In diesem Jahr jährt sich nicht nur zum 80. Mal die Befreiung Europas vom Faschismus, sondern auch der Beginn des Prozesses gegen einige der Verbrecher des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland – nämlich des Nürnberger Tribunals.
Das Interesse an den Nürnberger Prozessen, einem der bekanntesten Prozesse der Weltgeschichte, ist derzeit besonders groß – im Lichte der Vorbereitungen zur Schaffung eines neuen Tribunals, das heutige Verbrecher zur Rechenschaft ziehen soll: die Russen, die im 21. Jahrhundert einen blutigen Angriffskrieg gegen ihren Nachbarn begonnen haben.
Die Korrespondentin von Ukrinform fragte den Leiter der Gedenkstätte Nürnberger Prozesse, den Historiker Alexander Korb, ob er Parallelen zwischen den heutigen und den Ereignissen vor 80 Jahren sehe und ob eine Wiederholung des Schauprozesses möglich sei.
Wir führten unser Gespräch im ehemaligen Beratungszimmer direkt neben dem weltweit berühmten Saal 600 – an demselben Tisch, an dem sich in den Jahren 1945–1946 die Vertreter der vier Siegermächte berieten. Dies ist eine der ganz wenigen Raritäten geblieben aus dieser Zeit.
Der Prozess fand in Nürnberg, in der US-Besatzungszone statt und die Vereinigten Staaten waren tatsächlich an seiner Organisation beteiligt. Kann man ja sagen, dass der Prozess ihnen „gehört“?
Die Amerikaner haben den Prozess designt, sie waren die wichtigsten Personen darin. Also, die USA haben schon viel vom „Copyright“ für den Prozess – aber nicht alles. Es ist natürlich auch eine deutsche, sowjetische, britische und französische Geschichte.
Naja, stellen wir die Frage so: Die Russen haben den Sieg über den Faschismus im Zweiten Weltkrieg „privatisiert“. Haben die Amerikaner den Nürnberger Prozess für sich beanspruchen?
Das kann man durchaus so sagen. Im Februar 2024 war eine amerikanische Delegation von Politikern hier – sowohl Mitglieder des Kongresses als auch des Senats. Und ein Komitee des amerikanischen Parlaments hat hier im Saal 600 getagt – zur Frage: Was können die USA tun, um russische Kriegsverbrecher zur Verantwortung zu ziehen?
Es war überhaupt erst das zweite Mal, dass ein US-Komitee des Parlaments im Ausland getagt hat.

Und warum haben sie gerade hier darüber beraten?
Aus symbolischen Gründen. Es hatte aber auch eine pragmatische Komponente: Die waren eben alle zu diesem Zeitpunkt in Deutschland, weil die Münchner Sicherheitskonferenz im Februar stattfand. Und dann hat man den kurzen Weg von München nach Nürnberg zurückgelegt, um hier den Saal 600 der Nürnberger Prozesse zu reservieren und an diesem hochsymbolischen Ort eine Tagung abzuhalten – zur Frage der russischen Kriegsverbrecher.
Und das war eine interessante Veranstaltung, weil man doch gesehen hat, dass die Amerikaner – obwohl sie eigentlich unsere Gäste waren – Besitz ergriffen haben von dem Saal. Sie waren die Hausherren für zwei, drei Tage lang. Wir waren quasi geduldete Gäste.
Dies geschah letztes Jahr. Unter der Regierung von Donald Trump haben die USA nun sogar die Ermittlungen zu russischen Verbrechen im Krieg gegen die Ukraine eingestellt …
Es war ja noch unter der Biden-Administration, dass diese Veranstaltung stattfand.
Allerdings waren die meisten Mitglieder des Komitees – fast alle, bis auf einen demokratischen Abgeordneten – Republikaner. Darunter war auch Viktoria Spartz. Sie ist die erste und bisher einzige US-Parlamentsangehörige, die in der Ukraine geboren ist.
Ja, aber sehr kritisch gegenüber der Ukraine...
Sehr kritisch, was die Selenskyj-Regierung betrifft, ja.
Die republikanischen Politiker, die hier waren, waren sich eigentlich in der Unterstützung der Ukraine – insbesondere militärisch – sehr einig. Jetzt ist die Situation ganz anders aber vor etwa eineinhalb Jahren waren diese Leute natürlich zentral für die Unterstützung der Ukraine.

