Österreich hat erneut seine Bereitschaft erklärt, als Verhandlungsort für eine friedliche Beilegung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine zu dienen. Wird Putin nach Wien kommen? Abgeordneter der österreichischen Grünen David Stögmüller schließt auch ein solches Szenario nicht aus – schließlich sei es für den Kreml-Kriegsverbrecher nun wichtig, sich als „Friedensstifter“ zu inszenieren, weshalb eine solche „Show“ möglich sei. Gleichzeitig ist Stögmüller überzeugt, dass Putin in Wahrheit kein Interesse am Frieden hat, sondern weiterhin seine absurden imperialen Ambitionen verfolgt.
Daher, so der sicherheitspolitische Sprecher der Grünen, werde Russland stets eine Bedrohung für Europa darstellen. Er ist der Meinung, dass zwar heute viele diese Realität anerkennen, doch manche noch immer nicht begreifen wollen, dass es in der Ukraine nicht nur um „Putins Krieg“ geht – und dass sich mit dem Tod des russischen Diktators möglicherweise gar nichts ändern würde.
Was Österreich betrifft, so hat das Land nach dem groß angelegten Angriff Russlands sein Verteidigungsbudget deutlich erhöht und neue militärische Fähigkeiten aufgebaut, unter anderem durch den Beitritt zur gesamteuropäischen Luftverteidigungsinitiative „Sky Shield“. Gleichzeitig bleibt die Neutralität, die den Österreicher:innen ursprünglich auferlegt und später Teil ihrer Identität wurde, eine „heilige Kuh“. Nach Ansicht Stögmüllers hat sich die Diskussion über die Neutralität zwar „etwas bewegt, bleibt aber sehr zurückhaltend“ – ernsthaft werde man sich damit wohl erst dann befassen, „wenn tatsächlich eine Rakete in Österreich einschlüge“.
Im Interview mit dem Ukrinform-Korrespondenten kommentierte das Mitglied des Nationalrats David Stögmüller die anhaltenden diplomatischen Bemühungen zur Beendigung der russischen Aggression gegen die Ukraine, deren Auswirkungen auf die österreichische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, schilderte seine Eindrücke von Reisen in die Ukraine und sprach über die Initiative zur Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Aufklärung des russischen Einflusses in Österreich.
Donald Trump setzt sich derzeit dafür ein, ein Treffen zwischen Präsident Selenskyj und Putin zu organisieren. Österreich hat seine Bereitschaft signalisiert, als Gastgeber zu fungieren. Glauben Sie, dass Putin nach Wien kommen würde?
Bezüglich eines möglichen Treffens zwischen Putin, Selenskyj und eventuell auch Trump: Ich hätte nicht geglaubt, dass Trump und Putin gemeinsam in Alaska auftreten – und doch ist es geschehen. Daher halte ich es durchaus für möglich, dass Putin einem Treffen mit Selenskyj und Trump zustimmt. Warum? Weil es um die Show geht.
Das ist das Problem: Putin ist weltweit geächtet. Doch Trump hofiert ihn nun wieder. Für Putin ist das die Bühne, auf die er lange gewartet hat. Er kann sich nicht mehr nur als Kriegsverbrecher, sondern als vermeintlicher Friedensbringer darstellen.
Genau dieses Narrativ wird jetzt bedient – sowohl im russischen als auch im Trump-Lager: Trump bringt Frieden, Putin will ja nur Frieden. Und genau darin liegt die Gefahr.
Die entscheidende Frage ist, wie sich Trump verhält. Es hängt sehr viel von ihm ab. Und genau das macht die Situation so unvorhersehbar: Wir wissen nicht, was Trump will und was er tatsächlich vorhat.
Aber ist Putin überhaupt an Frieden interessiert?
Natürlich nicht. Die anhaltenden massiven Luftangriffe auf ukrainische Städte sind ein klares Zeichen dafür. Russland hat vielmehr das Ziel, ein neues Imperium aufzubauen – völliger Wahnsinn.
