Mustafa Dshemilew, der Beauftragte des Präsidenten der Ukraine für das krimtatarische Volk
Die Ukraine ist vollkommen berechtigt, die von Russland gesetzwidrig gebaute Brücke zu vernichten
31.05.2018 10:05

Außer dem Versuch, die Krim zu annektieren, verübt die russische Regierung andere Ungesetzlichkeiten, einbezogen die Versuche, die Demographie der Halbinsel gewaltsam zu ändern, was gemäß der Venedig-Konvention zu Militärverbrechen gezählt wird. Parallel setzt der Kreml fort, die ukrainische Krim intensiv zu militarisieren, daraus einen riesigen Militärstützpunkt geschafft zu haben. Um Putin stoppen zu können, ihn zu Verhandlungen heranzuziehen, sind härtere Sanktionen notwendig. Darüber und über anderes mehr erzählte der Anführer des krimtatarischen Volkes, Mustafa Dshemilew, der sich zurzeit zu einem Besuch in den USA aufhält.   

"ATOMARE" KRIM

Als Sie mir das vorige Interview in Washington, im September 2016 gegeben hatten, haben Sie gesagt, dass sich Krim in den großen Militärstützpunkt mit den Mitteln des Nuklear-Arsenals verwandelte. Inwiefern hat sich die Situation seitdem geändert?

Bezüglich des Atomwaffenarsenals. Weder unsere Aufklärung, noch der NATO-Aufklärungsdienst  bestätigen deutlich dessen Präsenz auf der Krim. Sie sagen, es kann so was sein, aber es gibt keine Beweise. Wir verfügen jedoch über Informationen vor Ort, sowie aus den Quellen aus Moskau, dass sie dort bereits Atomsprengköpfe haben.

Bedenken Sie doch selbst! Seit den ersten Tagen nach der Besatzung der Krim haben sie begonnen, den Atomstützpunkt dringend zu restaurieren, den sie nach der Unterzeichnung des Budapest-Memorandums verlassen hatten. Zuerst durften dorthin Transportarbeiter, darunter Krimtataren, kommen, die verschiedene Materialien brachten. Aber einst wurden alle diese Arbeiter entlassen und durch die Menschen aus Russland ersetzt. Gegenwärtig hat man dort Dreiring-Wache mit Videoüberwachung hergestellt. Man geht dort mit Geigerzählern (Kernstrahlungsdetektor - Red.) herum und misst man die Hintergrundstrahlung. Das ist so zu sagen ein indirekter Beweis dessen, dass es dort Atomwaffen gibt.

Außerdem hat eine Quelle aus Moskau bestätigt, dass es dort bereits sechs Atomsprengköpfe gibt. Das Objekt liegt in der Nähe von Feodossia, im Busch Kysyltasch, wo sich früher ein Atomdepot befand.   

Und was betrifft die Militarisierung der Krim insgesamt?

Insgesamt hat die Militarisierung ungeheure Umfänge erreicht. Die Kinder in den Kindergärten werden in die Militäruniform mit Georgsband umgekleidet, sie spielen Kriegsspiele - suchen nach Spionen, entminen etwas. Wie man mir erzählt hatte, werden bei ihnen sogar Torten in Form von Panzern gemacht - es kommt zu solchem Idiotismus.

Übrigens wird die Krim in Russland ausschließlich für einen Militärstützpunkt bzw. wie sie sagen, für den "unsinkbaren Flugzeugträger" gehalten. Es gibt dort praktisch bereits keine Wirtschaft, die Russen bauen strategische Objekte, in erster Linie eine riesige Autobahn durch die ganze Krim "Tawrida". Unterwegs werden grüne Anlagen, Kulturdenkmäler vernichtet, die Umwelt gefährdet.

Und was die Kopfstärke angeht, gibt es verschiedene Informationen. Es werden Ziffern von 60.000 bis 80.000 genannt. Und wenn es sich selbst um 60.000 handelt, ist diese Anzahl für eine kleine Halbinsel mit der Fläche von 27.000 Quadratmetern enorm groß.

NOCH EIN MILITÄRVERBRECHEN

Vor kurzem wurden die Informationen verbreitet, dass russische Umsiedler auf die Krim massenhaft gebracht werden, um die Ortsbevölkerung zu verdrängen, die auf der Halbinsel nach 2014 geblieben ist. Inwiefern ist diese Situation kritisch und ob Sie über irgendwelche Angaben verfügen?