Parallelen zu Nürnberg?
Letzte Woche drückten führende Vertreter der europäischen Diplomatie in Lwiw ihre politische Unterstützung für die Einrichtung eines Sondertribunals für das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine aus. Sehen Sie darin irgendwelche Parallelen? Oder ist der Nürnberger Prozess einzigartig?
Ich sehe da keine Parallelen – und zwar auf zwei Ebenen. Erstens ist unbestritten, dass Russland im Krieg gegen die Ukraine schwerste Kriegsverbrechen begeht und dass sich das Land zunehmend in eine Diktatur verwandelt hat. Das ist völlig unstrittig. Aber die Verbrechen der Nationalsozialisten waren beispiellos. Sie haben ganz Europa in Schutt und Asche gelegt. Sie haben Millionen Menschen industriell vernichtet. Und genau diese Präzedenzlosigkeit hat die Nürnberger Prozesse damals überhaupt erst ermöglicht. So etwas hatte es noch nie gegeben: dass ein Regime auf solche Weise eine ganze Zivilisation vernichtet. Der russische Angriff auf die Ukraine ist ohne Zweifel ein völkerrechtswidriger Krieg – aber er spielt sich auf einer anderen historischen und moralischen Ebene ab.
Zweitens: Der Grund, warum es die Nürnberger Prozesse überhaupt geben konnte, war die totale militärische Niederlage Deutschlands – und ebenso Japans, wo es die Tokioter Prozesse gab. Selbst Italien, das ursprünglich auf der Seite der Achsenmächte stand, konnte einen vergleichbaren Prozess vermeiden, weil es rechtzeitig die Seiten wechselte.
Das heißt: Es ist historisch eher die Ausnahme, dass sich internationale Mächte zusammenschließen, um über einen militärisch besiegten Aggressor zu richten. Die Norm ist, dass so etwas nicht geschieht. Und eine vollständige Niederlage Russlands ist momentan nicht absehbar. Ich kann die Zukunft natürlich nicht voraussagen, aber ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass Wladimir Putin in den kommenden Jahren vor gar keinem Gericht erscheinen wird.
Also der Nürnberger Prozess war einmalig. In der Form, dass sich vier Siegermächte – die USA, die Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich – auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt haben, um über einen Kriegsgegner zu urteilen, ist das historisch einzigartig.