Wir dürfen uns niemals in Sicherheit wiegen. Russland will seine Macht zurück und seine imperialen Fantasien ausleben. Doch es hat sich massiv verkalkuliert – vor allem mit dem Wehrwillen der Ukrainer. Moskau hat die Wehrbereitschaft und Geschlossenheit der Ukraine unterschätzt: Bevölkerung, Politik, Präsident und Regierung stehen geeint in diesem Kampf.

Falls Putin sich weigert, den Krieg zu beenden – sollte man weitere Sanktionen verhängen? Und was würde Putins Kriegsmaschinerie am härtesten treffen?
Natürlich müssen die Sanktionen verschärft werden. Die Europäische Union plant ein neues Paket – das ist gut, aber es reicht nicht. Man müsste konsequent sicherstellen, dass das Vermögen der Russen für den Wiederaufbau der Ukraine verwendet wird.
Zudem darf kein Geld mehr für Rohstoffe nach Russland fließen: weg vom Erdgas, weg vom Öl, weg von allen Ressourcen. Es ist auch inakzeptabel, dass heute mehr Erdgas importiert wird als zuvor. Flüssiggas bleibt russisches Gas – egal in welcher Form – und darf nicht mehr bezogen werden. Auch russisches Öl bleibt ein Problem.
Überall, wo Russland als Lieferant eine Rolle spielt, müssen Importe wie Exporte beendet werden. Strenge Regeln, klare Kriterien und konsequente Entkopplung von russischen Rohstoffen sind notwendig. Gleichzeitig muss genau beobachtet werden, wie Russland Einnahmen über China, Indien und andere Partner erzielt, auch dort sind Sanktionen erforderlich, um die russische Kriegsmaschinerie nachhaltig zu schwächen. Sanktionen müssen echte Sanktionen gegen Russland und seine Verbündeten sein.
Was mich besonders ärgert, ist, dass Russen nach wie vor relativ ungehindert nach Europa einreisen und hier Urlaub machen können. Ich finde, das sollte man klar einschränken. Europa müsste deutlich signalisieren: Ihr seid hier unerwünscht.
Zu den Sanktionen: Es gab Fälle, in denen österreichische Unternehmen trotz Sanktionen weiterhin mit Russland zusammenarbeiteten. Sehen Sie hier ein systemisches Problem mangelnder staatlicher Kontrolle?
Da gibt es zwei Punkte. Erstens: eine gewisse Russlandfreundlichkeit in Österreich. Es gibt Organisationen, Vereine, Firmen, die gerne mit Russland Geschäfte machen – dort ließ sich viel Geld verdienen. Zweitens: wir haben in Österreich zu lasche Regelungen bei der Ausfuhr von Dual-Use-Gütern. Ein Beispiel: Zielfernrohre einer Swarovski-Tochter wurden offiziell als Sportoptiken deklariert und bis 2022 – vermutlich sogar später – nach Russland geliefert. Diese Produkte tauchten nachweislich in der Ukraine auf. Dass so etwas möglich war und nur durch Zufall aufgedeckt wurde, ist ein Skandal. Erst durch meine Nachfrage wurde es öffentlich.
Braucht es strengere Gesetze?
Nein, die Gesetze an sich sind ausreichend. Was fehlt, sind klare Richtlinien, konsequente Kontrollen und harte Strafen. Solange Unternehmen wie Swarovski keine Sanktionen zu befürchten haben, machen sie weiter – sie liefern und verdienen. Offenbar gibt es dort auch eine gewisse Nähe zu Russland.
Und was ist Ihre Haltung dazu, dass Raiffeisen noch in Russland tätig ist?
Das ist eine Schande für Österreich und seinen Wirtschaftsstandort. Ich verstehe es wirtschaftlich, dass es für die Raiffeisenbank ein Geschäft ist und sie Schwierigkeiten hat, sich zurückzuziehen. Aber sie hatte lange genug Zeit, dies zu tun. Jetzt ist sie einer der großen Profiteure, macht Milliarden und kauft Vermögenswerte in Russland. Das schadet Österreich.
