Lloyd Axworthy, Leiter der kanadischen Wahlbeobachtungsmission in der Ukraine
Offenheit und Transparenz der ukrainischen Wahlen begeistern
16.05.2019 18:27

Zum Zeitpunkt der Durchführung der ersten und zweiten Wahlgänge der Präsidentschaftswahlen der Ukraine entsandte Kanada in unser Land rund 150 Beobachter. Durch ihre Anwesenheit und ihre täglichen Berichtserstattungen haben sie den ukrainischen Wahlen eine noch größere Legitimität in den Augen der internationalen Gemeinschaft zugefügt. Ihr unbefangener Seitenblick ermöglichte es auch, eine Reihe von Empfehlungen zur Verbesserung der künftigen Wahlen vorzubereiten.

Die Mission wurde vom ersten Tag an von dem bekannten kanadischen Politiker, dem ehemaligen Außenminister Lloyd Axworthy, geleitet, der seine große Erfahrung für die Organisation der effektiven Arbeit von Langzeit- und Kurzzeitbeobachtern genutzt hat. Herr Axworthy trat vor die Presse nach dem Ende seiner zweiten Reise in die Ukraine in diesem Jahr.

Herr Axworthy, welche Vorstellung von demokratischen Prozessen in der Ukraine haben Sie nach zwei Besuchen im Land während der Wahlen bekommen?

Zuerst möchte ich dem neu gewählten Präsidenten Selenskyj offiziell gratulieren. Zweifellos gewann er die Unterstützung eines Drittels der Bevölkerung und erhielt ein wahrhaft großes Mandat des Vertrauens. Jetzt wird er jedoch auch mit dem Problem der Befriedigung dieser Erwartungen konfrontiert sein, was die Entstehung interessanter „Rutschbahn“ bedingen wird. Wenn wir über die Wahlen selbst reden, waren in unserem Team „auf den Feldern“ ständig 150 Personen, die stündlich berichteten, sie nutzten ein elektronisches System, um verschiedene Charakteristiken zu notieren: ob Wahllokale eröffnet wurden, ob es Verstöße vorkamen usw. Insgesamt waren mehr als 95% der eingegangenen Berichte positiv. Ich persönlich habe am Wahltag mehrere Wahllokale besucht und mich von fleißigen Menschen inspirieren lassen, die die Umsetzung der Stimmrechte qualitativ gewährleisteten. Die Ukraine ist im Krieg, sie ist mit verschiedenen digitalen Informationseinmischungen konfrontiert und hat andere Probleme, wie Oligarchen oder mangelnde Transparenz bei Prozessen. Es gelang ihr jedoch, ein sehr gutes Wahlsystem zu schaffen, das zu mehr Vertrauen und Zuversicht beiträgt. Ich bin froh, dass sich Kanada dazu angeschlossen hat.

Warum sind Ihrer Meinung nach internationale Wahlbeobachtungsmissionen wichtig?

Mehr als 200 Kanadier haben sich auf der freiwilligen Grundlage auf die eine oder andere Weise an der Wahlbeobachtung in der Ukraine beteiligt. Die Menschen verließen Arbeit und Studium, um in ein anderes Land zu kommen und ein Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens während der Wahl zu geben. Es war sehr wertvoll. Solche Beobachtungsmissionen sind meiner Ansicht nach ein großartiger Weg für die Förderung der „zivilen Diplomatie“. Kanadier waren am Abstimmungsprozess in der Ukraine beteiligt und halfen bei der Lösung einiger Probleme. Nach dem Ende der Wahl und dem Machtantritt des neuen Präsidenten hat Kanada einen neuen Partner bekommen, mit dem es sich zu arbeiten lohnt. Es ist die Zeit, unsere Beziehung aufzufrischen. Es gibt Dinge, die man in der Ukraine umsetzen soll, um ihr zu helfen, den Impuls aufrechtzuerhalten.

Welche Aspekte der Abstimmung in der Ukraine haben Ihre Unzufriedenheit hervorgerufen?

