Der deutsche Abgeordnete Roderich Kiesewetter gehört seit Beginn der großangelegten russischen Aggression zu den aktivsten Unterstützern der Ukraine. Er ist insbesondere ein konsequenter Befürworter der Lieferung von Taurus-Langstreckenraketen an Kyjiw.
Derzeit ist Kiesewetter Bundestagsabgeordneter und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses. Zuvor war er Offizier der Bundeswehr (Oberst a. D.), nahm an Missionen auf dem Balkan und in Afghanistan teil, arbeitete als Berater für den Europäischen Rat und das NATO-Hauptquartier in Europa (SHAPE) und ist Präsident des Reservistenverbandes der Bundeswehr. Aufgrund seiner eigenen Erfahrung weiß Kiesewetter genau, welche Art von Unterstützung Kyjiw benötigt und welche Hilfe Europa und Deutschland leisten könnten – vorausgesetzt, es besteht der politische Wille dazu.
Trotz seiner Mitgliedschaft in der Regierungspartei, der Christlich Demokratischen Union (CDU), zögert der Politiker nicht, auch Parteikollegen zu kritisieren, wenn es um Verzögerungen bei der Lieferung umfangreicherer Hilfe an die Ukraine geht.
Am Freitag, dem 12. September, traf Roderich Kiesewetter zu einem weiteren Besuch in Kyjiw ein. Zuvor beantwortete er Fragen von Ukrinform.
Herr Kiesewetter, Sie sind seit Beginn der russischen Vollinvasion 2022 bereits mehrfach in die Ukraine gereist. Wie oft insgesamt waren Sie seitdem vor Ort, und welche Regionen haben Sie besucht?
Ich war nun seit Beginn der russischen Vollinvasion 2022 neunmal in der Ukraine. In der Regel war ich in vor allem in der Stadt Kyjiw und im dazugehörigen Oblast, z.B. in Irpin und zwei Mal auch in Odesa und Umgebung.
Zielt dieser aktuelle Besuch vor allem auf ein Zeichen der Solidarität ab, oder verfolgen Sie auch konkrete politische oder sicherheitspolitische Anliegen? Können Sie uns etwas zum Programm sagen?
Ich verfolge immer auch konkrete sicherheitspolitische Anliegen. D.h. ich schaue mit gezielt z.B. Einheiten an, die Systeme bedienen wie z.B. Patriot, schaue mir Rüstungsunternehmen an und treffe mich mit Think Tanks und Politikern aus dem Bereich Militär, Sicherheit, Außenpolitik. Dabei habe ich einige enge Kontakte aufgebaut, die ich auch schon in Deutschland traf. Auch hochrangige Gesprächspartner wie der heutige Außenminister waren dabei. Bei meiner zweiten Reise mit dem damaligen Oppositionsführer Merz hatte ich die Ehre, auch Präsident Selenskyj zu sprechen. Kollegen aus dem Parlament aus den Bereichen Verteidigung, Außen und Energie treffe ich regelmäßig und parteiübergreifend. Darüber hinaus treffe ich mich mit zivilgesellschaftlichen Organisationen wie dem VeteransHub und Come Back Alive und Kontakten aus EU-Missionen wie Advisory Mission Ukraine, die über die Fortschritte bei Reformen berichten. Gelegenheit hatte ich auch häufiger, mich mit Kommandeuren und Militärs sowie Soldaten auszutauschen und in diesem Zuge habe ich auch das Grab eines gefallenen Kommandeurs besucht. Mein Anliegen ist dabei nicht nur Solidarität auszudrücken, sondern vor allem von dem starken Willen und der militärischen und technischen Stärke der Ukraine die richtigen Schlüsse zu ziehen. Es ist klar, dass wir wissen müssen, welche Systeme konkret benötigt werden, damit die Ukraine sich effektiver gegen die russischen Aggressor-Truppen verteidigen und die kriegsrelevanten Ziele auch in Russland ausschalten kann. Dieses Wissen kann ich dann nach Deutschland transportieren und entsprechend öffentlich und gegenüber der Regierung argumentieren und Forderungen stellen. Mir ist aber auch wichtig, dass ich mit vielen Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch komme. Das gelingt sehr gut, weil ich in der Regel mit den gewöhnlichen Zügen, mit Bolt und auch ab und an mit dem Flixbus fahre. Meinen ukrainischen Gesprächspartnern kann ich hingegen einige Einschätzungen zur deutschen Regierung und zu handelnden Akteuren geben, damit sie ihre Anliegen dort besser platzieren können. Sehr bewegend waren Gespräche mit Anwältinnen und Menschenrechtsaktivisten, die sich um Opfer in temporär besetzten Gebieten kümmern.

