Sexualisierte Gewalt in den besetzten Gebieten ist ein Element des Terrorismus und der Unterdrückung des Widerstands. Wie kann man die Täter bestrafen?

Sexualisierte Gewalt in den besetzten Gebieten ist ein Element des Terrorismus und der Unterdrückung des Widerstands. Wie kann man die Täter bestrafen?

Ukrinform Nachrichten
Die Opfer fordern eine Bestrafung der russischen Kriegsverbrecher. Aber sie brauchen auch Hilfe und Unterstützung von der Gesellschaft 

Das Schicksal der ukrainischen Frauen, Männer und Kinder, die von russischen Invasoren sexuell missbraucht wurden, ist ein Bild der Hölle auf Erden. Jeder dieser Fälle ist ein Kriegsverbrechen, das eine schwere und gerechte Strafe der Täter erfordert. Menschenrechtsaktivisten zufolge gibt es während des russisch-ukrainischen Krieges Tausende ähnlicher Fälle, bei denen Kinder, Erwachsene, Frauen und Männer zu leiden hatten. Offiziell wurden jedoch nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft 225 Fälle von konfliktbedingter sexualisierter Gewalt (CRSV) registriert. Dazu gehören Vergewaltigung, Genitalverstümmelung oder -gewalt, erzwungene Nacktheit, Drohungen und versuchte Vergewaltigung sowie der Zwang, dem sexuellen Missbrauch von Angehörigen zuzusehen.

225 Strafverfahren bis zum 11. August 2023. Ist das zu wenig oder zu viel? Es ist klar, dass die meisten Opfer es vorziehen, über einen solchen Missbrauch zu schweigen. Aber das ist nicht der einzige Grund. Und es ist notwendig, sich damit auseinanderzusetzen: Früher oder später müssen der Angreiferstaat und die unmittelbaren Täter gerecht bestraft werden, und die Opfer müssen öffentliche Unterstützung und Entschädigung erhalten, „Wiedergutmachung“ in der Sprache des Gesetzes.

NICHT JEDE FRAU KANN ÜBER DAS SCHLIMMSTE REDEN, NACHDEM ES PASSIERT IST

Beispiel. Kürzlich erzählte uns der 16-jährige Witalij Wertasch aus Cherson, der nach seiner Deportation aus der vorübergehend besetzten Krim zurückkehrte, von den Schreien eines 13-jährigen Mädchens, das ... von Lagerbetreuern vergewaltigt wurde. Es geschah in Jewpatorija, in einer Einrichtung, wo die Besatzer ukrainischen Kindern die besten Ferien versprachen. Stattdessen wurden die Minderjährigen mit Ukrainerhass und Einschüchterung konfrontiert. Über das Mädchen, das den sexualisierten Machtmissbrauch überlebt hat, gibt es keine Angaben ...

Fälle von konfliktbedingter sexualisierter Gewalt sind Geschichten, die sich seit 2014 ereignet haben, als die terroristische sogenannte „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk entstanden und Russland die ukrainische Krim annektierte. Sie kamen zu all den Gebieten hinzu, die russische Truppen nach der vollständigen Invasion am 24. Februar 2022 vorübergehend erobern konnten. Frauen und Kinder sind am schwersten betroffen.

„Wir sind keine Opfer. Wir sind Menschen, die es geschafft haben zu überleben“, sagt Ljudmyla Hussejnowa, die mehr als drei Jahre lang in den vorübergehend besetzten Gebieten gefangen gehalten wurde: zunächst im Gefängnis „Isoljazija“, das für die Misshandlung ukrainischer Gefangener bekannt ist, und dann im Haftzentrum von Donezk. Am 17. Oktober 2022 gelang es ihr, während des sogenannten „großen Frauenaustauschs“ – 108 weibliche Gefangene wurden da freigelassen – zurückzukehren.