Im Zuge der anhaltenden internationalen Bemühungen um eine friedliche Lösung ist ein wesentlicher Aspekt der Diskussion die Gewährleistung von Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Welche Garantien sollten Ihrer Meinung nach diese sein?
Als österreichische Grüne sagen wir klar: Die Zukunft der Ukraine liegt in der Europäischen Union. Nur eine gemeinsame Zukunft in der EU kann nachhaltige Sicherheit gewährleisten.
Es wäre nicht angemessen, wenn Österreich fordern würde, dass die Ukraine in die NATO muss. Wir sind selbst nicht Mitglied, also steht uns das nicht zu. Natürlich können wir nicht entscheiden, wer Mitglied der NATO wird. Aber entscheidend ist die EU – dort liegt die realistische Zukunft der Ukraine.
Unterstützen Sie die Eröffnung des ersten Verhandlungskapitels?
Ja, wir setzen uns entschieden dafür ein, dass die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine rasch beginnen. Wir befürworten generell die Erweiterung der EU um die Westbalkan-Staaten und möchten, dass auch die Ukraine Teil der Union wird.
Dafür sind erhebliche Anstrengungen nötig, insbesondere im Bereich Justizreformen und Korruptionsbekämpfung. Die Ukraine hat jedoch bereits große Fortschritte erzielt. Besonders wichtig war die Ratifikation des Römischen Statuts – ein Schritt in die richtige Richtung.
Ich bin dafür, dass die Ukraine so schnell wie möglich integriert wird, denn nachhaltiger Frieden ist nur möglich, wenn sie Teil der EU ist.
Dabei ist die europäische Einigkeit nicht so monolithisch, wie man es sich wünschen würde – mit Regierungschefs wie Viktor Orbán und Robert Fico, die die gemeinsame Linie torpedieren. Wie beurteilen Sie deren Positionen?
Das ist eines der Grundprobleme der Europäischen Union, aber gleichzeitig auch eine ihrer Stärken: die Vielfalt. Natürlich ist es schwierig, wenn einzelne Länder ausscheren.
Wir haben Orbán, Fico, dazu Unsicherheiten in Tschechien – man weiß nicht, wie es mit Babiš weitergeht. Tschechien war immer ein Befürworter der Ukraine, aber wie es in Zukunft sein wird, bleibt offen. Babiš ist ein Populist, niemand weiß, wie er sich verhalten würde, falls er wieder in die Verantwortung kommt.
Trotzdem ist das Signal eindeutig, auch nach dem Treffen in Washington: Europa steht an der Seite der Ukraine. Die EU weiß, dass die Ukraine an die Union herangeführt werden muss.
Aber zuerst braucht es Frieden – im Sinne von: Russland muss diesen Krieg endlich beenden. Und dann müssen wir die Ukraine konsequent an die EU heranführen.
Was Orbán betrifft: Er teilt eine Ideologie mit Putin, die auf Großmachtfantasien basiert. Orbán träumt von einem „Großungarn“, ähnlich wie Putin von einem „Großrussland“. Beides ist absurd. Diese Ideologie eint sie. Doch ich glaube, Orbán ist irgendwann Geschichte. Schon jetzt bewegt sich etwas. Er ist nicht nur gegen die Ukraine, sondern verstößt auch gegen europäische Werte. In Österreich – mit Ausnahme der FPÖ – ist niemand ein Freund von Orbán. Und ich bin überzeugt, dass er die nächste Wahl nicht übersteht.
Die Menschen in Ungarn wollen einen Wechsel. Schauen Sie auf die Wirtschaft, den Ruf des Landes, die Tourismuszahlen – alles geht bergab, und das liegt an Orbán. Deshalb glaube ich fest: bei der nächsten Wahl ist er Geschichte.

Wie hat sich die österreichische Sicherheits- und Verteidigungspolitik seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verändert?
Wir haben begonnen, deutlich mehr Geld ins Bundesheer zu investieren. Das Budget soll bis 2032 auf 2 % des BIP steigen, nachdem es zuvor nur 0,66 % betrug – ein äußerst niedriger Wert. Damit werden Investitionen möglich, auch wenn Österreich insgesamt sparen muss. In Zeiten neuer Bedrohungen ist das jedoch unvermeidlich.
