Andrius Kubilius, ehemaliger Premierminister von Litauen
Der Westen darf Putin nicht erlauben, den Kampf in der Ukraine zu gewinnen
15.09.2017 10:23

Litauen und die Politiker dieses baltischen Landes waren in letzter Zeit an der Spitze der Unterstützung der Integrationsbemühungen der Ukraine in die Europäische Union. Der Wirtschaftsplan der Hilfe unserem Land („Neuer Europäischer Aktionsplan für die Ukraine“), den die Litauer zu Beginn des Jahres initiiert haben, hat alle Chancen, nicht nur auf dem Papier zu bleiben.

Über die Vorbereitungen auf die mögliche Umsetzung dieses Plans, seine Ziele, Richtungen der Realisierung und Finanzierungswege hat Andrius Kubilius, Ex-Premierminister von Litauen (1999-2000, 2008-2012) in einem exklusiven Interview mit dem Ukrinform-Korrespondenten erzählt.

Herr Ministerpräsident, wie steht es jetzt mit der Vorbereitung des „Neuen Europäischen Aktionsplans für die Ukraine“?

In der Tat, die Arbeit verläuft sehr intensiv nach zwei parallelen Richtungen. Die erste Richtung ist die Vorbereitung auf das Gipfeltreffen der Östlichen Partnerschaft am Ende November. In diesem Kontext ist es sehr wichtig, das Programm des Gipfels zu diskutieren, und auf welche Ergebnisse man hoffen kann. Im Europäischen Parlament wird ungefähr Mitte Oktober, oder vielleicht Anfang November, die spezielle Entschließung über die Empfehlungen zum Gipfel behandelt. Wir hoffen, dass dort die Formulierung „Marshall-Plan“ erscheinen wird. Mit dem Vorsitzenden des litauischen Parlaments werden wir in dieser Angelegenheit noch nach Brüssel fahren. Jetzt verfolgen wir, wie diese Entschließung vorbereitet wird. Es werden zwei Ko-Berichterstatter von der EVP geben, einschließlich der litauischen Abgeordneten Laima Andrikienė von unserer Partei (Vaterlandsbund - Christdemokraten Litauens).

Was kann man in dieser Entschließung des Europäischen Parlaments erwarten?

Sie wird die gesamte „Östliche Partnerschaft“ umfassen, und einer der Punkte wird „Marshall-Plan für die Ukraine“ sein. Wir haben bereits ursprüngliche Vorschläge für die Formulierung dieses Punktes gesehen, und uns ist es recht. Dort steht, dass der Gipfel der Europäischen Kommission und der Europäischen Investitionsbank (EIB) ein Mandat für die Vorbereitung schon sachlicheren Dokuments geben soll. Wir hoffen, dass es auf der Ebene des Gipfels klare Erklärungen bezüglich des „Marshall-Plans“ geben werden. Der Plan wird direkt auf dem Gipfel nicht erörtert, jetzt ist wichtig das Mandat selbst. Auf der anderen Seite entwickeln wir zusammen mit den ukrainischen Kollegen parallel einen konkreten Plan, der auf der Ebene der Europäischen Kommission diskutiert werden könnte, wenn sie schon das Mandat erhalten hat.

Und was ist mit dem Geld für den „Marshall Plan“, und wofür kann es ausgegeben werden?

Auf der einen Seite sind es Geber, die davon überzeugt werden müssen, dieses Geld zuzuteilen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten: EIB, die ein spezielles „Fenster“ für die Ukraine öffnen kann, es gibt noch einen speziell in der EU genehmigten Europäischen Investitionsplan (EU External Investment Plan – Red.) für andere Länder. Er sieht bis zu 88 Milliarden Euro vor, von denen die Hälfte an Afrika gehen wird, aber der Rest könnte an die anderen Länder gehen, auch an die Ukraine.