Nowoasowsk, wo die Frau als Sicherheitsingenieurin in einer Geflügelfarm arbeitete, wurde im Spätsommer 2014 besetzt. Von Beginn des russisch-ukrainischen Krieges an kümmerte sie sich um sozial benachteiligte Kinder. Deshalb nahm das sogenannte MGB – das „Ministerium für Staatssicherheit“ der Terroristen – die Frau im Oktober 2019 fest. Sie wurde des Extremismus beschuldigt, und die Besatzer nutzten ihre Likes und Fotos mit den in den Sand geschriebenen Worten „Ruhm für die Ukraine!“ in den sozialen Medien als Beweis dafür.

„Jede Frau, die durch die Donezker, Izolyatsiya‘ ging, war wegen ihrer pro-ukrainischen Haltung sexualisierter Gewalt ausgesetzt“, sagt Ljudmyla. „Diese Frauen haben das Schlimmste durchgemacht. Ich weiß, wovon ich spreche. Aber nicht alle haben die Kraft, darüber zu sprechen.“

Nach Angaben der Gefangenen, die sich seit ihrer Freilassung aktiv in der Menschenrechtsarbeit engagiert, gibt es in den vorübergehend besetzten Gebieten der Region Donezk etwa 50 Frauen, die seit mehr als zwei Jahren gefangen gehalten werden. „Seit Beginn der umfassenden Invasion haben die russischen Besatzer Tausende von ukrainischen Zivilistinnen für unterschiedliche Zeiträume festgehalten“, sagt Ljudmyla Hussejnowa.

Die Menschenrechtsaktivistin ist von Verwandten der Opfer ermächtigt worden, die Namen zu nennen, um ihre baldige Freilassung aus den russischen Folterkammern zu erreichen: “Olja Masolewska wird etwas zu erzählen haben. Ich weiß, was sie durchgemacht hat. Olja Meleschtschenko wurde aus Horliwka verschleppt, als ihr jüngster Sohn 4 Jahre alt war. Seitdem hat das Kind seine Mutter drei Jahre lang nicht mehr gesehen. Wir sollten auch nicht über Olena Fedoruk schweigen, die zu 11 Jahren Gefängnis verurteilt worden ist. Switlana Holowan erhielt ein Jahr weniger. Natalija Schylo befindet sich seit 2020 in Gefangenschaft. Maryna Jurtschak wurde zu 15 Jahren verurteilt. Und Tetjana Schurawlewa befindet sich seit fast 4 Jahren in der Haft der Besatzer. Ich habe ihr Gesicht nicht gesehen, denn als wir im Auto transportiert worden sind, hatten wir beide Säcke auf dem Kopf ...“.

40 BETROFFENE FRAUEN IN EINER ORGANISATION

Seit mehreren Jahren gibt es in der Ukraine einen Zweig der internationalen Menschenrechtsbewegung SEMA Ukraine – eine Gemeinschaft von Frauen, die sexualisierte Gewalt während des russisch-ukrainischen Krieges überlebt haben und denen es gelungen ist, ihre traumatischen Erfahrungen in posttraumatisches Wachstum umzuwandeln. Die NRO besteht aus etwa 40 Frauen, von denen die Hälfte nach dem 24. Februar 2022 Opfer wurden.

Koordinatorin ist Iryna Dowhan aus Jassynuwata, die im August 2014 gefangen genommen wurde, weil sie als Freiwillige dem ukrainischen Militär in der sogenannten Volksrepublik Donezk geholfen hatte.

Ein Foto von Iryna Dowhan, das im vorübergehend besetzten Donezk aufgenommen wurde, wurde von der New York Times am 25. August 2014 veröffentlicht: eine Frau mit der Flagge der Ukraine auf den Schultern, die ein Schild mit der Aufschrift ,SIE tötet unsere Kinder // Agentin der Bestrafer‘, sie wird von einer gegnerischen Frau (aus der sogenannten Volksrepublik Donezk) wütend in den Oberkörper getreten, daneben steht ein militanter Kämpfer mit einer Maschinenpistole. Ein Stück weiter steht auf dem Plakat „DNR“.

