerechter unter den Völkern. Dankbare Charkiwer Juden". Damals war es das erste Denkmal für die Gerechten unter den Völkern im ganzen postsowjetischen Raum. Mittlerweile gibt es sie bereits auch in anderen Städten.

DAS SCHICKSAL VON JOSSYP TARASCHYNSKYJ, DEM EINZIGEN GERETTETEN

Es war fast unmöglich, sich aus dem Drobytskyj Jar zu retten. Wir kennen nur einen Mann - Jossyp Taraschynskyj. Besondere Erwähnung verdient diese Geschichte. Die Familie polnischer Juden Taraschynskyjs (Vater, Mutter und drei Söhne) war noch vor dem Kriegsbeginn in unserem Gebiet aus Polen in die Sowjetunion geflohen. Alle ihre Verwandten starben im Warschauer Getto. Überläufer wurden an den Ural deportiert, nach Sibirien, Bäume zu fällen. Die Mutter, Bljume, arbeitete als Köchin. Ein Jahr später durfte die Familie die Stadt für den Wohnsitz wählen. Sie wählen Charkiw und ziehen im April 1941 hierher um. Der Vater war Straßenwärter, der mittlere Sohn entschied sich, nach Melitopol zu reisen. Im Juni entfesselt Deutschland einen Krieg auf unserem Territorium. Am 24. Oktober 1941 haben die Deutschen Charkiw besetzt. Bald wurden Juden ins Getto geschickt. Ende Dezember 1941 begannen die Deutschen und die Polizei, die Ghettobewohner in Gruppen von zweihundert bis dreihundert Menschen unter dem Deckmantel der Einstellung wegen des Hungers in Charkiw nach Poltawa zu bringen. Sie wurden allerdings in den Drobytskyj Jar. gebracht.

Die Familie Taraschynskyjs, der Vater, die Mutter und zwei Söhne waren in einem der Autos. Josssyp sprang als Letzter ins Auto und als man sie zum Erschießungsort brachte, sprang er aus dem Wagen. Ein junger deutscher Offizier sagte ihm in gebrochenem Russisch, er solle goldene Sachen in den Koffer und Silber in den Sack packen, die man bei den aus dem Getto gebrachten Menschen fanden. Der Familie von Jossyp wurde befohlen, etwas abseits zu gehen. Er hörte Schüsse, bis niemand am Leben war. Es war kalt und der Offizier setzte sich mit einer Trinkflasche in der Hand in die Kabine. Er hat Jossyp befohlen, dorthin zu gehen, wohin die anderen gebracht wurden. Es war schon dunkel, Joseph sah, wie jemand in den LKW Sachen von Erschossenen ladet. Er lief zu ihnen, in der Hoffnung, das Leben zu verlängern. Da waren ein alter Jude und ein Kerl. Der alte Mann bot den Jungs an, in den Wagen zu springen. Er hat sie mit Sachen beworfen. Als das Auto aus dem Jar fuhr und schon in der Stadt war, sprang Jossyp unauffällig heraus und erreichte das Wohnheim, in dem er mit seiner Familie wohnte. Er erzählte der Straßenwärterin alles. Sie hat ihn gespeist und forderte auf, wegzugehen, weil sie Angst hatte. Er übernachtete auf dem Dachboden und ging morgens auf den Markt, wo er einem armenischen Jungen begegnete und ohne zu wissen, was zu tun war, ihm über sich erzählte. Als Reaktion hörte er: "Kannst du Polnisch? Wie heißt du auf Polnisch? - Jusyk. - Komm zu uns. Ich wohne mit meiner Großmutter und drei Cousinen. Sag aber nicht, dass du ein Jude bist".

So blieb er in dieser armenischen Familie, wo von seiner Nationalität (Jusyk konnte das Kreuz nicht machen) nur Vartan, seine Großmutter Araxi und eine der Schwestern - Knarik, die er mag, wussten. Als Charkiw befreit wurde, gingen die Jungs an die Front. Vartan starb in Weißrussland. Jusyk-Jossyp kehrte nach Charkiw zurück, kam zu der armenischen Familie, zu seinen Rettern, und eine Zeit später heiratete er Knarik. Sie hatten ein schönes Leben. Sie haben eine Tochter und zwei Enkel, die oft zu uns ins Museum kamen. Jossyp war darüber betrübt,  dass er nichts von seinem Bruder Leon wisse, wo und wie er starb. Knarik und Jossyp sind schon verstorben, aber es ist nicht das Ende der Geschichte.

Als ich das Schicksal von Jossyp erfuhr, schickte ich alle Materialien an das Yad Vashem-Institut in Jerusalem, um Vartan und Araxi Mkrttschan, Knarik Schahbasjan den Titel "Gerechter unter den Völkern" (postum) zu verliehen - und sie erhielten diesen Titel.

Vor drei Jahren bekam ich einen Brief aus Australien. Es stellte sich heraus, dass die Kinder von Leon ihn schrieben. Er kam nach Australien, heiratete und suchte sein ganzes Leben lang nach seinen Angehörigen. Leon ist schon gestorben. Seine Frau Shelly und seine Kinder leben noch. Es ist eine große Familie. Es hat nicht sein sollen. Die Brüder trafen sich nicht. Aber ich habe der Tochter von Jossyp Shelly und die Kinder vorgestellt (die Brüder sind sich sehr ähnlich). Sie kamen nach Charkiw, schenkten dem Museum Kippa und Tefillin von Leon. In dieser großen australischen Familie war er der einzige Jude.

Also, wie viele Juden sind in Drobytskyj Jar in Charkiw gestorben, es gibt unterschiedliche Zahlen.