Russland galt vor dem Krieg in der österreichischen Sicherheitsstrategie noch als „strategischer Partner“ – was völlig absurd war. Diese Passage haben wir Grünen gestrichen. Eine enge Kooperation mit Russland gab es allerdings nie, weder gemeinsame Übungen noch bilaterale militärische Abkommen. Mit den USA hingegen existieren Vereinbarungen und gemeinsame Trainings. Schon der Gedanke an eine Partnerschaft mit Russland war befremdlich und zeigt, wie lange Österreich blind war – und zum Teil noch ist.
Wir investieren nun stärker in neue Fähigkeiten, auch in Projekte wie Sky Shield. Die Idee ist sinnvoll, doch die Umsetzung stockt.
Und wie hat der Krieg die Neutralitätsdebatte beeinflusst?
Die Diskussion hat sich etwas bewegt, bleibt aber sehr zurückhaltend. Viele Menschen scheuen davor zurück, tatsächlich etwas zu ändern. In Österreich gilt oft: Erst wenn etwas passiert, wird gehandelt. Eine ernsthafte Debatte über Neutralität würde wohl erst einsetzen, wenn tatsächlich eine Rakete in Österreich einschlüge. Bis dahin bleibt es bei Spekulationen und vereinzeltem Gerede im Hintergrund.
Der russische Angriff auf die Ukraine war also nicht genug?
Nein, vielen erscheint das zu weit entfernt. Österreich hat sich lange in Sicherheit gewiegt.
Warum ist Neutralität so stark Teil der österreichischen Identität geworden?
Weil Österreich nach 1955 dazu gezwungen wurde. Zugleich ist es eine Generationenfrage: Viele ältere Menschen hängen stark an der Neutralität, während sie für viele junge kaum Bedeutung hat. Für zahlreiche Bürger ist sie ein bequemer Weg, nichts zu tun – und deshalb letztlich gleichgültig.
Neutralität hat in Wirklichkeit noch nie jemanden geschützt. Sie bedeutet am Ende, sich zurückzulehnen und andere handeln zu lassen. Das Problem ist: Neutralität ist billig und bequem. Aber wirkliche Vorteile hat Neutralität heute nicht mehr. Internationale Verhandlungen finden längst nicht mehr in neutralen Ländern statt, sondern in Alaska, Oman oder in der Türkei. Auch das Treffen zwischen Trump und Putin fand weder in der Schweiz noch in Österreich statt.
Neutralität ist ein gemütlicher Faktor, letztlich „Trittbrettfahrerei“. Aber wer sich zurücklehnt, ist bei Entscheidungen nicht dabei – und wird irrelevant. Das ärgert mich. Österreich bräuchte mehr Mut. Doch wie gesagt: Bewegung entsteht erst, wenn etwas passiert. Mehr Mittel fürs Bundesheer gab es erst nach dem russischen Angriffskrieg. Eine tatsächliche Überwindung der Neutralität würde wohl erst folgen, wenn Österreich selbst direkt getroffen würde.

Und was denken Sie über einen NATO-Beitritt Österreichs? Wäre das in Zukunft realistisch?
Nein. Nicht, weil ich grundsätzlich gegen die NATO wäre, sondern weil ich glaube, dass die NATO große strukturelle Probleme hat. Die Frage lautet: Brauchen wir die NATO – und braucht die NATO uns? Ich setze vielmehr auf eine europäische Verteidigung. Die europäischen Staaten sollten sich nicht ausschließlich auf die NATO verlassen, sondern ihre eigene Verteidigung aufbauen.
Die NATO ist politisch in Europa präsent, strategisch aber zunehmend im Indo-Pazifik aktiv, zwischen Taiwan, China und anderen Ländern. Auf Europa richtet sie weniger Fokus. Auch im Russlands Krieg gegen die Ukraine spielt die NATO militärisch keine unmittelbare Rolle – entscheidend sind nationale Initiativen. Deshalb liegt die Zukunft für mich klar in der Europäischen Union.