Die Zwangsveränderung des demographischen Bestandes in den besetzten Gebieten gehört laut der Genfer Konvention 1949 zur Kategorie der Militärverbrechen. Deshalb werden die Angaben, wie viele Menschen sie gebracht hatten, sorgfältig geheim gehalten. Laut einer Pressemitteilung befinden sich auf dem Territorium der Krim 250.000 russischsprachige Menschen, die aus den Regionen Luhansk und Donezk gebracht worden sind. Außerdem wurde noch 2014 über 15.000 Büroarbeiter mitgeteilt, die sie mitgebracht hatten. Aber nach verschiedenen Einschätzungen sind  auf die Krim knapp eine Halbmillion Russen gebracht. Zugleich sagen unsere Landsleute, die aus der Krim gekommen waren, dass es sie tatsächlich mehr gibt. Vermutlich ist die Rede von 850.000 und bis zu einer Million Umsiedler.

Aber es gibt auch andere Ziffern. Auf der Krim ist angesichts der sozialen und emotionellen Sachlage hohe Todesrate zu verzeichnen. Nach den offiziellen Angaben erhöht die Todesrate auf der okkupierten Halbinsel die Geburtenzahl um 33 Prozent. Und zum ersten Mal in der Geschichte hat die Todesrate bei Frauen die bei Männern erhöht.

In Russland wird behauptet, dass die Bevölkerungszahl der okkupierten Krim um 10 Prozent gestiegen sei. Angesichts der Ziffern, die ich angeführt habe, sowie der hohen Todesrate entsprechen diese Ziffern ungefähr der Wirklichkeit. Sie (die russische Macht - Red.) bringen eine Menge Menschen aus anderen Regionen auf die Krim. Aber das wird als ein Militärgeheimnis verheimlicht, da sie sehr gut verstehen, dass es ein Verbrechen ist.   

Russland wiederholt jetzt ungefähr die selbe Strategie, die während der ersten Okkupation unter Katharina ІІ. verwendet wurde. Dann hat es keine Möglichkeit gegeben, die Menschen zu deportieren, es gab keine Eisenbahn, keine Wagen. Sie haben einfach unerträgliche Bedingungen für das Leben der Menschen geschafft, sie erzwungen, zu migrieren, und als Folge sind die Krimtataren in kurzer Zeit eine nationale Minderheit geworden. Und bereits 1944 war die totale Deportation und das Genozid zu verzeichnen.

Wie genau werden zurzeit unerträgliche Bedingungen geschafft?

Vor kurzem haben wir einen heimlichen Brief des FSB an die Adresse des sogenannten Chefs der Republik Krim Aksjonow abgefangen. Es handelt sich um einen dreijährigen Plan des FSB bezüglich der Krimtataren, um sie mit den Besatzungsbehörden zusammenarbeiten zu gewinnen. "Zwecks der psychoemotionalen Wirkung auf die Krimtataren, auf Medschlis des krimtatarischen Volkes, die die ukrainische Propaganda betreiben und die Annexion nicht anerkennen, wird empfohlen...", heißt es so offen in diesem Brief. Und werden die Pläne mitgeteilt: Massendurchsuchungen unter dem Deckmantel der Suche nach Verbrechern, Filtration, Arreste und böse Unterstellung  – die Aktivierung der Tätigkeit der patriotischen russischen Organisationen, die gegenüber den Krimtataren radikal gestimmt sind. Das heißt eigentlich die Aufhetzung der russischen Faschisten auf die Krimtataren, Aufstachelung zum Rassenhass.

Am 13. März dieses Jahres haben wir Diplomaten, die in Kiew akkreditiert sind, zusammenkommen lassen, sie über die Situation informiert und mit Dokumenten bekannt gemacht - diese Treffen finden jährlich statt. Ich kenne kein zivilisiertes Land, auf dessen Territorium, die als das Territorium dieses Landes gilt, zwischennationale und zwischenkonfessionelle Konflikte entzündet würden. Und in Russland wird das auf staatlicher Ebene gemacht.

KRIM-BRÜCKE

Vor kurzem haben die Russen unter Beteiligung von Putin in großer Aufmachung die Brücke über die Meerenge von Kertsch eröffnet. Wie ist die Reaktion der krimtatarischen Gemeinde? Interessant wäre auch Ihre Meinung, inwiefern diese Brücke dauerhaft sein kann, indem die früher ausgesprochenen Einschätzungen betreffs der ungünstigen Bedingungen für dieses Bauwerk in Betracht gezogen werden.  