Laut dem Akt der Außerordentlichen Staatlichen Kommission (DNK), die unmittelbar nach der Befreiung von Charkiw in der Stadt arbeitete, wurden 16.000 Juden ermordet. Aber ich fand ein weiteres Dokument im Staatsarchiv der Region Charkiw. Da steht über 16.000 Familien - und diese Zahl ist näher an der Wahrheit. Denn nach der letzten sowjetischen Volkszählung lebten in Charkiw 833.000 Menschen, davon 130.000 Juden. Das ist eine ziemlich große Zahl. Laut einer Volkszählung von Deutschen gab es Anfang Dezember1941 in den "Gelben Listen" in Charkiw 10.271 Mann: Namen von Juden wurden auf gelbem Papier aufgeschrieben.

Binnen eines Vierteljahrhunderts haben wir in Archiven Dutzende Strafsachen geprüft, die von Verbrechen der Nazis und ihrer Mithelfer-Polizisten, der Mitarbeiter der städtischen und Bezirksverwaltungen erzählen. Nun weiß man genau, dass im Dezember 1941 bis Januar 1942 in Drobytskyj Jar nur Juden erschossen wurden. Dann bedeckten die Besetzer die Leichen nur leicht mit Erde und gingen weg, um an anderen Orten zu erschießen.

CHARKIWS GERECHTE, ERINNERUNG UND GERICHT

Und doch hat es Menschen gegeben, die ihr Leben riskierten, retteten Juden vor der Nazi-Verfolgung - für die Rettung eines Juden drohte die sofortige Hinrichtung. Wie viele davon gibt es in Charkiw?

Der Titel "Gerechter unter den Völkern" ist einem guten Hundert Einwohner Charkiws verliehen. An die Ereignisse in Charkiw erinnern Gedenktafeln. Im vergangenen Dezember ist zum Beispiel auf unsere Initiative eine Gedenktafel zu Ehren des bekannten Arztes Olexander Meschtschaninow eröffnet worden. Sein Name trägt das städtische Notfallkrankenhaus. In den Jahren der Besatzung behandelte er Verletzte in einem Kriegsgefangenenlager, rettete junge Leute vor Verschleppung nach Deutschland, ihnen "schadhafte" Diagnosen gestellt zu haben. Er rettete auch die jüdische Familie Punkyns.

Oder ein weiteres Beispiel: die Einwohnerin Charkiws, Journalistin Olexandra Belowa, die zwei Schwestern aus dem Ghetto gebracht hat, verriet eine Nachbarin. Belowa nahm die Gestapo fest, sie wurde erschossen. Ihr wurde postum der Titel "Gerechter untern den Völkern" verliehen, zu ihren Ehren wurde eine der Charkiws Straßen genannt.

Auf Initiative des Komitees "Drobytskyj Jar" und des Holocaust-Museums ist ein 10-Tonnen-Denkmal für die "Opfer des Holocaust" in Drobytskyj Jar und17 Gedenktafeln aufgestellt worden, darunter am Gebäude der ehemaligen Synagoge in der Hromodjanska-straße zum Gedenken an die im Winter 1941 400 ermordeten Juden. Es waren ältere  Menschen, Behinderte, die das Ghetto nicht erreichen konnten, sie wurden bei grausiger Kälte einfach in der Synagoge geschlossen und keiner von ihnen konnte sich retten.

Es gibt eine Gedenktafel auch am Gebäude der Charkiwer Philharmonie in der Rymarska-Straße. Nach der Befreiung von Charkiws fand hier der auf der Welt erste Prozess gegen Kriegsverbrecher statt. Er ging dem berühmten Nürnberger Prozess voran, der vor dem Internationalen Militärgerichtshof vom 20. November 1945 bis 1. Oktober 1946 im Justizpalast Nürnberg durchgeführt wurde. Im Prozess in Charkiw wurden Ilja Erenburg, Konstantin Simonow, Alexej Tolstoj als Journalisten akkreditiert und nachher haben sie darüber geschrieben. Damals erfuhr die ganze Welt aus den Berichten zum ersten Mal über Gaswagen und über das tödliche Gas Zyklon B.

Es ist soweit Abschied zu nehmen. Wir bedanken uns bei Laryssa Faliijwna für die beeindruckende Museumsxkursion, wir bitten sie, unsere Dankesworte an den Leiter des Komitees "Drobytskyj Jar", Leonid Leonidow, sowie an alle Mitarbeiter des Museums zu richten. Und erst dann erfahren wir, dass die Organisation "Holocaust-Museum von Charkiw" nichtprofitabel ist. Die Mitarbeiter des Museums sind nur zwei Personen: Laryssa Faliijwna, die zu ihrer Zeit das Institut für Radioelektronik in Charkiw absolvierte, und die Leiterin der Bildungsprogramme des Museums, die Berufsingenieurin Juliana Walschonok. Zudem stellt sich heraus, dass das Museum eine Familienangelegenheit ist. Dieses Thema hat die Mitglieder einer Familie vereint: Leonid Leonidow ist der Ehemann von Laryssa Faliijwna und Juliana ist ihre Tochter.

Auf die Frage bezüglich der Vorbereitung auf den 27. Januar, den  Gedenktag für die Holocaust-Opfer lud Laryssa Faliijwna Wolowyk uns gleich zu den an diesem Tag geplanten Veranstaltungen ein: Die Aufführung des von den Stadtbewohnern Charkiws gedrehten  Dokumentarfilms "Holocaust von Charkiw", des israelischen Films "Teheran-Kinder" - über Flüchtlinge vor dem Nazismus und eine Ausstellung des Theaters des jungen Zuschauers in Charkiw zum Thema Holocaust.

Switlana Lihostajewa, Charkiw

Foto Wjatscheslaw Madijewskyj

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