Foto: New York Times

Seitdem ist dieses Foto ein Beweis für die Grausamkeit und Niedertracht der Besatzer, die versuchen, jede illegale Festnahme ukrainischer Bürger in Propaganda für die „russische Welt“ zu verwandeln. Das Foto hat Iryna Dowhan vor einem langen Aufenthalt in den Folterkammern der terroristischen „DNR“ bewahrt. Sie wurde dank der Fürsprache ausländischer Journalisten, vor allem Andrew Kramer von der New York Times und Mark Franchetti von der Sunday Times, freigelassen.

„Nach diesem Platz bin ich zum Wostok-Bataillon zurückgebracht worden, und es gab mehrere Stunden schrecklicher Misshandlungen. Es waren nicht mehr die Frauen, die mir ins Gesicht geschlagen, sondern kräftige Männer, die mich getreten haben. Nachts konnte ich mich nicht auf den Boden legen, weil mein ganzer Körper geschmerzt hat“, erinnert sich Iryna Dowhan.

Die Frau erinnert sich mit Schrecken an einen anderen Tag, an dem sie in einen Raum mit zwanzig südländisch aussehender Männer gebracht wurde, die nach vielen Beschimpfungen sagten: „Dreh dich um, wir müssen überlegen, wie wir dich vergewaltigen werden. Wie viele Menschen willst du haben? 10, 20? Wir sind hier sehr viele. Wir können dir 40 oder 50 geben ...“. 

Einer der Osseten machte sich einen Spaß daraus, die fragile, wehrlose Iryna in die Brust zu schlagen. Und sie landete auf der Batterie ...

„Nicht jede Frau, die sexualisierte Gewalt überlebt hat, ist bereit, sich der Gemeinschaft anzuschließen und ihre Geschichte zu erzählen“, sagt die Koordinatorin von SEMA Ukraine, Iryna Dowhan, „und die Generalstaatsanwaltschaft, die nationale Polizei und der Sicherheitsdienst der Ukraine sind sehr langsam bei der Erfassung und Untersuchung solcher Verbrechen. Erst im Jahr 2021 ist es den betroffenen Frauen gelungen, die Generalstaatsanwaltschaft dazu zu bringen, sie zu vernehmen. Nach der umfassenden russischen Invasion ist die Zahl solcher Verbrechen um ein Vielfaches gestiegen, und es war nicht mehr möglich, sie zu verschweigen, weder hier noch im Ausland.“

Einige der Opfer sind ausgewandert. „Wenn man wegen seiner pro-ukrainischen Haltung in den Folterkammern von Donezk gesessen hat und dann die russische Armee wieder auf einen zukommt, will niemand eine zweite Runde durchmachen. Deshalb verstehe ich alle Frauen, die weggegangen sind. Sie sind mit uns online. Viele von ihnen sprechen mit Journalisten im Ausland, um auf das Thema Aufmerksamkeit zu lenken“, erklärt Iryna Dowhan.

GENERALSTAATSANWALTSCHAFT ÄNDERT ANSÄTZE ZUR UNTERSUCHUNG VON SEXUALDELIKTEN WÄHREND DES KRIEGES

In einem Gespräch mit Ukrinform betonte der ukrainische Generalstaatsanwalt Andrij Kostin, dass es jetzt darauf ankomme, dass „die Interessen des Menschen im Mittelpunkt der Arbeit der Staatsanwälte stehen“. Aus diesem Grund wurde im vergangenen Jahr innerhalb der Generalstaatsanwaltschaft eine Spezialeinheit für die Arbeit mit Überlebenden sexualisierter Gewalt im Krieg geschaffen. Das neu geschaffene Koordinierungszentrum für die Unterstützung von Opfern und Zeugen, das umfassende Hilfe leisten soll, stellt derzeit Mitarbeiter ein. Kostin merkte an, dass in Kroatien eine solche Struktur erst nach dem Krieg geschaffen wurde, „aber wir warten nicht auf das Ende der Feindseligkeiten, wir arbeiten bereits“.

