Eine Geschichte des Glücks von zwei Gefangenen und der kleinen Anna-Marija

Eine Geschichte des Glücks von zwei Gefangenen und der kleinen Anna-Marija

Ukrinform Nachrichten
Wie die Familie einer Militärärztin und eines Marinesoldaten aus Mariupol nach der Gefangenschaft wieder zusammenfand und ihre 6-jährige Tochter aus dem besetzten Gebiet zurückbrachte

Wenn man sich die Fotos der letzten Wochen anschaut, könnte man meinen, dass diese Familie — Vater, Mutter und Tochter — zu glücklich und sorglos für die Zeiten des russisch-ukrainischen Krieges ist. Doch bevor der glückliche „Glamour“ erschien, wurden die Militärs aus Mariupol Kateryna und Ihor gefangen genommen, und ihr kleines Kind verbrachte mehr als ein Jahr in den vorübergehend besetzten Gebieten.

Das Ehepaar wurde im russisch besetzten Mariupol und an anderen Haftorten auf die Probe gestellt. Diese Ukrainer wurden in russischer Gefangenschaft durch ihren Glauben daran gerettet, dass es einen Ausweg aus den schwierigsten Situationen gibt. Und sie warteten auf einen glücklichen Anruf und herzliche Umarmungen.

Ukrinform erzählt die Geschichte der Irrfahrt der Familie und ihrer Wiedervereinigung.

DAS KIND FRAGT STÄNDIG, OB SIE ES VERLASSEN WERDEN, OB SIE ES LIEBEN

Heute besucht die 6-jährige Anna-Marija bereits eine Vorschule, um ihre Vorbereitung auf die Schule zu beschleunigen. Sie ist erst im Mai dieses Jahres zu ihren Eltern zurückgekehrt. Und seit mehr als einem Monat fragt sie ihre nächststehendsten Personen, ob sie sie im Stich lassen werden, ob sie sie lieben.

Vor dem Einmarsch russischer Truppen lebte die Familie in Mariupol. Die Mutter, Kateryna Skopina, Leutenantin mit zwei akademischen Abschlüssen, diente als stellvertretende Kommandantin der Militäreinheit A1249 für moralische und psychologische Unterstützung. Sie wurde 2013 Militärangehörige. Ihr Ehemann, Ihor Dmytrykowskyj, trat wenig später in die Streitkräfte ein und diente als Matrose in der Artilleriewartungseinheit der Militäreinheit A1275 - 503. separates Marinebataillon. Ihre gesamte Freizeit verbrachten sie mit ihrer Tochter.

„Bis zum letzten Moment haben wir nicht geglaubt, dass es zu einem ausgewachsenen Krieg kommen würde“, erinnert sich Kateryna, „selbst als die Russen Mariupol eingekesselt haben und Dutzende von Verwundeten innerhalb von zwei bis drei Stunden in das Krankenhaus gebracht worden sind. Bis etwa Mitte März haben wir noch gedacht: Jetzt dauert es nur noch ein bisschen, dann ist alles vorbei und wir erobern Donezk auch zurück.“

In der Region Asow verstärkten sich die Kämpfe schon etwas früher. Der Krieg dauert dort seit dem Frühjahr 2014 an, und noch vor dem 24. Februar 2022 begann der Feind mit dem Beschuss des linken Ufers des Flusses Kalmius, der Russland am nächsten liegt. Wo die Dörfer Ljapine, Schyrokyne, Sedove sind... „Als mein Mann Tagesdienst hatte, bin ich in der Nacht vom 21. auf den 22. Februar in Gefechtsalarm versetzt worden“, erzählt Kateryna, „ich habe mein Kind zu Hause gelassen und meinen Schwiegervater angerufen. Es war noch ruhig, der Verkehr war da. Am Morgen ist Ihor seinen Vater und unsere Tochter in seinem Auto ins Dorf gefahren und hat die Schlüssel zurückgelassen. Es ist vereinbart worden, dass Anna-Marija ins Haus meiner Eltern in Lwiw gebracht werden sollte. Doch schon bald sahen sich die Eltern meines Mannes mit einem fünfjährigen Kind unter Besatzung konfrontiert.“

Es ist klar, dass Kateryna mir nicht sagen will, was als nächstes passiert ist. Ich frage sie darüber nicht. Ich weiß nur, dass man Ende des letzten Jahres damit begann, russische Dokumente für das Kind auszustellen. Kateryna erzählt mir nicht, wie sich das Schicksal ihrer Schwiegereltern entwickelte.

