"Eine helle Zukunft" auf Knochen von Mennoniten

Ukrinform Nachrichten
Gelehrte und Heimatforscher haben Stelen aus einem Mennoniten-Friedhof des XIX. - Anfang des XX. Jahrhunderts gefunden, die ins Fundament einer alten Kammer eingemauert worden waren.

Man erzählte schon seit langem darüber, dass es in Saporishshja, auf der Insel Chortyzja ein altes Gebäude gebe,  dessen Fundament mit Grabsteinen gebaut worden sei. Diese Geschichte hielt man allerdings jahrelang eher für eine örtliche Legende als für die Wahrheit. Heimatforscher erzählten, dass Mennoniten Ende des vorvorigen Jahrhunderts auf dem Territorien des gegenwärtigen Saporishshja mehrere Siedlungen gegründet hätten. Eine von ihnen war die Kolonie Chortyzja. Die rätselvolle Kammer zu zerlegen und zu prüfen, was sich hierunter befindet, war unmöglich, da das Gebäude im Privatbesitz war. Vor einigen Jahren geriet es in Verfall, der Besitzer verließ Saporishshja und man machte die ehemalige Kammer zu einer Müllgrübe.  

Saporishshjas Gelehrte beschließen also, Ruinen der sowjetischen Kammer zu erforschen. Während der Forschungsarbeiten gelang es, das zu finden, was man vor geraumer Zeit versuchte, sorgfältig zu verstecken. Die Legende ließ sich bestätigen.

Unser neuer "Punkt auf der Karte" ist nun in Saporishshja, in Werchnja Chortyzja, in der Satschynjaew-Straße.

REPRESSIONEN UND VERFOLGUNGEN ANSTATT DER EHRE

Erste Umsiedler aus Ostpreußen - Protestanten, Mennoniten holländischer Herkunft - kamen 1789 auf das Territorium des gegenwärtigen Saporishshja auf die Einladung der russischen Kaiserin Katharina II. Sie waren Vertreter der Täuferbewegung, die noch im ХVI. Jahrhundert von Menno Simons (er wurde zum Namensgeber der Mennoniten) ins Leben gerufen war.

Die Dampfmühle, große Industrieunternehmen - das alles war die Errungenschaften von Mennoniten. Jedoch ärgerten Kolonisten die sowjetische Macht, es war nicht üblich, über sie zu sprechen. Außerdem waren die meisten Kolonisten während des Ersten Weltkrieges erzwungen, in andere Länder abzureisen. Diejenigen, die blieben, wurden Verfolgungen und Repressalien ausgesetzt. Zur sowjetischen Zeit wurden Mennoniten massenhaft nach Sibirien etappiert und alles, was an sie erinnerte, wurde zerstört. Auch der alte Mennoniten-Friedhof in Wechnja Chortyzja ist keine Ausnahme geworden. Es wurde entschieden, ihn vom Antlitz der Erde auszulöschen.  Mitarbeiter des sowjetischen Geheimdienstes NKWD befohlen, den Friedhof zu einem Stadion umzuwandeln und die Grabsteine als Baustoff  zu verwenden. Nicht weit vom Friedhof wurde damit das Fundament der Vorratskammer erstellt. An der Stelle der ehemaligen Mennoniten-Siedlung wurde ein Kolchos namens Engels gegründet. Mit der Zeit wurde auf Knochen von Mennoniten (im wahren Sinne) eine Schule errichtet. Sie funktioniert auch derzeit - die Schule Nr. 86.

MODERNER ASPHALT VERSTECKT FUNDAMENT AUS GRABSTEINEN

"Meine Angehörigen sind hierher 1953 umgezogen. Meine Tante erinnert sich daran, wie der alte Lagerraum aussah. Man sagt, dass sein Fundament 50 Zentimeter höher war. Und das Gebäude hat nicht abgesackt, nein. Mit der Zeit erschienen hier mehrere Asphaltschichten. Und sie haben einige Dutzende Zentimeter des Lagerraums "versteckt", erzählt der Heimatforscher Roman Akbasch.

Seine Kindheit verbrachte Roman in der Satschynjajew-Straße. Es ist die älteste Straße Saporoshshjas. Sie ist 230 Jahre alt. Gerade hier lebten einst Mennoniten. Und die Vorratskammer (der Lagerraum), worüber die Tante Akbaschs erzählte, ist nun die Errichtung, deren Fundament mit Grabsteinen des Mennoniten-Friedhofs gebaut worden war. Romans Familie wohnte in einem kleinen Haus mit blauen Fenstern und daneben war das, was von der Kammer geblieben ist.

"Die Fenster meines Kinderzimmers sahen nach dieser Errichtung. Noch in der Kindheit habe ich das Fundament betrachtet. Und die Steine, womit es aufgebaut wurde, kamen mir sehr seltsam vor. Als ich gewachsen bin, habe ich begonnen, sich für die Geschichte von Mennoniten zu interessieren. Ich habe gesehen, wie die Grabsteine zur sowjetischen Zeit aussahen, deshalb habe ich verstanden, womit die Kammer aufgebaut worden war", erzählt der Heimatforscher.

Ende Juli leiteten die Mitarbeiter des Schutzgebiets Chortyzja eine Entdeckungsexpedition ein. Dem Koordinator des Projektes, dem Leiter der wissenschaftlichen archäologischen Expedition, Maxim Schtatskyj, zufolge wurden nach langwierigen Untersuchungen erste Stelen aus dem Kammerfundament ausgenommen.  