Laut Kostin wendet die Generalstaatsanwalt bei der Untersuchung von Kriegsverbrechen „die besten internationalen Praktiken an. Dies gilt sowohl für die Methoden zur Dokumentation und Verfolgung von Kriegsverbrechen als auch für so wichtige Bereiche wie die kinderfreundliche Justiz und die Umsetzung des Murad-Kodex“ (der Murad-Kodex ist der „Globale Verhaltenskodex für Personen, die Informationen über systematische sexualisierte Gewalt in Konflikten sammeln und nutzen“. Er bezieht sich auf die Rechte der Opfer auf Würde, Privatheit, Sicherheit, Zugang zur Justiz, Wahrheit und wirksamen Rechtsschutz usw. Der erste und wichtigste Punkt ist, dass das Opfer mit Respekt behandelt werden muss. Es wurde von Nadia Murad geschrieben, einer irakischen Menschenrechtsaktivistin, Friedensnobelpreisträgerin 2018 und Überlebenden von Folter, Tod von Angehörigen und sexualisierter Gewalt durch ISIS, – Anm. d. Red.).

Der Generalstaatsanwalt ging insbesondere auf die Besonderheiten bei der Untersuchung von Sexualdelikten während des Konflikts ein. „Anfang September 2022 habe ich eine Spezialeinheit gegründet, die geschult worden ist, und danach haben wir gemeinsam mit unseren Partnern eine Strategie zur Untersuchung dieser Verbrechen entwickelt. Was sind die wichtigsten Punkte? Dabei haben wir nicht nur die Grundsätze des Murad-Kodex angewandt, was bedeutet, dass die Ermittlungen so durchgeführt werden, dass eine erneute Traumatisierung verhindert wird, und zwar mit Zustimmung des Opfers oder Überlebenden. Das Wichtigste ist, dass sich die Strafverfolgungsbehörden voll und ganz auf das Opfer oder den Überlebenden konzentrieren“, sagt Kostin. „Im Herbst (2022, – Anm. d. Red.), als ich angefangen habe, hatten wir 43 oder 44 Strafverfahren wegen Sexualdelikten in den befreiten Gebieten. Jetzt sind es 215 (das Gespräch fand Ende Juli statt. Mit Stand vom 11. August 2023 sind bereits 225 Fälle erfasst, – Anm. d. Red.) Und das liegt nicht nur daran, dass es in der Region Charkiw weniger und in der Region Cherson mehr Fälle gab. Tatsache ist, dass wir unseren Ansatz geändert haben. Wir verstehen, dass es sich um ein sehr komplexes Verbrechen handelt, das ein Element des Terrorismus ist, ein Element der Unterdrückung des Widerstands unseres Volkes während der vorübergehenden Besetzung. All das verstehen wir. Aber damit sich die Menschen – die Opfer – sicher fühlen und den Strafverfolgungsbehörden vertrauen können. Wir haben nicht darauf gewartet, dass jemand kommt und ein Verbrechen anzeigt, sondern haben wir die Situation etwa verändert.“

Der Generalstaatsanwalt sprach über die Region Charkiw nach der Rückeroberung im September letzten Jahres: „Wir arbeiteten hier, nachdem wir die Erfahrungen mit der Dokumentation von Verbrechen in der befreiten Region Kyjiw analysiert hatten, wo es sehr schwierig war – das ganze Land hat Kriegsverbrechen dokumentiert: sogar NABU-Ermittler haben Erklärungen ausgewählt und Verbrechen dokumentiert ... Unter Berücksichtigung dieser Erfahrung haben wir in der Region Charkiw einen systematischeren Ansatz gewählt: Wir haben mehr als 25 mobile Staatsanwaltsteams gebildet, die gleichzeitig an verschiedene Orte gehen und alles dokumentieren konnten. Dies hat uns später in der Region Cherson geholfen. Dort haben wir bei Sexualdelikten einen etwas anderen Ansatz verwendet.“ 