Die Bedingungen sind wirklich sehr ungünstig, aber sie (Russen - Red.) sagen, dass sie Pfähle einige Hundert  Meter auf See eingerammt und sich angeblich gegen härteren Boden angestemmt hätten. Obwohl wir vor der Inbetriebnahme der Brücke gesehen haben, dass es dort einige Verwindungen gab. Sie haben aber das aller Wahrscheinlichkeit nach "kosmetisch" hergerichtet und in großer Aufmachung eröffnet.     

Außerdem wird diese Brücke den Schätzungen der Experten zufolge die Kosten nie decken. So, wird dieses Projekt je wirtschaftlich kaum ergiebig sein.

Was die Reaktion der Krimtataren betrifft, so sagen sie im Großen und Ganzen: Es sei gut, dass die Brücke gebaut worden ist, man hätte diese Russen hierher gebracht, nun müsse man sie irgendwie ausführen werden. Ohne eine Brücke wäre es schwierig. So ist das Verhalten.   

Aber ernsthaft ist diese Brücke vollkommen gesetzwidrig, sie ist ohne Abstimmung mit dem Ukrainischen Staat gebaut worden - in unserem wesentlichen Teil des Territoriums. Ich habe darüber gesprochen, als sie erst mit den Bauarbeiten begonnen hatten, dass die Ukraine vollkommen berechtigt ist, sie (die Brücke - Red.) zu vernichten. Um so mehr, dass diese Brücke jetzt die Schifffahrt ins Asowsche Meer wesentlich erschwert, die Umwelt schadet.

SENZOW GEGEN DEN KREML

Oleg Senzow ist vor kurzem in den Hungerstreik getreten, um die Freilassung aller ukrainischen politischen Häftlinge durchsetzen zu können. Es hat einen Präzedenzfall 1986 gegeben, als Dissident Anatolij Martschenko mit ähnlichen Forderungen den Hungerstreik verkündet hatte. Er hat leider nicht überlebt. Sie haben auch den Hungerstreik geschafft. Inwiefern ist das gefährlich, schwierig und welche Handlungen können die Entscheidung des Kremls über die Freilassung beeinflussen? 

Wissen Sie, der Hungerstreik von Anatolij Martschenko im Jahr 1986 hat eine bestimmte Rolle auch in meinem Leben gespielt. Als ich in Magadan einsaß, wurde vor der Befreiung gegen mich ein neues Strafverfahren wegen böswilligen Ungehorsams gegenüber den Gesetzen und den Forderungen der Lagerverwaltung eingeleitet. Es hat damals einen schändlichen Andropow-Artikel gegeben, laut dem man in Lagern auf Lebenszeit halten durfte. Gerade zu dieser Zeit hat Anatolij Martschenko den Hungerstreik verkündet - mit der Forderung,  alle politischen Häftlinge freizulassen.

In Magadan hat zu meiner Sache das geschlossene Gericht stattgefunden. Nach allen Parametern wurde ich schuldig gesprochen, aber die Anschuldigungen waren so absurd. Früher wurde ich beinahe der Versuche des Sturzes der sowjetischen Ordnung angeklagt, und plötzlich – nicht dort rauchte, nicht in Kolonnen ging, ich wusste nicht, wie ich mich verteidigen musste. Ich wurde nach 36 Punkten schuldig gesprochen, aber plötzlich hat der Richter verkündet: "Zu drei Jahren Haft zu verurteilen, aber die Humanität des sowjetischen Gerichtes beachtend, berücksichtigend, dass ein minderjähriges Kind von dem Angeklagten unterhalten wird, zu drei Jahren Haft mit fünf Jahren Bewährungsfrist bedingt zu verurteilen. Im Gerichtssaal freizulassen".

Ich dachte, wieso diese Humanität? Das ist meine siebte Strafe und als ob ich früher keine minderjährigen Kinder hätte. Als meine Frau mich umarmte, sagte sie: Weißt du, zu welchem Preis du freigelassen wirst? Vor drei Tagen ist Anatolij Martschenko gestorben, der Freilassung aller politischen Häftlinge verlangte." D.h., er hat mit Lebenspreis andere Menschen gerettet.

Aber für meine Befreiung haben auch andere Faktoren eine Rolle gespielt. Ich weiß, dass als Gorbatschow Andrej Sacharow angerufen und gesagt hatte, dass er durch den Beschluss des Politischen Büros in seine Wohnung zurückkehren dürfte, hat Sacharow geantwortet, dass er allein nicht zurückkehren würde und hat gefordert, wenigstens seine engsten Freunde freizulassen. Er hat meiner Meinung nach die Liste aus 23 Familien übergeben, ich war darin der vierte oder der fünfte. Diese Liste hat US-Präsident Ronald Reagan später in Reykjavik an Gorbatschow als eine Bedingung der Normalisierung der Beziehungen zwischen den USA und der UdSSR übergeben. Aber ohne Frage hat der Hungerstreik von Anatolij Martschenko eine riesige Rolle gespielt.