Wir brauchen mehr Mittel, mehr Ausbildung und eine gemeinsame militärische Perspektive innerhalb der EU. Bislang gibt es nur die EU-Battlegroups – keine europäische Militärakademie, keine gemeinsame Armee. Doch das wäre die Zukunft. Ich wünsche mir, dass eines Tages Soldaten mit einem europäischen Wappen auftreten – nicht nur mit österreichischem oder deutschem. Ob man das dann „europäische NATO“ nennt, ist zweitrangig. Fast alle EU-Staaten sind ohnehin NATO-Mitglieder, außer Österreich, Irland und Zypern. Die eigentliche Aufgabe Österreichs wäre, die gemeinsame Verteidigungspolitik in der EU aktiv voranzubringen.
Wie sehen Sie die Rolle der Ukraine in diesem europäischen Verteidigungsrahmen?
Zunächst braucht es Frieden in der Ukraine und die Sicherung ihrer Stabilität. Danach sollte sie Mitglied der EU werden. Die Ukraine hätte eine der größten Armeen Europas, neben Polen, Deutschland und Frankreich. Gemeinsam ließe sich das weiterentwickeln.
Natürlich ist das Zukunftsmusik, aber es wäre ein enormer Gewinn. Die Ukraine verfügt heute über die meiste Kampferfahrung in Europa – ein entscheidender Vorteil für die europäische Verteidigung. Als großes Mitgliedsland der EU wäre die Ukraine ein Gewinn und zugleich ein starkes Signal an Putin.
Sie haben die Ukraine während des Krieges mehrfach besucht, zuletzt im Mai 2025 in Charkiw. Was hat Sie bei Ihren Besuchen am meisten bewegt?
In 2024 war ich in Kupjansk, drei Tage lang, also zwei Nächte. Besonders bewegend war, direkt mit Soldaten an der Front zu sprechen, mit ihnen zu übernachten und zu erleben, wie sie trotz ständiger Gefahr ihren Dienst tun. Viele sind sehr jung, einer erzählte mir nüchtern, er sei schon zweimal angeschossen worden. Erst wenn man mit ihnen spricht, begreift man wirklich, was dieser Krieg bedeutet.
Eindrücklich war auch, die Zivilbevölkerung in Charkiw zu sehen – Kinder, Familien, die nur 15 bis 30 Kilometer von der Front entfernt versuchen, ein normales Leben aufrechtzuerhalten: Unterricht in Kellern, Feste, Spaziergänge, während gleichzeitig Drohnen und Sirenen den Alltag begleiten.
Dieser Krieg wird die Ukraine dauerhaft verändern. Nach seinem Ende werden Rückkehr in den Alltag, psychologische Hilfe und Kriminalitätsprävention große Aufgaben sein. Erstaunlich ist aber: In Charkiw gibt es praktisch keine Kriminalität, und Hilfe wird unglaublich schnell organisiert – binnen Stunden sind Fenster repariert, Versorgung und Unterstützung gesichert. Das hat mich tief beeindruckt.
Konnten Sie Ihre Eindrücke im Parlament teilen? Gab es Reaktionen – insbesondere von der FPÖ, die sich weigert, die Ukraine zu besuchen?
Ich habe im Nationalrat einen überparteilichen „Ukraine-Roundtable“ gegründet und gezielt Kolleginnen und Kollegen angesprochen, die noch nie in der Ukraine waren. Viele Abgeordnete waren tief beeindruckt – für manche hat es alles verändert, weil sie die Realität mit eigenen Augen gesehen haben. Genau das bewirken solche Besuche.
Bei der FPÖ ist es sehr schwierig. Nicht alle sind offen russlandfreundlich, aber viele schweigen. Einheit gibt es eigentlich nur bei einem Thema: den Kindern. Einstimmig wurde beschlossen, ukrainische Kinder zu unterstützen und Mittel bereitzustellen – da stimmte auch die FPÖ zu. Ansonsten ist ihre Haltung politische Strategie. Ich kann nicht verstehen, wie man heute noch offen zu Russland stehen kann.