Kostin sagte: „Vertreter der Nationalen Polizei die ersten sind, die die befreiten Gebiete betreten und nach den Sicherheitsmaßnahmen Hausbesuche und Besuche von Wohnung zu Wohnung machen, mit den Menschen sprechen und ihnen Fragen stellen: ,Haben Sie gelitten?‘ – ,Nein‘ – ,Wissen Sie, ob jemand gelitten hat?‘. Und abgesehen von denjenigen, die bereit waren, Auskunft zu geben, hat die Polizei, wenn sie Signale von den Einheimischen erhalten hat, diese sehr sorgfältig überprüft. Danach ist eine Gruppe von geschulten Staatsanwälten und Ermittlern aus Kyjiw, die wissen, wie man mit den Opfern solcher Verbrechen kommuniziert, an den Ort des Geschehens gefahren, und während des Gesprächs mit ihnen haben die Menschen begonnen zu erzählen, was sie erlebt haben. Das ist sicherlich ein Schock für sie.“ 

Manchmal, so der Generalstaatsanwalt, „stellen wir nach Gesprächen mit den Opfern fest, dass diese Familie Schutz braucht, dass sie umgesiedelt werden muss, dass sie bestimmte Dinge braucht, dass sie Ärzte braucht. Hier ist das Netzwerk aus staatlichen Stellen und NRO, mit dem wir zusammenarbeiten, eine große Hilfe für uns. Sie helfen uns sehr: bei der Umsiedlung, bei der ersten Hilfe für die Opfer. Und dann warten wir, bis sie bereit sind, zu reden“. 

„Wichtig ist, dass dieser Ansatz, bei dem das Opfer im Mittelpunkt des Strafverfolgungssystems steht, funktioniert. Und ich gehe davon aus, dass diese Erfahrung auf alle Kriegsverbrechen ausgeweitet werden sollte“, so der Generalstaatsanwalt gegenüber unserer Agentur.

Foto: GETTY IMAGES

79 FÄLLE VON SEXUALISIERTER GEWALT GEGEN MÄNNER WURDEN OFFIZIELL FESTGESTELLT

„Derzeit werden die meisten Fälle von sexualisierter Gewalt in der Region Cherson sowie in den Regionen Kyjiw, Donezk, Charkiw, Saporischschja, Tschernihiw, Luhansk, Mykolajiw und Sumy registriert. Überall dort, wo das russische Militär präsent war, sind Fälle von sexualisierter Gewalt gegen Frauen registriert worden“, erklärte Iryna Didenko, Leiterin der Abteilung für Verfahrensmanagement bei vorgerichtlichen Ermittlungen und Unterstützung der Staatsanwaltschaft bei Strafverfahren wegen Verbrechen sexualisierter Gewalt, Abteilung für die Bekämpfung von Verbrechen, die im Kontext bewaffneter Konflikte begangen wurden, bei der Generalstaatsanwaltschaft, gegenüber Ukrinform. 

Sie stellt fest, dass „niemand wirklich die Frage nach der Anzahl der Fälle solcher Verbrechen seit dem 24.02.2022 und seit 2014 beantworten kann. Die Latenzzeit für diese Verbrechen ist hoch. Der Krieg in Bosnien und Herzegowina ist seit mehr als zwanzig Jahren vorbei, und die Opfer melden ihre Fälle von CRSV immer noch den Strafverfolgungsbehörden. Daher kann man leicht von einem Anstieg um mindestens das Zwei- oder sogar Dreifache sprechen. Wenn Ukrainische Streitkräfte den Rest der Ukraine befreien, ist es noch schwieriger, etwas vorherzusagen“.