Auf der anderen Seite stellt sich die Frage: für welche Projekte in der Ukraine kann das zugeteilte Geld ausgegeben werden? Wir konzentrieren uns auf drei Richtungen. Erstens, es sind Klein- und Mittelunternehmen, zweitens, Infrastrukturprojekte, und drittens, regionale Projekte. Hier kann man viele Beispiele anführen. Zum Beispiel verwendet Polen sehr erfolgreich die EIB-Mittel für die Entwicklung seiner Straßen. Es gibt deutsche Erfahrung bei der Verwendung von „Marshall-Plan“ für die Unterstützung von Klein- und Mittelunternehmen in den 1950-er Jahren. Also, die wichtigste Sache ist Geber und wohin das Geld fließen wird. Und die dritte Frage ist, wie all dies innerhalb der Ukraine organisiert wird, wer wird die Ausgaben kontrollieren.

Wir denken, es wäre gut, eine Institution, wie z.B. die deutsche Bank KfW, zu gründen. Etwas Ähnliches muss man in der Ukraine schaffen, um, erstens, diesem Finanzinstitut vertrauen zu können, und dass sie unabhängig wird und irgendwelche Oligarchen das Geld nicht stehlen. Zweitens, sie muss für diese Projekte verantwortlich sein. Dann werden die Geber überzeugt sein, dass man das Geld für solche Projekte geben kann. Dieses Finanzinstitut würde direkt mit Gebern arbeiten, was die wesentlich effizientere Verwendung dieser Mittel ermöglichen würde, weil man eines der Probleme in der Ukraine die zweckmäßige Verwendung der Mittel sieht. Schon jetzt gibt es die Mittel, aber es gibt Probleme mit der Vorbereitung aller Unterlagen, damit die Geber zuversichtlich werden, dass die Mittel zweckgebunden verwendet werden. Die zentralisierte Struktur solcher Art würde helfen, noch ein anderes Problem zu lösen – Anschaulichkeit der Unterstützung seitens des Westens.

Was meinen Sie?

Neulich hat unser Team, und das sind zehn Litauer, ein lustiges Abenteuer in der Ukraine gemacht: Wir sind mit den Fahrrädern den östlichen Teil des Landes durchgefahren. Es ist schon eine Tradition geworden, wir machen das schon mehrere Jahre hintereinander. Dieses Jahr sind wir mit Fahrrädern von Mariupol nach Berdjansk gefahren, und dann haben wir weiter in Richtung Kramatorsk gewendet. In einigen Orten haben wir Vertreter der lokalen Behörden getroffen und ich habe sie gefragt, ob sich die europäische Hilfe bemerkbar macht? Sie antworteten, sie sei unzureichend. Es gibt verschiedene Mittel von EBRD, EIB, aber es gibt kein einheitliches System, um zu zeigen, dass diese Hilfe gerade aus dem Westen kommt. Und gerade jetzt ist es sehr wichtig, einfachen Ukrainern zu zeigen, dass die westliche Gemeinschaft sie unterstützt. Wir entwickeln diese Pläne und der Ausgangspunkt ist der Gipfel der „Östlichen Partnerschaft“. Auf der anderen Seite wissen wir, dass der Präsident der Ukraine, Petro Poroschenko, nach dem Ukraine-EU-Gipfel im Juli die Durchführung der nächsten Geberkonferenz im Februar nächsten Jahres vereinbarte.

Sie haben nichts über die Amerikaner im Kontext der Vorbereitung des „Marshall-Plans für die Ukraine“ erwähnt?

Wir hoffen, dass die Amerikaner zusammen mit uns sein werden. Wir werden mit ihnen noch verhandeln, aber wir konzentrieren uns erst mal auf die EU. Die Europäische Union sollte begreifen, dass es notwendig ist, und dass die Europäische Kommission und andere europäische Institutionen diese Initiative in die eigenen Hände nehmen werden, damit sie nicht nur litauisch-ukrainische mit der Unterstützung Polens wird. Es ist notwendig, dass sie zu einer offiziellen Initiative wird, an der man alle anderen beteiligen lassen könnte.

Bald beginnen russisch-weißrussische Militärübungen „Zapad-2017“. Die Russen behaupten, das sind defensive Übungen. Wie beurteilen Sie die Vorbereitungen auf diese Manöver, kann man mit irgendwelchen Provokationen rechnen?