"Gegenwertig ist die Kammer mit Grabsteinen aufgebaut worden, sie ist komplett zerstört, das anliegende Territorium ist eingerostet und ist tatsächlich ein spontaner Abladeplatz. In einigen Tagen haben wir 40 Platten hervorbringen können - Marmor-, Stein-, Sandplatten. An den meisten sind Zitaten aus der Bibel in der deutschen Sprache geschrieben. Man kann an den Grabplatten die Namen Koop, Pauls, Dick, Tissen, Sawazki lesen. Es gibt ein Steindenkmal, das 1855 datiert wird. Jetzt ist es das älteste Fundstück", erzählte Maxim Schtatskyj.

Wie viele Platten "verbergen sich" unter der Erde, ist einstweilen ein Geheimnis. Gelehrte wissen das nicht. Ob das ganze Fundament oder nur die Vordermauer mit den Grabsteinen errichtet wurden.

"Um das zu verstehen, müssen wir den ganzen Müll ausführen, die Reste der Mauer abbauen. Wir müssen den Fußboden sehen. Wenn wir den Fußboden sehen, werden wir verstehen, was hierunter ist. Nach unseren groben Schätzungen kann sich 60 bis zu 200 Platten aus dem alten Mennoniten-Friedhof befinden", fügt Schtatskyj hinzu.

FORSCHEN, NICHT STEHENBLEIBEN

Irgendwann gehörte den Grundstück, worin sich die Vorratskammer befand, der Mennoniten-Familie David Petkau. 1930 wurde er entkulakisiert und verbannt. Die Gelehrten prüften eine Version, dass die Mennoniten selbst absichtlich die Grabsteine im Fundament verborgen haben (als sie das Gebäude bauten), um das Andenken an Vorfahren zu behalten.

"Das Mauerwerk ist dem von Mennoniten ähnlich. Aber bei der Errichtung der Mauer wurde Zement von sehr schlechter Qualität verwendet. Man kann ihn mit Händen abbauen. Die Steine werden leicht herausgenommen. Es ist für Mennoniten nicht charakteristisch. Und das Fundament ist sehr gut gemacht. Um es abzubauen, sind eine Brechstange oder eine Schüppe nicht genug, es ist die Technik nötig", sagt Schtatskyj.

"Um zu einer weiteren Etappe zu übergehen - die Mauer abzubauen und den Grund des Fundamentes zu erreichen, sind ein Bagger, ein Lastkraftwagen mit dem Manipulator und Arbeitskraft nötig. Der Voranschlag für die erste Etappe wird mit 42.500 Hrywnja bewertet. Noch mehr als 100.000 Hrywnja sind für die Durchführung der zweiten Etappe notwendig - Müllabfuhr, das senkrechte Planieren, die Landschaftsarbeiten. Bei der Finanzierung kann die Arbeit der Expedition einen Monat in Anspruch nehmen", so Schtatskyj.

Maxim Schtatskyj entwickelte den ausführlichen Voranschlag und verbreitete ihn auf seiner Webseite in Facebook.

Er sagte, dass nicht gleichgültige Saporishshjas Einwohner innerhalb von einigen Tagen erste Geldmittel aus das Konto des Projektes "Mennoniten-Erbe" überwiesen hätten. Die Behörden schweigen einstweilen.

MARMORSTELE DER EHEFRAU VON KOOP

Fast mit bloßen Händen das Fundament der Vorratskammern abgebaut zu haben, brachten Gelehrte eine große schwarze Marmorplatte, knapp 300 Kilogramm Gewicht herauf. Als sie diese Platte herumdrehten,  freuten sie sich, als ob sie einen Schatz gefunden haben - am Marmorgrabstein stand der Name und der Familienname des Menschen mit goldenen Buchstaben geschrieben - Katharina Koop.

"Wir haben alle Daten, Familiennamen nachgeprüft. Es ist ein sehr ernsthafter Fund. Dieser Grabstein ist vom Grab der Ehefrau des Industriellen Abracham Koop. Er ist der Gründer der Dynastie der Industriellen Koop. Gerade er hat die Unternehmen gegründet, die jetzt als ZAZ (Automobilbauwerk - Red.) und das Saporishskyj Kabelwerk bekannt sind", erzählt Akbasch.

Die Heimatforscher sagen, dass sie träumen, die Stele vom Grab  Abracham  Koops zu finden. Er ist 1910 an Typhus gestorben. Dann ist innerhalb von gezählten Tagen die ganze Familie Koops an dieser Krankheit gestorben. Wahrscheinlich wurden sie auch auf dem alten Friedhof begraben. Hier in Werchnja Chortyzja soll sich auch das Grab noch eines bekannten Industriellen, Hermann Nibur, befinden. Er hat die erste Dampfmühle in Oleksandriwsk (so war damals der Name von  Saporishshja) gegründet. Nibur wurde 1907 ermordet. In der Nacht sind Räuber in sein Haus eingedrungen und haben den Hauswirt erschossen.

Jedoch musste man die Forschungsarbeiten einstellen. Die gefundenen Platten wurden auf das Territorium des nationalen Schutzgebietes Chortyzja, auf den Platz neben dem Museum für Geschichte des Saporishjer Kosakentums gebracht. Bis Öffentlichkeit versucht, mit eigenen Kräften die notwendige Geldsumme zu bekommen, setzen die Gelehrten fort, die Aufschriften an Stelen zu entziffern und suchen nach Verwandten von Mennoniten.

Heimatforscher und Archäologen glauben, dass sie das Hauptgeheimnis der sowjetischen Vorratskammer - ihr Fundament - doch erraten werden. Nachdem alle Grabaufschriften identifiziert werden, wird vieleicht im Schulhof ein Erinnerungszeichen errichtet. Man muss doch das Andenken an Mennoniten würdigen, wenn auch durch mehrere  Jahrzehnte.

Olga Swonarjowa, Saporishshja

Foto Dmytro Smoljenko

nj


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