CRSV sollte nicht nur als Missbrauch von Frauen wahrgenommen werden. „Bis Ende Juni wurden 79 Fälle von CRSV unter Männern festgestellt, aber diese Zahl der offiziell erfassten Fälle spiegelt nicht das wahre Ausmaß dieser Verbrechen wider“, erklärt Iryna Didenko. „Die Zahl der Opfer steigt unter den männlichen Soldaten Ukrainischer Streitkräfte, die in Gefangenschaft gehalten worden sind und Folter und Genitalverstümmelung durch Elektroschocks ausgesetzt waren.“

Aktivisten aus Cherson sprechen offen über Elektroschocks: Roman Schapowalenko, der während der vorübergehenden Besetzung 54 Tage in Gefangenschaft verbrachte, und Oleksij Siwak, der ebenfalls den „Keller“ der Besatzer überlebte. Die sogenannten „Ordnungshüter“ der vorübergehenden russischen Behörden in den ukrainischen Gebieten hatten ein brutales Vergnügen daran, die Ohren und Genitalien von Chersonern, die unter Einsatz ihres Lebens als Guerillakämpfer die Flaggen unseres Landes aufgehängt hatten, mit Elektroschocks zu quälen.

VERFAHREN KÖNNEN SICH ÜBER JAHRZEHNTE HINZIEHEN

Die logische Frage lautet: Wann können die Ermittlungen abgeschlossen und die Urteile gesprochen werden? Wie können solche Urteile in die Anklage gegen den Aggressorstaat als Ganzes einbezogen werden?

„Die Untersuchung von Kriegsverbrechen, insbesondere von CRSV, ist extrem schwierig“, sagt Iryna Didenko. „Wie die weltweite Praxis in Ländern, in denen Kriege oder bewaffnete Konflikte stattgefunden haben, wie Bosnien und Herzegowina, Kolumbien, Ruanda, Kambodscha usw., zeigt, dauern die Ermittlungen in solchen Fällen sehr lange. Auch die Gerichtsverfahren dauern lange, und ich will Sie nicht täuschen – sie können sich über Jahrzehnte hinziehen. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass der Zugang zu dem Gebiet, in dem die Verbrechen begangen worden sind, nicht möglich ist, dass es Probleme bei der Identifizierung potenzieller Verdächtiger gibt, dass es an Zeugen und Opfern mangelt, die nicht sofort bereit sind, zu reden, usw. Die Situation bei Verurteilungen in dieser Kategorie ist besonders. In naher Zukunft können nur Abwesenheitsurteile gegen die unmittelbaren Täter dieser Verbrechen verhängt werden. Es handelt sich dabei um Soldaten des Aggressorstaates sowie um Offiziere der unteren und mittleren Ebene. Gleichzeitig werden unsere Ermittlungen und Urteile die Beweisgrundlage dafür bilden, dass die obersten militärischen und politischen Führer des Aggressorstaates aufgrund ihrer Befehlsverantwortung vor Gericht gestellt werden können. Dieses Konzept wird in erster Linie vom Internationalen Strafgerichtshof und anderen internationalen Gerichtshöfen verwendet. Leider ist es in der nationalen Gesetzgebung nicht vorhanden.“