Natürlich können es Provokationen geben. Die Nato ist dazu bereit, die Amerikaner haben ihre Präsenz in den baltischen Staaten erhöht, sowie die Anzahl von militärischen Kampfflugzeugen, die die Mission Air Policing erfüllen. In Litauen befindet sich im Rahmen der Nato-Operationen ein deutsches Bataillon. Wir fühlen uns jetzt viel sicherer im Vergleich damit, wie es vor 2-3 Jahren war. Der Majdan und die Aggression gegen die Ukraine wurden für uns ein Anstoß, unsere Ressourcen zu erhöhen. Die Finanzierung der Verteidigung in Litauen nähert sich bereits 2 % des BIP. Wir haben auch die Wehrpflicht wiederaufgenommen. Auf der anderen Seite ist es schwer zu mutmaßen, was sich bei diesen Übungen tun wird. Die Provokationen sind eine Sache, auf der anderen Seite können die Truppen oder Ausrüstung auf dem Territorium von Weißrussland zurückgelassen werden. Dies erhöht die Gefahr für uns, aber in erster Linie für die Ukraine. Wir alle verstehen, dass ihr in dieser Zeit eine defensive Infrastruktur mit Russland aufgebaut habt, aber von der Seite von Weißrussland bleibt sie immer noch unterentwickelt.

Auf der anderen Seite dauert in Russland die Vorbereitung auf die Präsidentschaftswahlen an, und daher sollten wir auf alles gefasst sein. Es können Provokationen nicht nur während dieser Übungen geben, aber auch das, was danach kommt.

Warum haben wir begonnen, über den „Marshall-Plan“ zu sprechen? Dies geschah aus der Erkenntnis davon, welche Strategie Putin gegenüber der Ukraine hat. Für ihn bleibt die Ukraine eine strategische Oberpriorität. Unsere Antwort war sehr einfach: er hat jetzt die oberste Priorität nicht die Eroberung neuer Territorien, er will nicht zulassen, dass die Ukraine ein erfolgreicher Staat wird. Das will Moskau durch die Einmischung in die Angelegenheiten der Ukraine erreichen, darum müssen Kiew und der Westen viel Aufmerksamkeit der Verhinderung der militärischen Intervention Russlands widmen.

Putin strebt danach, dass niemand, besonders im Westen, die erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung in der Ukraine unterstützt. Putin hofft darauf, dass dies zu einer natürlichen Gereiztheit bei Menschen führen wird, die keine wirtschaftlichen Fortschritte im Land sehen werden, und als Folge, werden sie bei irgendeiner nächsten Wahl für diejenigen stimmen, die sagen werden, dass Reformen, die Annäherung an die EU und die Nato nicht nötig sind. Daher sagen wir, dass sich der Westen darum kümmern soll, Putin nicht zu erlauben, den strategischen Kampf in der Ukraine zu gewinnen.

Putin hat vor kurzem seine These über Russlands Zustimmung der Stationierung von UN-Friedenstruppen im Osten der Ukraine gebracht. Wie beurteilen Sie das?

Man muss überlegen, wo diese UN-Friedenstruppen stehen werden: an der Trennlinie oder an der Staatsgrenze zwischen Russland und der Ukraine? Das sind zwei große Unterschiede. Wahrscheinlich wäre der beste Ausweg aus der Situation die Stationierung an beiden Orten. Auf der einen Seite, um das Feuer einzustellen, und an der Grenze, um den Strom von Menschen und Waffen aus Russland zu stoppen.

Mein Gefühl sagt: Wenn der Westen zeigen würde, dass er sich, trotz Putins Aggression und Provokationen, nicht nur mit der Frage der Umsetzung der Abkommen von Minsk beschäftigt, die Putin nicht vorhat, zu erfüllen, sondern auch versucht, der Ukraine zu helfen, durch den „Marshall-Plan“ ein erfolgreicher Staat zu werden, dann stellt sich die Frage, was macht Putin in der Ostukraine, welchen Ziel hat er, dort zu bleiben? Wegen der Präsenz in der Ukraine bekommt er mehr und mehr wirtschaftliche und finanzielle Probleme in Russland selbst. Ich kann nicht naiver Optimist sein, aber ich habe das Gefühl, dass Putin einen Wunsch bekommen kann, irgendwie aus dem Donbass wegzugehen. Allerdings wird das wahrscheinlich vor der Präsidentschaftswahl in Russland nicht geschehen.

Jurij Banachewitsch, Warschau.

 yv

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