Symmetrische Antwort der Ukraine auf russische Angriffe – wie wahrscheinlich ist ein Blackout in Moskau?
Einzelne Aktionen haben sich mittlerweile in eine breitangelegte Kampagne verwandelt: ukrainische Drohnen treffen immer häufiger Umspannwerke, Wärme- und Wasserkraftwerke in russischem Hinterland. Damit eröffnet sich eine neue Energiefront.
Gleichzeitig hat die ukrainische Staatsführung mehrmals angedeutet, dass es auf russische Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur eine symmetrische Antwort geben werde. „Zivilisierte Länder unterscheiden sich von den Wilderern dadurch, dass sie nicht zuerst angreifen. Die sind keine Aggressoren, aber das bedeutet nicht, dass sie schwach sind. Man soll keine Schwäche demonstrieren. Wenn der Kreml mit einem Blackout in der Hauptstadt der Ukraine droht, soll er in Kauf nehmen, dass es dafür einen Blackout in der Hauptstadt Russlands geben wird“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im September.
Diese Worte bekräftigt auch die militärische Führung des Landes. Der Chef des Generalstabs, Generalmajor Anrdij Hnatow erklärte, eine Vergeltung sei „unabwendbar“: „Auf jede Handlung des Gegners, die darauf abzielt, unserem Lande einen Schaden anzurichten, wird es eine symmetrische Antwort geben. Wie der Präsident gesagt hat, finden wir entsprechende Möglichkeiten und Waffen, um solche Operationen durchzuführen. Die Russen werden begreifen müssen, dass sie sich dadurch keinerlei Vorteile verschaffen können“, so der Generalstabchef.
Wie realistisch ist ein Szenario, wo Moskau und andere große Regionen in Dunkelheit versinken?
Blackout in Moskau vor 20 Jahren:
Die russische Hauptstadt hat bereits einen totalen Kollaps des Energiesystems erlebt.
Im Mai 2005 wird Moskau vom schlimmsten Stromausfall seiner Geschichte erfasst. Ursache des Zusammenbruchs war ein Kurzschluss in einem veralteten Umspannwerk nahe der russischen Hauptstadt. Binnen drei Tagen sind alle sechs Transformatoren ausgefallen, was zu einem Kollaps im gesamten Energiesystem Moskaus geführt hat.
Alleine in der U-Bahn steckten zehntausende Menschen stundenlang fest, insgesamt waren Millionen Russen betroffen. In der gesamten Stadt fielen Ampeln aus, ein gigantisches Verkehrschaos entstand.
Von der Unterbrechung der Energieversorgung wurden außerdem die Regionen Tula, Kaluga und Rjasan betroffen. Der Stromausfall hatte auch politische Folgen gehabt. In den Medien nannte man das „Energie- Tschernobyl“ in Moskau. Die Behörden waren damals gezwungen, eine umfassende Modernisierung von Umspannwerken durchzuführen.
Die Frage ist, wie groß die Chancen sind, dass Moskau und die rumliegenden Regionen in Dunkelheit nicht durch die marode Energieinfrastruktur, sondern durch gezielte Angriffe versinken kann?
Herbst 2025: „Domino- Effekt“ für die russische Energetik?
Wenn der Vorfall von 2005 Folge eines technologischen Versagens war, wird das russische Energiesystem Im Herbst 2025 mit einer neuen äußeren Gefahr konfrontiert.
Seit dem September 2025 kommt es immer wieder zu Stromausfällen in verschiedenen Regionen Russlands durch ukrainische Drohnen- und Raketenattacken. Erst wurden die als einzelne lokale Vorfälle wahrgenommen, derzeit wird davon auch das russische Hinterland betroffen, was die Anfälligkeit des russischen Energiesystems offenbart.
Erst kam es zu Notfallstromabschaltungen in der Grenzregion Belgorod, wo ein Wärmekraftwerk getroffen wurde. Durch ukrainische Drohnenangriffe im Oktober blieben mehrere Dutzend Tausend Kunden im Rayon Sudscha in der Region Kursk im ohne Strom.