In der vergangenen Woche tagte die "Koalition der Willigen". Es wird weiterhin über militärische Unterstützung gesprochen, jedoch nur zögerlich über Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Sie selbst betonten mehrfach, dass eine „glaubwürdige und substanzielle militärische Unterstützung“ oberste Priorität für Europas Sicherheitspolitik habe. Wird es Ihrer Meinung nach nicht zu spät sein, über Sicherheitsgarantien erst nach einem möglichen Waffenstillstand zu sprechen? Und wie könnten solche Garantien konkret aussehen?
Es ist immer sinnvoll in Szenarien zu denken und Handlungsoptionen vorzubereiten, auch jetzt schon. Doch Russland hat kein Interesse an einem Waffenstillstand oder Frieden, nur ein Interesse, uns zu spalten und zu verunsichern. Es gilt deshalb bei öffentlichen Diskussionen über Truppen – die eine solche Sicherheitszusage wäre, grundsätzlich zu differenzieren, ob es sich um Truppen handelt, die einen Waffenstillstand absichern oder um Truppen, die einen dauerhaften Frieden absichern - Anzahl und Auftrag der Truppen wäre dann unterschiedlich. Beide Szenarien sind aktuell völlig unrealistisch. Dennoch ist es wichtig, konkrete Planungen im Hintergrund ohne öffentliches Zerreden zu Stationierungen und zum Beitrag europäischer Nationen zu machen. Ein Beitrag der USA gerade bei strategischen Fähigkeiten wie satellitengestützter Aufklärung wäre für Europa wichtig, ist aber nicht mehr selbstverständlich. Die Koalition der Willigen traf sich bereits unter Kanzler Scholz, um konkrete Beiträge mit Truppen, die Art eines Mandats sowie den nötigen Beitrag der USA insbesondere bei sog. „Enabler“ zu besprechen. Auch wenn ein Waffenstillstand oder ein Friedensschluss aktuell völlig unrealistisch sind, eine wesentliche Voraussetzung ist, dass im Rahmen von Sicherheitszusagen, die Europäer eigene Truppen in der Ukraine stationieren. Europa darf diese nicht anderen Weltregionen überlassen, denn die Zukunft Europas steht auf dem Spiel. Dazu muss es zuvor Planungen und Szenarien geben – möglichst ohne große hysterische, undifferenzierte und polemisierende öffentliche Debatten in Deutschland. Solche internen Planungen sind im Militär das Normalste der Welt. Deutschland muss und kann sich als wirtschaftsstärkstes Land in Europa in einem solchen Fall definitiv beteiligen. Für die Ukraine gibt es letztlich nur eine wirklich verlässliche Sicherheitszusage: die Vollmitgliedschaft in der NATO. Mit dieser wäre es auch wesentlich effizienter und einfacher, die ukrainische Armee in NATO-Planungen und -Stationierungen zu integrieren. Denn auch nach einem Frieden oder während eines Waffenstillstands ist die Abschreckung und die Eindämmung von Russland wichtig. Sicherheit kann es weiterhin nur gegen Russland geben. Für die Ukraine ist aktuell die eigene Armee die verlässlichste Sicherheitsgarantie, denn sie hält den Aggressor Russland entschlossen auf. Wichtiger als öffentlich über Truppen zu spekulieren ist es jedoch, die Ukraine in die Lage zu versetzen, dass sie das Momentum zurückgewinnt und ihr Land befreien kann. Das muss also Priorität sein. Statt sie in Pseudo-Verhandlungen oder in ein Diktat zu drängen, ist es wesentlich wichtiger, dass die Europäer ihre militärische und finanzielle Unterstützung erhöhen, z.B. durch Freigabe der eingefrorenen russischen Vermögen, die Lieferung von weitreichende Präzisionswaffen wie Taurus und die Übernahme der Luftverteidigung über Teilen der Ukraine. Ziel muss sein, dass die Ukraine Mitglied von EU und NATO ist und Russland das Existenzrecht all seiner Nachbarstaaten bedingungslos anerkennen muss.

Eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine steht derzeit nicht unmittelbar zur Debatte. Dennoch wächst international der Druck auf Präsident Selenskyj, Kompromisse einzugehen. Trotz aller Beteuerungen, dass ein Frieden nicht auf Kosten ukrainischer Souveränität geschlossen werden darf – befürchten Sie eine Art „schleichende Münchener Konferenz 2.0“?