...Vorwärts gesehen, bemühten sich das Büro des Menschenrechtsbeauftragten des ukrainischen Parlaments und die Ombudsperson für Kinderrechte beim ukrainischen Präsidenten sehr, Anna-Marija über Drittländer in das während des Krieges von der Ukraine kontrollierte Gebiet zurückzubringen. Bis vor kurzem gab die russische Seite Kateryna keine Garantien für die Rückführung ihrer Tochter. Sie stellte eine spöttische Bedingung: Anna-Marija sollte Kateryna an einem Kontrollpunkt an der lettisch-russischen Grenze in etwa 150 Metern Entfernung erkennen. Und das Kind—das war ein Wunder (!)—erkannte seine Mutter nach all den Monaten des unendlichen Stresses... Sie lief sofort auf sie zu. Kateryna und Anna-Marija sahen sich ein Jahr und drei Monate lang nicht.

...Die Familie ist jetzt seit über einem Monat wieder zusammen. Doch sagt Kateryna Skopina, sowohl als Fachfrau als auch als Mutter: „Es ist noch nicht alles so gut, wie es nach außen hin scheint. Psychologisch gesehen haben wir die Verbindung verloren, die wir hatten: Mutter, Vater und Kind.“

Die Familie ist derzeit in einer gemeinsamen Rehabilitation. Ein Psychologe arbeitet mit der 6-jährigen Anna-Marija und bezieht ihre Eltern mit ein. „Ich denke, dass der Spezialist nach all dem, was er hören wird, auch psychologische Hilfe brauchen wird“, sagt Kateryna, „denn nicht jeder ist damit konfrontiert: die Geschichten von zwei Kriegsgefangenen und einem Kind, das ein Jahr lang ohne Eltern in den vorübergehend besetzten Gebieten gelassen wurde.“

WIE DAS EHEPAAR GEMEINSAM GEFANGEN GENOMMEN WURDE

Leutnantin Kateryna Skopina wurde am 6. Dezember 2022 aus fast neunmonatiger russischer Gefangenschaft entlassen. Zu diesem Zeitpunkt wurden 60 Verteidiger, darunter zwei Frauen, in die Ukraine zurückgebracht.

Am Tag zuvor waren die Gefangenen von Taganrog in eine unbekannte Richtung gebracht worden. Niemand sah, wohin sie gebracht wurden, aber die Geräusche machten schließlich deutlich, dass sie sich dem Flughafen näherten. Taganrog liegt ganz in der Nähe der ukrainischen Grenze, aber dies war die Route. Das bedeutete, dass entweder ein russisches Gericht oder ein Austausch bevorstand. Als sie vom Flugzeug in den Bus umgestiegen waren, sagte ihnen auch niemand etwas über ihren Endpunkt. Als sie nach der Übernachtung am nächsten Tag Halt machten, hörten sie über Funk einige Befehle, und dann stiegen die bewaffneten Wachen aus dem Bus. Und dann kam ein Mann mit Worten, die keinen Zweifel ließen: „Erhebt eure Köpfe, willkommen in unserem Heimatland! Ruhm der Ukraine!“

Katerynas Mutter war die erste Person, die sie nach ihrer Rückkehr anrief. Obwohl ihre Mutter die angezeigte Nummer nicht kannte, konnte Kateryna hören: „Kateryna, bist du das?“ Da erfuhr sie, dass ihre Anna-Marija nicht in Lviv war. Seitdem war sie auf der Suche nach ihrem Mann und ihrer Tochter. Nach Neujahr, am 27. Januar, sah sie ein Video von Ihor auf einem der Telegramkanäle. „Er schickte uns seine Grüße und sagte, dass er mich und unsere Tochter liebe, dass er uns sehr vermisse und dass es ihm ,gut‘ gehe. Ich sah aber, dass sein Zustand schrecklich war. Sowohl psychisch als auch physisch“, erinnert sich die Befragte.

Nach zweimonatiger Behandlung und Rehabilitation konnte Leutnantin Kateryna Skopina im März wieder ihren Dienst antreten. Sie erwähnt absichtlich nicht alle Schrecken der russischen Gefangenschaft, damit alle ukrainischen Kriegsgefangenen so schnell wie möglich zurückgebracht werden können. Doch was sie uns erzählte, reicht aus, um sich die feindliche Gefangenschaft vorzustellen.