Zuerst kam es zu Notfallstromabschaltungen in der Grenzregion Belgorod, wo ein Wärmekraftwerk getroffen wurde. Durch ukrainische Drohnenangriffe im Oktober blieben mehrere Dutzend Tausend Kunden im Rayon Sudscha in der Region Kursk ohne Strom.

Anfang November erreichten ukrainische Drohnen das Moskauer Umland - in der Stadt Schukowski südöstlich von der russischen Hauptstadt gab es einen großflächigen Stromausfall. Laut dem ukrainischen Militärgeheimdienst HUR sei dort eine wichtige Ölpipeline-Ring um Moskau mit Drohnen beschädigt. Der Betrieb sei daraufhin unterbrochen worden. Durch den Angriff seien Leitungen für Benzin, Diesel und Kerosin für die russische Armee zerstört worden.
Einige Tage später wurde in der Stadt Wolgoretschensk in der Oblast Kostroma – etwa 270 Kilometer nordöstlich von Moskau –ein Wärmekraftwerk durch Explosionen beschädigt worden. Es handelt sich um eine der Schlüsselanlagen, die Moskau und die Nachbarregionen mit Strom versorgt.
Diese Angriffe senden ein deutliches Signal: der Energiekrieg weitet sich über die frontnahen Regionen hinaus aus. Die Ukraine demonstriert eine Fähigkeit, tief in russischem Gebiet anzugreifen, was den Kreml dazu zwingt, Geldressourcen für den Schutz der Objekte zu verwenden, die zuvor für ukrainische Angriffe unerreichbar schienen.
Blackout in Moskau. Meinung von Experten
Die Experten sind sich uneinig, ob ein totaler Stromausfall in Moskau ein realistisches Szenario sein kann- dabei geht es um technische Möglichkeiten, strategische Zweckmäßigkeit und potentielle Folgen.
„Тechnisch möglich und strategisch notwendig“
Ein Teil von Experten ist überzeugt, dass die Ukraine über alle technischen Möglichkeiten verfügt, um einen kritischen Schaden dem russischen Energiesystem anzurichten. Der Militärexperte Pawlo Naroschnyj weist dabei auf die größte Schwachstelle Russlands hin- mangelnde Unterstützung von außen. „Wenn die Russen unsere Wärmekraftwerke zerstören, können wir den Strom aus der EU importieren. Russland ist hingegen auf sich alleine gestellt. Anbindung an das Stromsystem Kasachstans (oder eines anderen Landes) ist kaum möglich, denn kein einziges Land wird den Strombedarf Russlands decken können“, so der Experte

Ein weiterer wichtiger Faktor sei eine technologische Abhängigkeit Russlands. „Das Land hat keine eigene Turbinenproduktion für Wärmekraftwerke. Neue Turbinen zu kaufen wäre auch schwierig. Eine Zerstörung von Turbinenhallen in Wärmekraftwerken (wozu nicht Drohnen, sondern Raketen notwendig sind), könnte ein enormes Stromdefizit verursachen“, meint Naroschnyj.
Dabei handele es sich demzufolge nicht unbedingt um Angriffe unmittelbar auf Moskau. Um die russische Hauptstadt von der Stromversorgung abzuschneiden, würde es reichen, Wärmekraftwerke im Umland- im Radius von 100-200 Kilometern zu zerstören. Dazu verfüge die Ukraine über Waffen aus eigener Produktion.
Diese Ansicht teilt der Mitgründer eines Unternehmens zur Drohnenentwicklung Walerij Jakowenko. Er verweist dabei auf die veraltete Energieinfrastruktur Russlands.
„Wenn wir vom Energiesystem Moskaus reden, so wurden alle Anlagen noch zu Sowjetzeiten gebaut, und die haben dieselbe Qualität wie alles andere. Das haben wir am Beispiel der Ukraine gesehen- wie anfällig unsere Energieinfrastruktur ist, wenn punktuelle Angriffe auf Umspannwerke oder Wärmekraftwerke zu massiven Stromausfällen führen können. Genauso große Schäden kann man auch dem Feind anrichten“, so Jakowenko.

Dabei sei das ukrainische Energiesystem während des Krieges modernisiert worden, was in Russland nicht der Fall sei. Eine erfolgreiche Attacke auf Moskau könne demzufolge durch einen gleichzeitigen Einsatz von weitreichenden Drohnen und Raketen durchgeführt werden. Die Ukraine verfüge über alle technischen Voraussetzungen dazu.