Bei Ihrem Besuch in der Ukraine sagten Sie: „Österreich darf sich nicht hinter der Neutralität verstecken. Die Menschen in der Ukraine verstehen nicht, warum Europa den Kopf in den Sand steckt.“ Welche humanitäre und nicht-letale Hilfe könnte Österreich zusätzlich leisten?
Humanitäre Hilfe ist ein Bereich, in dem Österreich relativ viel tun könnte, besonders bei Kinderhilfe. Etwa bei der Notversorgung von Opfern nach Drohnenangriffen oder bei der Entminung, die eine riesige Herausforderung darstellt. Auch psychologische Unterstützung wäre dringend nötig, vor allem für Kinder. Es gibt bereits Initiativen ukrainischer Abgeordneter, etwa Reha-Zentren am Schwarzen Meer, die Kindern Stabilität und Betreuung bieten.
Wichtig ist: Kinder nur zurückzuführen reicht nicht – sie brauchen Sicherheit und eine möglichst normale Kindheit. In Städten wie Charkiw ist das unmöglich, dort herrscht ständige Bedrohung. Deshalb braucht es sichere Regionen innerhalb der Ukraine. Österreich könnte solche psycho-sozialen Projekte gezielt fördern. Auch die unterirdischen Schulen, die wir uns vor Ort angesehen haben, sind eine großartige Initiative: Sie verbinden Schutz und Bildung.
Wäre eine Beteiligung Österreichs an einer EU-Mission zur Ausbildung ukrainischer Soldaten ein Bruch mit der Neutralität?
Aus meiner Sicht nicht – für manche vielleicht schon. Nach EU-Rechtslage wäre es jedoch sicher kein Bruch der Neutralität.
Russland führt neben dem heißen Krieg gegen die Ukraine auch eine hybride Kriegsführung gegen Europa: Cyberangriffe, Desinformation, Einfluss auf Parteien. Ist Österreich darauf ausreichend vorbereitet? In welchen Bereichen sehen Sie Österreich besonders verwundbar?
Österreich ist unzureichend vorbereitet. Besonders verwundbar sind wir bei Cyberangriffen – auf kritische Infrastrukturen, Mobilfunkanbieter oder Behörden. Unsere Cyberabwehr ist stark unterentwickelt; hier müssten wir deutlich mehr investieren.
Ein weiteres Problem ist die Spionage. Österreich bleibt hochgradig anfällig, insbesondere bei Wirtschafts- und Militärspionage. Nach wie vor erlaubt die Gesetzeslage, dass ausländische Staaten einander in Österreich ausspionieren dürfen – solange dies nicht unmittelbar den Interessen Österreichs widerspricht. Das ist innerhalb der EU eine Ausnahme und äußerst problematisch. Wir wollten das während unserer Regierungszeit ändern, doch die ÖVP blockierte. Bis heute gibt es keine neuen Initiativen, diese Gesetzeslücke zu schließen.

In Wien sind mehr als 200 russische Diplomaten stationiert, von denen viele Spione sein dürften. Wie stehen Sie zur Ausweisung russischer Diplomaten, die mutmaßlich Spione sind?
In Österreich ist das rechtlich schwierig. Man kann niemanden ausweisen, solange er nicht unmittelbar gegen österreichische Interessen verstößt.
Das bedeutet konkret: Selbst wenn ein russischer Spion einen ukrainischen Diplomaten ausspioniert, ist das in Österreich nicht automatisch ein Grund für eine Ausweisung. Die Rechtslage sieht vor, dass Personen nur dann ausgewiesen werden können, wenn dadurch österreichische Interessen verletzt werden. Den Diplomatenstatus zu entziehen, kommt noch wesentlich seltener vor.
Und wie stark war der russische Einfluss in Österreich vor dem Krieg und wie hat er sich seitdem verändert?