Am 16. März letzten Jahres fiel eine Bombe auf die Intensivstation eines Militärkrankenhauses in Mariupol. Die Überlebenden — 18 schwer verletzte Personen — wurden in das Iljitsch Eisen- und Stahlwerk evakuiert, die gleiche Anzahl in den Asow-Stahl. Es gelang ihnen sogar, materielltechnische und medizinische Sicherstellung auszulagern. Am neuen Standort richteten sie einen Operationssaal ein. Die Bedingungen waren sehr schwierig, und es fehlte an Medikamenten. Die Ärzte schliefen 30–40 Minuten am Stück. 

„Anfang April waren wir umzingelt. Wäre das nicht passiert, hätten wir die Verwundeten vielleicht irgendwie herausholen und nach Saporischschja oder in eine nahe gelegene Stadt evakuieren können“, erinnert sich Kateryna.

Es gab drei Durchbruchsversuche, aber die Russen begannen sofort, den Konvoi mit den Verwundeten mit allem, was sie hatten, zu schießen: Artillerie und Flugzeuge. Auf ein weißes Betttuch schrieben sie mit grüner Farbe die Zahl „300“ — also Verwundete — aber das war den Russen egal.

...Und dann kamen die Invasoren. Der Feind hält sich nicht an die Regeln für die Behandlung von Gefangenen. Laut Kateryna Skopina wurden zuerst die gesunden männlichen Militärangehörige abtransportiert. Danach folgten die schwer Verwundeten und Bettlägerigen. Die weiblichen Militärangehörige waren die letzten, die gefangen genommen wurden.

IN DER GEFANGENSCHAFT IST ES SEHR WICHTIG, NICHT DAS ZU TUN, WOZU MAN GEZWUNGEN WIRD

Zurück in Mariupol wurden die Gefangenen zunächst in zwei Hangars untergebracht und sie mussten auf dem Boden schlafen. In einem Raum befanden sich etwa 700 Menschen, im anderen ein halbes Tausend.

„Ich habe mich bei den Verwundeten gelegt“, erinnert sich Kateryna, „und ich habe gesehen, dass einige der Gefangenen nur um sich selbst besorgt haben. Ich habe gedacht, dass wir die Gefangenschaft auf diesem Weg bestimmt nicht überleben würden. In Oleniwka (im Gefängnis, wo später Dutzende von Asow-Stahl-Verteidigern heimtückisch getötet wurden. Das Verbrechen wird noch nicht aufgeklärt. Der Feind ließ keine UN-Vertreter dorthin – Anm. d. Red.) Insgesamt gab es 82 weibliche Kriegsgefangene. Wir, 11 von uns, waren in einer Doppelzelle untergebracht. Eine meiner Untergebenen war nicht da, also habe ich nach ihr gefragt. Die Antwort war, dass ich nicht Bambule machen solle, denn sie haben uns bereits entgegengekommen, und wir sind zusammen untergebracht worden. Es war furchtbar, wie sie uns in dieser, weiß ich nicht, Kolonie oder in diesem Gefängnis gehalten haben. Es gab keinen Hinweis auf die Einhaltung der Genfer Konvention über die Behandlung der Kriegsgefangenen.“

Das Essen war schlecht oder sehr schlecht. In Taganrog, wohin die Mariupol-Gefangenen nach Oleniwka gebracht wurden, bekamen sie eine Suppe aus Kartoffel-, Karotten- und Zwiebelschalen. Etwas mehr oder weniger Essbares scheint es in Walujki in der Oblast Belgorod gegeben zu haben (dies sind übrigens die historischen Gebiete von Sloboda-Ukraine), aber die Portionen waren winzig.

Ein weiteres Problem ist das einfache Baden. Raschisten verstehen nicht, dass im 21. Jahrhundert nicht jeder damit einverstanden ist, dies in einer Gemeinschaftsdusche mit kaltem Wasser zu tun und sich die Haare mit Waschseife zu waschen, die die Haare in Stroh verwandelt. Die ukrainischen Frauen sind jedoch in der Lage, sich selbst unter solchen Bedingungen so gut wie möglich zu pflegen. Selbst mit ihren langen Haaren bekam Kateryna Skopina keine Läuse, die Gefangene in russischen Haftanstalten häufig befallen.