„Langfristige Strategie: Kumulationseffekt“
Eine andere Gruppe von Experten betrachtet die Situation aus einer strategischen Perspektive und warnt vor Hoffnungen auf einen schnellen Effekt solcher Angriffe. Der Präsident des Zentrums für Globalistik „Strategie XXI“ Mykhajlo Hontschar zieht dabei Parallele mit einer erfolgreichen Kampagne gegen russische Ölraffinerien.
„Alles hängt von einer richtigen Zielsetzung und dem Vorhandensein von entsprechenden Ressourcen ab. Wir sehen schon Ergebnisse unserer systematischen Arbeit zur Zerstörung der russischen Ölproduktion. Das ist vor allem dank dem Einsatz von weitreichenden Waffen möglich geworden…Genauso wird es mit den Angriffen auf die Energieinfrastruktur sein. Rein technisch können wir diese Aufgabe erfüllen“, so Hontschar.

Moskau sei demzufolge allerdings viel besser durch Luftverteidigungssysteme geschützt, von daher solle man nicht auf schnelle Ergebnisse hoffen- es komme vor allem es auf die Zahl der Angriffe an. Immerhin werde 20% des Strombedarfs durch Kernkraftwerke gedeckt, die im europäischen Teil Russlands liegen.
Gleichzeitig warnte er vor öffentlichen Ankündigungen solcher Angriffe: „Erst tun, und dann sagen, nicht umgekehrt… Je mehr solche Ankündigungen ohne entsprechende Handlungen gibt, desto mehr Einschläge werden in Dnipro, Pawlohrad und Saporischja gemeldet...Der Aggressor wird den Krieg solange weiterführen, bis er kampfunfähig geworden ist. Gerede hilft da wenig“, so der Experte.
Dabei meint er, dass man einen gewünschten Effekt alleine mit Drohnen erreichen könne, was die Angriffe auf russische Ölraffinerien zeigen. Für die Zerstörung eines Umspannwerks sei aber eine sehr große Zahl von Drohen notwendig. Es sei also nur eine Frage der zur Verfügung stehenden Ressourcen, meint Hontschar.
„Spezifische Taktik. Zerstörung von Verbindungen unter Energiesystemen verschiedener Regionen und ein „Ring“ rund um Moskau“
Bei ihren Angriffen setzt die Ukraine eine Taktik ein, welche die Schwachstellen in russischem Energiesystem nutzt. Laut dem Energieexperten Olexandr Chartschenko liegen diese in dessen Größe und dem Prinzip des Funktionierens. «Mit Rücksicht auf die große Zahl der Zeitzonen und die Größe des Territoriums Russlands wird das Energiesystem entsprechend balanciert ... Ukrainische Drohnenangriffe können dieses zeitzonengebundene System zerstören, was zu längeren Stromausfällen in den südlichen Regionen Russlands führen kann“, so der Experte.
Das Hauptziel sei demzufolge Zerstörung von Verbindungen unter den Energiesystemen verschiedener Regionen. „Unsere Angriffe gefährden die Struktur, welche den Energietransport zwischen den Zeitzonen gewährleistet. Wir sind noch weit vom Ziel entfernt- etwa 40- bis 60% der Anlagen sind noсh intakt. Aber sobald die meisten Umspannwerke zerstört sind, wird es in Russland zu viel längeren Stromausfällen kommen, als in der Ukraine. Was kann ich ihnen garantieren“, sagte Chartschenko.

Bezüglich eines möglichen Blackouts in Moskau macht er etwas vorsichtigere Prognosen: „In der russischen Hauptstadt gibt es eigene Stromerzeugungsanlagen, die gut geschützt sind. Deswegen wird es nicht einfach sein, die feindliche Hauptstadt von der Stromversorgung abzuschneiden. Aber ich bin mir sicher, dass unsere Drohnentruppen ganz genau wissen, was sie tun sollen, um zu zeigen, dass man dieses Spiel zu zweit spielen kann“, fügt Chartschenko hinzu.