Zurzeit ist Oleg Senzow etwa den selben Weg gegangen. Aber der Unterschied jetziger Situation zu  der Gorbatschow-Periode ist auffallend. Damals war das Image für Gorbatschow sehr wichtig: Perestroika, die Demokratisierung, und plötzlich die Menschen sterben. Und für ihn war sehr wichtig die öffentliche Meinung auf der Welt. Und Putin hat nichts zu verlieren. Im Oktober des vorigen Jahres gelang es uns, zwei unsere politischen Häftlinge, Achtem Tschijgos und Ilma Umerow, aus seiner Hand zu reißen. Ihre Massenmedien schrieben, dass es "ein großer Akt der Humanität" Russlands war, aber in Wirklichkeit hat es keine Humanität gegeben. Er (Putin – Red.) hat Berufskiller GRU (der russische Militär-Nachrichtendienst - Red.) ausgehandelt, die für die Liquidation der tschetschenischen Dissidenten gebraucht wurden.

Betreffend Oleg Senzow kann Putin den ähnlichen Austausch auf sich nehmen. Aber derartige Austausch sieht amoralisch aus, weil wir für Freilassung der Menschen, die keine Verbrechen verübt hatten, die Berufskiller mit Händen voll Blut übergeben. Achtem (Tschijgos – Red.) hat mir gesagt: "Wenn ich gewusst hätte, dass man mich gegen diesen Abschaum tauschen würde, würde ich besser sitzen." Nachdem Achtem Tschijgos freigelassen wurde, hat er sich an Erdogan gewandt, alles Mögliche für die Rettung Oleg Senzows zu tun, weil er einer der mutigsten und am meisten prinzipiellen Menschen ist.

Deswegen weiß ich nicht, was zu sagen ist. Oleg zu sagen, hör den Hungerstreik auf... Es ist klar, dass er nicht einverstanden sein wird. Aber irgendwelche wirksame Schritte sind erforderlich, um den Kreml zu bewegen, etwas vorzunehmen. Darüber hinaus rufe ich alle auf, ihre Tätigkeit für die Freilassung von Oleg Senzow zu aktivieren.

WIE PUTIN ZU VERHANDLUNGEN ZU ZWINGEN

Wie kann man Ihres Erachtens Russland zwingen, alle ukrainischen politischen Häftlinge heimkehren zu lassen?

Es gibt keine Mittel. Sie verwenden eine Strategie der Einschüchterung. Wenn darüber zu sprechen, wie das alles verläuft, so ist es praktisch unmöglich, in den besetzten Gebieten auf der Krim die Menschenrechte zu schützen. Aber fraglos ist das, dass wenn es zahlreiche Erklärungen und  Resolutionen der internationalen Organisationen nicht gegeben hätte, würde die Zahl der politischen Häftlinge bis um das Zehnfache höher sein. Es ist immerhin eine Inhibition für Russland. Aber die Menschen dort vollständig zu schützen, ist unmöglich, dazu ist die Deokkupierung nötig.

Ich habe mich hier (in den USA - Red.) mit den Mitgliedern der Administration und des Kongresses getroffen. Ich habe ihnen immer gesagt: Um Putin zu dem Verhandlungstisch zu zwingen und von der Deokkupierung zu reden, sind harte Sanktionen notwendig, die für ihn als Schläge in die Leber sein werden. So und nicht anders!

Haben sie die Sanktionen gegen Russland erörtert? Wovon noch war die Rede in Washington?

Ja, aber sie haben sich hauptsächlich für die Situation bezüglich der Menschenrechte, für deren  Entwicklung sowie für den Sachstand in den besetzten Gebiet und unsere Vision interessiert. Ich habe gesagt, dass die USA eine Plattform für Verhandlungen über die Deokkupierung eingeleitet hatten. Mein Vorschlag ist, das mit der Teilnahme der Unterzeichner des Budapester Memorandums (der Ukraine, der USA, Russlands und Großbritanniens – Red.), der Atommächte zu tun, die die Sicherheit und die Aufrechterhaltung  der Grenzen der Ukraine gegen unseren Verzicht auf die Kernwaffen garantiert hatten. Sie haben es zur Kenntnis genommen und versprochen, das zu erörtern.

Jaroslaw Dowgopol, Washington

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