Ich befürchte, dass es zu einem Münchener Abkommen 2.0 oder einer Aufgabe der Ukraine durch einige Partner kommen kann. Präsident Selenskyj wird auch von Teilen der Europäer, die bei Trump waren, immer mehr in eine Erpressungssituation gedrängt, in ein russisches Diktat gedrängt. Dem wird er hoffentlich nicht zustimmen, denn die freie Bündniswahl ist ein zentraler Punkt staatlicher Souveränität und essenzieller Teil für dauerhafte Sicherheit der Ukraine. Außerdem ist die Ukraine ein enormer Gewinn für die NATO, d.h. die Mitgliedschaft der Ukraine ist in unserem eigenen Interesse. Die NB8 nehme ich davon explizit aus, denn sie unterstützen die Ukraine mit ganzer Kraft. Gleich welche Lösung gefunden wird, die Ukraine muss Mitglied in EU und NATO werden können und darf nicht zu Gebietsabtretungen gezwungen werden.
Die CDU hat in der Oppositionsrolle wiederholt die damalige Bundesregierung für zögerliche Militärhilfe kritisiert. Wie beurteilen Sie die derzeitige Regierung: Handelt sie entschlossener, oder sehen Sie weiterhin Defizite?
Leider handelt sie überhaupt nicht entschlossener und ich habe ehrlicherweise weiterhin dieselben Kritikpunkte. Die Bundesregierung hat ja von Beginn an klargestellt, dass sie bei der Unterstützung der Ukraine auf Kontinuität setzen wird. Es gibt also kein geändertes Ziel der Unterstützung und auch keine geänderte Strategie. Man bleibt bei der Formel, dass die Ukraine nicht verlieren und Russland nicht gewinnen soll, beschränkt sich auf „zu spät und zu wenig“ und fokussiert auf einen Verteidigungskampf. Insofern ist damit zu rechnen, dass wie bisher zu spät, zu wenig und dass bestimmte Dinge wie weitreichende Präzisionswaffen wie Taurus nicht geliefert werden, die z.B. durch die SPD ausgeschlossen wurden. Wir bewegen uns bei der militärischen Unterstützung gemessen am BIP weiterhin weit hinter den nordischen und baltischen Staaten, was ich für einen strategischen Fehler halte, denn gerade die militärische Unterstützung für die Ukraine ist ja von der Schuldenbremse ausgenommen durch die Grundgesetzänderung. Deshalb muss die Bundesregierung deutlich mehr tun und liefern sowie Mittel freimachen, die als finanzielle Unterstützung in die Rüstungsproduktion der Ukraine fließen. Das liegt in unserem Eigeninteresse, denn die Ukraine schützt auch Deutschland. Es ist deshalb weiter unterlassene Hilfeleistung, denn Deutschland könnte viel mehr – tut es jedoch nicht. Insbesondere zögert die Regierung weiter bei Taurus, bei taktischen Angriffen im russischen Gebiet, bei Sanktionen gegen Russland und bei der Freigabe russischer Vermögenswerte an die Ukraine.
Bundeskanzler Merz und andere Spitzenpolitiker der Koalition lehnen bislang die Entsendung deutscher Soldaten als Peacekeeper in die Ukraine ab – zumindest entsteht dieser Eindruck. Falls ein solcher Schritt vom Bundeskanzleramt doch vorgeschlagen würde, halten Sie es für realistisch, dass der Bundestag zustimmt?
Ich halte das für realistisch, wenn eine solche Entscheidung, die ja jetzt schon absehbar ist, strategisch vorbereitet und kommuniziert wird. Es ist die Aufgabe des Kanzlers Mehrheiten für strategisch wichtige Entscheidungen zu finden und das Parlament zu überzeugen. Das ist dann wesentlich einfacher, wenn es zuvor nicht ausgeschlossen wurde und dann der Kanzler sich zu einer 180-Grad-Wende gezwungen sieht. Deshalb halte ich die vom Kanzler betriebene Ausschließerities für unklug. Doch grundsätzlich liegt es in unserem deutschen Interesse, dass ein Waffenstillstand oder gar ein Frieden robust gesichert wird und dauerhaft ist. Das geht nur mit Truppen und da muss Deutschland einen Beitrag leisten, es geht hier auch um unsere Sicherheit. Denn es geht hier um unsere Zukunft in Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung. Ich bin sicher, dass ein starker Kanzler, der seine Führungsverantwortung ernst nimmt, die Kraft haben muss, eine Mehrheit im Parlament zu überzeugen.