Derzeit dokumentieren sieben Staatsanwälte in der Ukraine CRSV. Auf die Frage, ob diese Zahl ausreichend ist, antwortet Iryna Didenko: „Ja und nein. Verbrechen der sexualisierten Gewalt sind eine der Arten von Kriegsverbrechen. Die meisten dieser Verbrechen werden jedoch in den vorübergehend besetzten Gebieten der Ukraine begangen. In den Regionen haben die Staatsanwaltschaften und Ermittlungsbehörden ihre eigenen strukturellen Einheiten, die auf Kriegsverbrechen spezialisiert sind, während es keine separaten strukturellen Einheiten gibt, die auf CRSV spezialisiert sind. Daher befassen sich Staatsanwälte und Ermittler neben dieser Kategorie von Strafverfahren auch mit anderen Kriegsverbrechen. Das ist eine gute Sache, weil die Staatsanwälte und Ermittler dann ein besseres Verständnis für die Rechtsnatur anderer Kriegsverbrechen haben, aber aufgrund der übermäßigen Arbeitsbelastung widmen sie CRSV-Verbrechen möglicherweise weniger Aufmerksamkeit. Und jeder versteht das – es herrscht Krieg im Land und der Personalmangel bleibt bestehen. Deshalb helfen uns die Staatsanwälte der Sonderabteilung für CRSV in der Generalstaatsanwaltschaft. Wir sind an der Koordination und den Ermittlungen beteiligt. Angesichts des Trends wird es immer mehr Arbeit geben, also ist es offensichtlich, dass wir mehr Staatsanwälte und Ermittler brauchen, um unsere Arbeit ordnungsgemäß zu erledigen“.

Je nach Kategorie der Opfer gehen sie unterschiedliche Wege, erklärt Didenko. Zivilpersonen, die Opfer von CRSV wurden, können direkt eine Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft einreichen. Die Staatsanwaltschaft nimmt die Anzeige entgegen, trägt die Informationen in Einheitliches Register der vorgerichtlichen Untersuchungen ein und beauftragt die zuständige Behörde der vorgerichtlichen Untersuchungen mit der Untersuchung der Straftat. Die Opfer können ihre Anzeige auch direkt bei den Ermittlungsbehörden einreichen. „Außerdem verfügt die Generalstaatsanwaltschaft über sogenannte mobile Gruppen, die in die befreiten Gebiete reisen, wo sie Verbrechen direkt aufdecken und Kontakt zu den Opfern aufnehmen. Die Situation mit dem Militär ist etwas anders. Hier arbeiten wir eng mit bestimmten Abteilungen des Verteidigungsministeriums und den Streitkräften der Ukraine zusammen“, sagt die Leiterin der Abteilung für die Bekämpfung von Verbrechen, die im Kontext bewaffneter Konflikte begangen werden, im Büro des Generalstaatsanwalts.

Iryna Didenko mahnt: „Wir dürfen nicht vergessen, dass es das Recht und nicht die Pflicht der Opfer ist, auszusagen oder im Gegenteil zu schweigen. Niemand wird ihnen dies zum Vorwurf machen. Das Risiko einer Retraumatisierung während des Verhörs ist hoch. Das Hauptargument der Strafverfolgungsbehörden und der Staatsanwälte, um die Menschen zu motivieren, auszusagen, ist, dass wir die Möglichkeit garantieren, Gerechtigkeit zu erfahren, mit der Unterstützung von Psychologen ein neues Leben zu beginnen, die Möglichkeit zu haben, nicht mit der Erinnerung an diese schreckliche Erfahrung zu leben, sondern eine Strafe für den Täter zu werden“.