Der russische Einfluss in Österreich war vor dem Krieg auf mehreren Ebenen spürbar: politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich. Politisch und gesellschaftlich spielte die Österreichisch-Russische Freundschaftsgesellschaft eine große Rolle. Wirtschaftlich hatte vor allem die Raiffeisenbank Gewicht, ebenso zahlreiche Unternehmen, die von Geschäftsbeziehungen mit Russland profitierten, und auch der Tourismus war ein Faktor.
Viele europäische Staaten hofften, durch wirtschaftliche Nähe Russland kulturell, wirtschaftlich und politisch zu beeinflussen – ein Ansatz, der spätestens 2014 gescheitert war. Weder Putin noch die russische Gesellschaft wollten diesen Weg gehen, doch die Hoffnung auf Wandel hielt sich bis zum Angriff auf die Ukraine.
Heute erkennen viele die Realität, doch manche wollen immer noch nicht wahrhaben, dass der Krieg nicht nur „Putins Krieg“ ist. Ein erheblicher Teil der russischen Bevölkerung unterstützt den Angriffskrieg – manche aktiv, vielen ist es gleichgültig. Viele Russen sehen die Ukraine als minderwertig und teilen die Vorstellung, dass sie erobert werden müsse; andere profitieren wirtschaftlich vom Krieg. Ob der Tod Putins automatisch eine Verbesserung bringen würde, ist fraglich.
Ich weiß, dass Sie einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum russischen Einfluss in Österreich fordern. Was genau sollte untersucht werden? Und welche Chancen gibt es für die Errichtung dieses U-Ausschusses?
Ich halte einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum russischen Einfluss in Österreich für dringend notwendig. Jahrzehntelang existierte die Österreichisch-Russische Freundschaftsgesellschaft, geleitet von Florian Stermann als Generalsekretär. Darin waren hochrangige Persönlichkeiten aus allen Fraktionen vertreten, vor allem ÖVP und FPÖ, sowie zahlreiche Wirtschaftstreibende. Auch Jan Marsalek war beteiligt, mutmaßlicher russischer Spion mit einem großen Netzwerk in Österreich und Deutschland.
Die Freundschaftsgesellschaft nutzte Veranstaltungen, Empfänge und Reisen, um Politik und Wirtschaft zu beeinflussen, und war in Skandale wie Wirecard verstrickt. Für etwa 10.000 Euro konnte man „Ehrensenator“ werden, wurde hofiert, nach Moskau eingeladen und traf einflussreiche Persönlichkeiten. Je tiefer die Beteiligung, desto größer der Einfluss und die wirtschaftlichen Vorteile.
Wir müssen der Bevölkerung zeigen, was Russland wollte, was getan wurde und wie agiert wurde. Diese Freundschaftsgesellschaft hat das russische Narrativ in Österreich effektiv verbreitet und Strukturen im Land beeinflusst.
Für die Einsetzung des Untersuchungsausschusses ist ein Viertel der Abgeordneten des Nationalrats nötig. Das ist derzeit schwierig: Die NEOS waren zwar dafür, sind seit Regierungsbeteiligung jedoch zurückhaltend. Die SPÖ ist in Bezug auf den russischen Einfluss in Österreich verstrickt, insbesondere über frühere Verbindungen einzelner Spitzenpolitiker (z. B. Ex-Bundespräsident Heinz Fischer, Ex-Kanzler Alfred Gusenbauer). Die ÖVP ist ebenfalls betroffen, vor allem über OMV und Wirtschaftskammer, die kein Interesse an einem Ausschuss haben. Die FPÖ hatte einen Freundschaftsvertrag mit Putins Partei und würde niemals zustimmen. Trotz der Komplexität bleibt es notwendig, den Ausschuss voranzutreiben.
Ein solcher Ausschuss würde erstmals deutlich machen, welche Einflussnahmen verschiedene Staaten auf österreichische Strukturen ausüben. Es ist notwendig, aufzuzeigen, wie diese Freundschaftsgesellschaften arbeiten. Dabei handelt es sich nicht nur um russische, sondern auch um chinesische und andere, die jedoch weniger politisch aktiv sind.
Vasyl Korotkyi, WIEN.