Bei der Erhöhung der Beteiligung von Frauen an der Abstimmung wurden keine Fortschritte erzielt. Das Gender-Thema wurde von Gender- und LGBT-Organisationen im Allgemeinen überhaupt nicht im Detail erörtert. Im ukrainischen politischen Diskurs gibt es dafür derzeit keinen Platz. Aus Sicht der kanadischen Regierung muss in dieser Frage noch mehr getan werden. Wir haben auch Hindernisse auf dem Weg der Willensäußerung bei Binnenvertriebenen festgestellt, deren Zahl in der Ukraine eineinhalb Millionen beträgt. Die Zentralwahlkommission hat versucht, ihnen zu helfen, indem sie spezielle Wahllokale nahe der Krim und im Osten errichtet hat, aber die von Russen und ihren Freunden eingeführten strengen Regeln für die Überquerung der Kontaktlinie, haben viele Menschen abgeschreckt. Wir empfehlen diese beiden problematischen Themen vor den Parlamentswahlen zu lösen.

Welche Position hat die Mission bei der Arbeit der Medien während der Wahlen?

Die Unruhen hinsichtlich der Medienpolitik bestehen, und nicht nur aus kanadischer Sicht. Die meisten Medien in der Ukraine gehören den Oligarchen, die sie für die Sendung ihrer eigenen Ansichten nutzen. Die Ukrainer haben die Bedeutung der Wahlen und ihre Integrität in entsprechender Weise begriffen, aber Demokratie ist nicht nur eine Abstimmung. Demokratie ist auch Diskussionen, Debatten und ein Zugang zu Informationen, und in diesen Aspekten gibt es gewisse Konflikte. In einem unserer Berichte haben wir auf einige sehr beunruhigende Trends in den Medien aufmerksam gemacht. Es ging um Nachrichten und Kommentare, die die Notwendigkeit der Abhaltung von Pressekonferenzen, Briefings usw. ableugneten. Das erinnert mich sehr daran, was wir in Kanada von unserem südlichen Nachbarn sowie von einigen anderen Regierungen hören, die Einschränkungen der Meinungs- und Medienfreiheit als einen der Möglichkeiten für die Erhöhung der Kontrolle sehen. Wenn Anführer an die Macht auf einer Welle populistischer Bewegungen kommen, besteht immer ein Risiko, dass die Regierung versuchen wird, die konstitutionellen, demokratischen Rechte zu beschränken, an deren Stärkung wir alle interessiert sind.

Sie erwähnten die Gefahr von Verfassungsbeschränkungen durch die Behörden, ohne das Team von Selenskyj zu nennen. Befürchten Sie, dass sich der neu gewählte ukrainische Präsident auf so was einlassen kann?

Einige Aussagen seines Sprechers beunruhigten uns, und mehrere öffentliche Organisationen hatten den gleichen Eindruck. Er bestritt die Notwendigkeit, sich auf traditionelle Medien zu verlassen, und behauptete die Möglichkeit, die Politik auf eine andere Weise zu betreiben. Es ist auch bekannt, dass es keinen Zugang zum Kandidaten während der Wahlkampagne gab. Allerdings hat sich das mit der Zeit geändert, als die Pressekonferenz gegeben wurde.

Am Vorabend der ukrainischen Wahlen gab es viele Gerüchte über die Bedrohung durch ausländische Einmischung in diesen demokratischen Prozess. Haben Sie dieses Problem in Betracht gezogen?

Wenn wir über ausländische Einmischung sprechen, gibt es ein Problem. Kanadische Medien widmen diesem Aspekt nicht besonders große Aufmerksamkeit, da sie das für „falsche Alarm“ halten, aber das ist nicht so. Die Ukraine hat schon seit mehr als fünf Jahren mit diesem Fall zu tun und berichtet über Hunderte von Millionen Dollar, die Russen für digitale Hybridkriege ausgeben, in denen sie sehr stark sind.

In der zweiten Wahlrunde nahm die Intensität solcher Aktionen ab, da es keinen Bedarf gab, einen Kandidaten im Gegengewicht zu dem anderen weiterzubringen, weil sich die Wahlen sowieso in die von ihnen gewünschte Richtung bewegten, aber die Webseiten, die den Hass anschüren und zu Protesten aufrufen, gibt es immer noch. Ein wichtiger Aspekt, über den ich der kanadischen Regierung berichten werde, ist jedoch, dass die Ukrainer ein sehr qualitatives System der frühen Meldung über mögliche Komplikationen oder Hindernisse bei den Wahlen geschaffen haben. Dadurch gelang es ihnen, die Wahlen größtenteils ohne Zwischenfälle durchzuführen. Aus meiner Sicht können wir auch eine ähnliche Vorbereitung durchführen. Im Allgemeinen ist die Abhaltung von ehrlichen und gerechten Wahlen in Zeiten von Krieg und der Einmischung von außen eine echte Errungenschaft.