Foto: Denys Hluschko, Gwara Media

ÜBER WIEDERGUTMACHUNG UND DIE WICHTIGKEIT DER VERMEIDUNG VON OPFERBESCHULDIGUNG

Derzeit erhalten die offiziell registrierten Opfer regelmäßig medizinische und psychologische Hilfe. Sie werden aus den befreiten Gebieten in Frauenhäuser und sichere Häuser evakuiert und erhalten materielle Hilfe. Iryna Dowhan, Koordinatorin der NRO SEMA Ukraine, stellt fest, dass einem Opfer manchmal angeboten wird, mit vier Psychologen über seine traumatischen Erfahrungen zu sprechen. Dies kann der Suche nach Anlehnungspunkten sogar abträglich sein. Auf staatlicher Ebene werden unter Beteiligung internationaler Organisationen die Aussichten für die Einführung eines Entschädigungssystems für die Opfer der CRSV und anderer Kriegsverbrechen der russischen Besatzer diskutiert. „Menschen denken oft, dass Wiedergutmachung ausschließlich eine monetäre Form der Zahlung, Erstattung oder Entschädigung ist. Das ist jedoch nicht der Fall“, erklärt Chrystyna Kit, Leiterin der ukrainischen Vereinigung der Juristinnen „JurFem“. „Eine der Formen ist die Restitution – wenn es um die Wiederherstellung von beschlagnahmtem und/oder zerstörtem Eigentum usw. geht. Eine andere Form der Wiedergutmachung ist die Genugtuung. Hier geht es um die Bedeutung, die die offizielle Anerkennung ihres Status als Opfer dieser Art von Kriegsverbrechen durch den Staat auf legislativer Ebene für die Menschen hat. Die nächste Form ist die Rehabilitierung. Diese wichtige Form der Wiedergutmachung umfasst soziale, medizinische und psychologische Hilfe bei der Genesung der Opfer und bei der Ermöglichung von Studium und Arbeit. Solche Programme helfen den Menschen, sich in die Gesellschaft zu integrieren und zu ihrem Vorkriegsleben zurückzukehren. Denn manchmal können Kinder oder Studenten, die CRSV erlebt haben, ihr Studium aus gesundheitlichen Gründen nicht fortsetzen. Oder eine Person findet keine Arbeit, denn es fällt ihr schwer, in Teams zu arbeiten, oder sie ist nach einem traumatischen Erlebnis nicht in der Lage zu kommunizieren. Und natürlich gibt es Entschädigung, sowohl die unmittelbare als auch die langfristige, tatsächlich Geld. Uns ist klar, dass der Krieg in der Ukraine noch nicht vorbei ist, aber Menschen, die sexualisierte Gewalt erlitten haben, brauchen Geld zum Leben. Oft haben sie ihr Zuhause, ihren Arbeitsplatz und vor allem ihre Gesundheit verloren, deshalb müssen sie unterstützt werden und bestimmte Übergangszahlungen erhalten.“

Die Ukraine arbeitet bei der Unterstützung der CRSV-Opfer mit dem Global Survival Fund und der Mukwege Foundation zusammen, die eine Kooperationsvereinbarung mit der Regierung unterzeichnet haben. Diese Stiftungen sind bereit, Hilfe zu leisten, und verfügen über bestimmte Mittel dafür. Gleichzeitig werden den Opfern seit Monaten über die Zentren zur Unterstützung für Überlebenden andere Formen der unmittelbaren Wiedergutmachung angeboten.

In der Zwischenzeit, so Chrystyna Kit, „sollte die Gesellschaft die Opferbeschuldigung nicht dulden, was bedeutet, dass man dem Opfer die Schuld gibt. Man sagt, dass es seine/ihre Schuld ist, dass er/sie nicht weggegangen ist, nicht weggelaufen ist, sich nicht versteckt hat und deshalb CRSV erlitten hat. Leider gibt es diesen Ansatz immer noch. Das ist es, was die Opfer oft davon abhält, ihre Geschichte zu erzählen“.

Hintergrundinformation: Nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft haben die Staatsanwälte bis zum 11. August 2023, also seit Beginn der umfassenden militärischen Aggression der Russischen Föderation, 225 Fälle von CRSV registriert. Davon wurden 79 Fälle von Männern und 146 von Frauen begangen. Es gab 13 Straftaten gegen Minderjährige (12 Mädchen und 1 Junge waren Opfer). 64 Straftaten wurden aufgeklärt.

Derzeit werden die meisten Fälle sexualisierter Gewalt in den Regionen Cherson (68), Kyjiw (52), Donezk (55), Charkiw (20), Saporischschja (15), Tschernihiw (5), Luhansk (3), Mykolajiw (5) und Sumy (2) verzeichnet.

Walentyna Samtschenko,

Maryna Synhajiwska 


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