Der Militärexperte Olexandr Kowalenko betont, ukrainische Angriffe seien alles andere als chaotisch. Die würden demzufolge Voraussetzungen für eine massive Störung des Energietransports unter den Regionen und konkret nach Moskau schaffen. Davon zeugen die jüngsten Attacken auf ein Kraftwerk der Stadt in Orjol – eine der größten Stromerzeugungsanlagen in Russland sowie auf ein Umspannwerk in der Region Wladimir, wonach die Versorgung mit Wärme und Warmwasser eingeschränkt wurde. „Alles deutet darauf hin, dass Notfallstromabschaltungen in einigen russischen Regionen eine unvermeidliche Maßnahme sein wird. Wenn die Angriffe verstärkt werden, wird auch Moskau davon betroffen sein“, so Kowalenko.

„Wenn es in der Ukraine zu Notfallstomabschaltungen kommt, kann man immer einen benzinebtriebenen Generator einschalten. Aber wo findet man heutzutage Benzin in Russland?..„. fügt er ironisch hinzu.
«Skeptiker: uneffektiv und Verschwendung von Ressourcen“
Einige Experten vertreten aber eine komplett entgegengesetzte Meinung. Nach der Überzeugung des Investitionsbankiers Serhij Fursa sei diese Strategie völlig falsch. „Angriffe auf zivile Infrastruktur können wenig bewirken, wie insbesondere die Geschichte des Zweiten Weltkrieges zeigt. Angriffe im Hinterland können eine Arme nicht stoppen. Die russische Strategie der Zerstörung der ukrainischen Energieinfrastruktur hat in den letzten fast vier Jahren nichts gebracht- ein Maximum, was Russland erreichen kann, sind temporäre Unannehmlichkeiten für die Ukrainer“, meint er.
Er begründet seine Meinung mit einer Ungleichheit der Potentiale der beiden Länder. „Die Ukraine verfügt über ein viel kleineres Potential im Vergleich zu Russland…. Die russische Netzinfrastruktur ist viel resilienter und verzweigter, und das Territorium Russlands ist viel größer, was massive Angriffe darauf deutlich erschwert“.
Deswegen glaubt er, dass die Ukraine ihre ohnehin eingeschränkten Ressourcen nicht auf symbolische Angriffe verschwenden solle. Es habe demzufolge keinen Sinn, zu der Strategie zu greifen, die sich als uneffektiv erwiesen habe. Die Ukraine sollte weitreichende Waffen für Angriffe auf Munitionslager, Militärflughäfen und Objekte, die den Nachschub der russische Armee sichern, einsetzen.
„Wir sollen auf Qualität und Effektivität setzen, um das Personalmangel durch Technologien, Waffen, Innovationen und gezielte Nutzung aller Ressourcen auszugleichen“, so Fursa.
Fazit: wird die Ukraine „den Schalter drücken“?
Ukrainische Kampagne gegen die russische Energetik ist bereits Fakt, und die Angriffe werden nur verstärkt. Das Endziel der Kampagne und derer Effektivität sorgen aber immer noch für heftige Diskussionen unter den Experten.
Das offizielle Kyjiw hält sich von detaillierten Kommentaren zu der Strategie der Angriffe zurück, spricht aber deutlich von einer symmetrischen Reaktion. Man hat schon den Aggressor vor „einem kalten Winter“ gewarnt. Wie der Leiter des Zentrums zur Bekämpfung von Desinformationen Andrij Kowalenko betonte, „Ihnen (den Russen) steht ein kalter Winter bevor, denn sie werden eine symmetrische Antwort bekommen, die sehr schmerzhalft sein wird. Denn je größer ein Land, desto schwieriger ist es, zerstörte Objekte wiederherzustellen. Dabei bereiteten sich die Russen im Gegensatz zu uns nicht auf Angriffe auf Energieinfrastruktur vor“, so Kowalenko.
Die Frage ist also nicht, ob die Ukraine eine symmetrische Antwort auf russische Angriffe geben wird, sondern, wie zerstörerisch und systematisch die sein kann und ob der großflächige Stromausfall von 2005 nur ein Kinderspiel im Vergleich mit dem sein wird, was Moskau im Jahr 2025 erwartet. Hoffentlich, ja…
Myroslaw Liskowytsch, Kyjiw