Sie sagten einmal, dass Kanada, angesichts der eigenen baldigen Willensäußerung (Ende Oktober werden die Kanadier die Mitglieder des Parlaments wählen), einige wichtige Lehren aus den Wahlen in der Ukraine ziehen sollte. Was meinten Sie?

Die Ukraine hat für ihr eigenes Wahlsystem einige sehr moderne und innovative Ansätze angewandt. Ich führe nur ein Beispiel an, mit dem ich persönlich während meiner politischen Karriere zu tun hatte. Wie kann man für Menschen mit Behinderungen Wahlbedingungen schaffen? Um das zu verwirklichen, gibt es eine Abstimmung per Brief oder so. Die ukrainische Zentrale Wahlkommission hat jedoch mobile Wahllokale erfunden, was eine großartige Idee ist. Das Wahlrecht ist äußerst wichtig und es ist sehr positiv, dass man erlaubt, es zu verwirklichen. Auch die Sicherheitsaspekte der Abstimmung waren gut durchdacht. Ich habe bereits früher über interessante Technologien und Fertigkeiten gesagt, die es ermöglichten, auf Frühmeldungen zu reagieren. Was mich betrifft, ist es viel besser, als erst dann zu handeln, wenn etwas Großes und Schlimmes passiert ist.

In welche Richtung werden sich die Beziehungen zwischen Kanada und der Ukraine nach der Wahl des neuen Präsidenten entwickeln?

Nach den Wahlen habe ich einige Zeit in der Ukraine verbracht, um Meinungen darüber zu sammeln. Es gibt viele Blicke, aber es gibt auch bestimmte Trends. Die Tatsache, dass Kanada eine sehr aktive Position bei der Unterstützung der Wahlen in der Ukraine eingenommen hat, wird ein großes Plus sein. Außerdem wurden von Ottawa rund 26 Millionen Dollar nicht nur für die Entsendung einer Beobachtungsmission, sondern auch für die Förderung von Abstimmungen selbst, für die Durchführung von Unterricht, Umfragen usw. zugewiesen. Aus Gesprächen mit Regierungsbeamten, dem öffentlichen Sektor und einfachen Bürgern in Wahllokalen bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Kanada ein enormes Vertrauen genießt. Wir haben uns einen guten Ruf gemacht, aber, um ein würdiger Verbündeter zu sein, muss man daran arbeiten. Manchmal sind wir enttäuscht sogar von den Beziehungen zu unseren eigenen Nachbarn, aber die Ukrainer sind meistens entschlossen darauf eingestellt, mehr an internationalen Aktionen des Westens beteiligt zu sein. Natürlich hat Russland auch eine bestimmte feste Absicht, so dass man mit Hindernissen rechnen kann. Die Ukraine hat auch Probleme mit den Oligarchen, was ein Hindernis für eine größere Offenheit der Operationen ist. Die Ukrainer werden eine Lösung für diese Probleme finden müssen, und wir arbeiten daran gemeinsam mit ihnen. Die einzig richtige Antwort haben wir jedoch nicht.

Inwieweit hat die ukrainische Seite zur Umsetzung von Verpflichtungen von kanadischen Beobachtern beigetragen? Sind Sie auf Hindernisse gestoßen?

Wir haben nie mit einer ähnlichen Situation zu tun gehabt, stattdessen hatten sie eine 100% Zusammenarbeit, und noch mehr, Begeisterung. Die Wahlen basierten auf den Grundsätzen der Offenheit und Transparenz - ich war angenehm beeindruckt.

In ein paar Monaten erwartet die Ukraine eine weitere Wahl, diesmal – zum Parlament. Haben Sie vor, uns wieder zu besuchen?

Ja, ich werde zu diesen Wahlen in die Ukraine kommen, die für das Land sehr interessant sein werden. Ich sehe die Wahlen in der Ukraine, die Wahl eines neuen Präsidenten, die offene Demonstration bona fides der Arbeit der Demokratie als eine wichtige Gelegenheit für Kanada, ein wirklich enger Partner der Ukraine zu werden. Die Außenministerin Chrystia Freeland tut viel dafür, auch viele Kanadier haben sich darum gruppiert. Diese Beziehungen können für uns in Eurasien sehr wichtig sein und uns eine Möglichkeit geben, bei der Lösung gemeinsamer Probleme zusammenzuarbeiten.

Maksym Nalywajko, Ottawa.

yv

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