Ist die Debatte um eine mögliche Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern aus Ihrer Sicht nun endgültig abgeschlossen? Oder erwarten Sie, dass die Diskussion erneut aufflammt?
Die Diskussion wird immer wieder aufflammen, bis Deutschland endlich das Richtige tut und Taurus liefert. Bis dahin muss die Bundesregierung damit rechnen, dass ihr immer wieder der Spiegel vorgehalten wird. Es gibt nämlich weiter weder technische noch rechtliche Gründe, die gegen die Lieferung sprechen – es bleibt eine Frage des politischen Willens. So lange der nicht vorhanden ist, worauf die Aussagen z.B. des Verteidigungsministers hinweisen, wird es jedoch keine Lieferung geben. Aus politischer Sicht ist das fatal, denn die Lieferung von Taurus ist in unserem Sicherheitsinteresse, da das System effektiv zur Verteidigung und Stabilisierung der Ukraine beitragen kann.
Sie sagten einmal, dass sich „Europas Zukunft in der Ukraine entscheidet“. Was genau meinen Sie damit? Und warum ist Ihnen das Schicksal der Ukraine persönlich so wichtig? (Vielen Dank dafür!)
In der Ukraine wird sich entscheiden, ob sich in Europa eine russische Einflusszone ausweitet und das Recht des Stärkeren Einzug erhält oder ob die Stärke des Rechts, und das Freiheitsstreben der demokratischen Völker obsiegen. Wenn wir also die Ukraine im Stich lassen, dann macht sich Europa und seine Werte unglaubwürdig und die Gefahr wächst, dass Russland den Krieg ausweitet. Persönlich macht es mich tief betroffen, dass Nazi-Deutschland acht Millionen Ukrainer ermordet hat und Deutschland heute diesem angegriffenen Land zu wenig hilft. Ich habe so viele starke Ukrainer kennengelernt, die bereit sind so große Opfer zu bringen, für ihre Freiheit, aber auch für unsere hier in Deutschland. Dieser Freiheitskampf darf nicht erfolglos sein. Wenn Russland jedoch obsiegt, wird sich Terror, russische Diktatur und Unterdrückung weiter ausbreiten. Ich bin in Sorge, dass einige europäische Staaten die Ukraine zu Gebietsabtretungen drängen, weil sie glauben, dass Russland dann Ruhe gibt – ein Fehlurteil!

Als ehemaliger NATO-Offizier haben Sie sicher auch die Militärparade in Peking genau verfolgt. Welche Signale sehen Sie in der Zusammenarbeit der Achse Russland–China–Iran–Nordkorea? Verfügt Europa Ihrer Einschätzung nach über eine gemeinsame strategische Antwort auf diese wachsende Bedrohung?
Wir sehen das die CRINK-Staaten eine enorme militärische und geoökonomische Lastenteilung betreiben und ihre Kooperation festigen. Auch Indien rückt immer näher an die Allianz, auch weil die USA als Ordnungsmacht ein Totalausfall sind und selbst ins Team Multipolarität gewechselt sind. Russland hat deshalb aktuell die besseren Unterstützer für seinen Vernichtungskrieg. Europa hat bislang keine gemeinsame strategische Antwort auf die Bedrohung durch CRINK. Diese würde eine geoökonomische Abschreckung benötigen insbesondere auch gegen China, und ein Aufwuchs an Smart Power, wobei mit dem Anwerfen der europäischen Rüstungsindustrie begonnen werden müsste. Hier sehe ich keine Anzeichen, sondern ein Verstreichen wertvoller Zeit.
Kann und sollte Deutschland eine Führungsrolle im europäischen Pfeiler der NATO übernehmen? Und ist die Reaktion auf hybride Bedrohungen – etwa durch Desinformation, Sabotage oder Einflussoperationen – nicht immer noch zu zaghaft?
Deutschland muss eine Führungs- und Scharnierfunktion im europäischen Pfeiler der NATO übernehmen. Deutschland ist das wirtschaftsstärkste Land und Logistik-Drehscheibe und damit auch das Zünglein an der Waage! Doch uns fehlt das Mindset, um diese Führungsrolle wirklich auszufüllen. Hier sollten wir uns an den nordischen und baltischen Staaten orientieren. Deutschland hätte längst den Spannungsfall erklären müssen, um effektiv gegen hybride Angriffe, Spionage und Sabotage und Einflussoperationen vorzugehen – doch bislang wählt Deutschland das Prinzip „Strategische Blindheit“ und wartet ab ohne zu handeln. Doch die Zeit spielt immer für Russland.
Olha Tanasijtschuk, Berlin