Es ist sehr wichtig, in der Gefangenschaft nicht so weit zu gehen, dass man um einer Zigarette willen gezwungen ist, alles zu sagen, was der Feind hören will. Zum Beispiel über die Ukraine. Um nicht wehgetan oder mißhandelt zu werden, einige Leute zustimmten und sich alles ausdachten. Für einen Soldaten ist das inakzeptabel, selbst in der Gefangenschaft, sage Leutnantin Skopina.

„Ich habe die Mädchen verteidigt, weil alle sehr verängstigt waren. Als ich nachts in die Zelle in Taganrog gebracht wurde, hat eine der Frauen mir mit einer Geste zu verstehen gegeben, dass ich still sein solle, und mir gesagt, ich solle... die russische Hymne lernen, weil sie mich am Morgen fragen würden. Ich lehnte ab, ich brauchte ihre Hymne nicht. Dann zeigte sie mir: „Bist du verrückt? Lerne sie, oder...“ Doch das brachte Kateryna nicht dazu, ihre Offizierswürde zu verlieren, d.h. über das Mutterland, über die Ukrainer, über den Präsidenten (ein bezeichnendes Detail, nicht wahr? – Anm. d. Red.) Obszönitäten zu schreien. „Ich bin eine Offizierin. Wie können Sie sich vorstellen, dass ich solche Dinge schreie und alle mir nachschreien werden?“

...Nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft wird mit jedem Gefangenen ein Lügendetektor eingesetzt, um zu überprüfen, ob er oder sie in der Gefangenschaft rekrutiert wurde. Kateryna schämt sich für gar nichts. Es gibt auch andere weibliche Offiziere, die sich nicht schämen. Es gibt nur wenige andere, aber auch die gibt es.

KATERYNA WURDE ZUR RÜCKKEHR IHRES MANNES VOM GESAMTEN OBUS GRATULIERT

Vor ihrer Gefangennahme, bis zum 12. April, versuchte Kateryna, mit ihrem Mann in Kontakt zu bleiben. Es gelang ihnen sogar, im selben Bus von Mariupol nach Oleniwka zu fahren. Und in Taganrog erfuhr sie, dass ihr Mann von dort weggebracht wurde. Doch ihre Hoffnung, dass auch er zu einem Austausch gehen würde, erfüllte sich nicht. Ihor wurde irgendwo tief in Russland verschleppt.

Ihor Dmytrykowskyj wurde am 26. April zurückgebracht. Die Frau erhielt während der Fahrt in einem Obus einen Glücksanruf von einer ihr unbekannten Nummer. Zunächst klärte die Stimme auf: „Kateryna Jewhenijiwna, wo sind Sie?“ Sie begann zu erklären, dass sie sehr bald an ihrem Arbeitsplatz sein würde. Und die Antwort war: „Hast du mich nicht erkannt?“ Kateryna brach in Tränen aus und aktivierte den Lautsprecher. Die Fahrgäste, Fremde, umarmten sie und gratulierten ihr zur Rückkehr ihres Geliebten...

Gleich am nächsten Tag brachte Kateryna Ihor eine Torte, um ihm zu seiner Rückkehr und zu den beiden Geburtstagen zu gratulieren, die er in der Gefangenschaft gefeiert hatte. „Ich bin Psychologin, also fragte ich meinen Mann, ob er bereit sei, mich zu treffen“, sagt sie, „Wir haben uns natürlich unterhalten. Aber dann wurde mir klar, dass ein Mensch in den ersten Tagen nach dem Erlebnis, wenn die Emotionen und die medizinischen Untersuchungen beginnen, noch nicht bereit ist, derselbe zu werden wie vorher. Deshalb rate ich als Psychologin allen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, sich etwa eine Woche nach der Rückkehr mit ihnen zu treffen, um die Beziehungen so schnell wie möglich zu normalisieren.“

...Die Familie – Kateryna, Ihor, Anna-Marija – baut jetzt „persönliche Brücken“, die Russland auf unmenschliche Weise zu zerstören versuchte. Sie werden auf jeden Fall wieder glücklich sein.

Walentyna Samtschenko, Kyjiw

Fotos von der Familie und von der Facebook-Seite von Dmytro Lubinets


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