Instrumentalisierung von Nürnberg
Wenn wir auf die Gegenwart blicken, sehen wir, dass sowohl die amerikanische als auch die russische Seite versuchen, den Nürnberger Prozess für sich zu instrumentalisieren – um ihn für ihre eigenen Interessen zu nutzen.
Ja, zunächst zur russischen Seite. Diese Instrumentalisierung lässt sich sehr leicht belegen – und sie ist in vielen Fällen geschmacklos, ahistorisch und stark nationalistisch überhöht.
Man findet im Netz zahlreiche Aussagen und Veröffentlichungen, in denen gefordert wird, ein „neues Nürnberg“ durchzuführen – diesmal gegen das angebliche Naziregime in der Ukraine. Mit anderen Worten: Russland inszeniert sich als Ankläger in einem imaginären „Nürnberg 2.0“, und der Hauptangeklagte wäre – in dieser Logik – Wolodymyr Selenskyj.
Das ist natürlich vollkommen absurde Propaganda. Sie wird teils von Internet-Trollen, teils von extremistischen Politikern verbreitet. Aber es gibt auch subtilere Versuche.
Das russische Konsulat hat mir ein Buch geschickt von Alexander Savenkow, eine englischsprachige Publikation. Es richtet sich also klar an ein internationales Publikum. Ob es tatsächlich gelesen wird, ist eine andere Frage. Der Titel lautet: “Nuremberg: A Verdict for the Name of Peace”. Das Buch selbst ist relativ sachlich geschrieben – eine konventionelle Darstellung der Nürnberger Prozesse. Aber das Vorwort stammt von Sergej Lawrow, dem russischen Außenminister. Und darin bezieht er sich ausdrücklich auf die heutige politische Lage und auf die angeblichen „Lektionen“ aus Nürnberg, mit denen das russische Vorgehen gegen die Ukraine moralisch legitimiert wird.
Das ist ein klassischer Fall von Geschichtspolitik – also der Versuch, die Vergangenheit für aktuelle politische Zwecke umzudeuten.
Aber ist es nicht hochgradig zynisch, dass Russland selbst Kriegsverbrechen in der Ukraine begeht – und gleichzeitig behauptet, die Ukrainer seien schuld und Nazis?
Was die russische Regierung natürlich hofft, ist, eine Form von Siegerjustiz auszuüben: die Ukraine zu erobern, Kiew zu besetzen und ukrainische Politiker in ihre Gefängnisse – ihren Gulag – zu bringen. Das würde bedeuten, dass die Reihe der bereits jetzt begangenen Kriegsverbrechen noch verlängert wird. Es ist ein absolut düsteres, dystopisches Szenario – und darin liegt Putins eigener Zynismus.
Es ist ja nicht einmal tragikomisch – es ist schlicht und einfach erschreckend. Ein Szenario, vor dem man die Welt warnen muss. Und das Erschreckende ist: Sie meinen es vermutlich ernst. Sollte Russland erfolgreich sein, würden sie vermutlich ukrainische Politiker, Journalisten, Aktivisten, Menschenrechtsverteidiger vor Gericht stellen – und einsperren. So, wie sie es bereits auf der Krim und in den besetzten Gebieten im Donbass getan haben. Zahlreiche Menschen sind dort verschwunden – in Gefängnissen, Lagern – nur weil sie sich für ein freies, unabhängiges Land einsetzen.
Die Argumentation, mit der Russland dieses Vorgehen rechtfertigt – etwa mit angeblichem „Nazismus“ –, lässt jedem Historiker die Haare zu Berge stehen. Das ist eine zynische Instrumentalisierung der Opfer des Zweiten Weltkriegs.

Versteht man aber in Europa, wie Russland die historische Erzählung nutzt und verzerrt?
Im allgemeinen politischen und öffentlichen Diskurs wird das durchaus verstanden.
Wie zynisch oder wie gefährlich dieses Szenario ist, erkennt man aber nicht immer – oder nicht in seiner vollen Tragweite. Oft wird es als reine Propaganda abgetan, aber es ist mehr als das: Es ist eine Drohung. Eine existenzielle Bedrohung für Menschen in der Ukraine, die sich für Freiheit und Demokratie einsetzen. Wenn Russland in diesem Krieg weitere Gebiete erobert, sind diese Menschen akut gefährdet.
Die Drohung, einen neuen „Nürnberger Prozess“ gegen sie zu führen, ist ernst gemeint – es ist keine rhetorische Geste, sondern ein reales Bedrohungsszenario.
In Deutschland – wie in den meisten europäischen Ländern – gibt es allerdings auch eine Fraktion, die der russischen Propaganda Glauben schenkt. Sie nennen sich oft „Partei des Friedens“. Sie sagen, sie wollten Frieden – aber in Wirklichkeit knicken sie ein vor den russischen Drohungen. Sie wollen die Ukraine nicht weiter unterstützen, damit man wieder Handel mit Russland treiben und billige Energie importieren kann.

Verbotene Themen: Hitler-Stalin-Pakt und Katyn
Während des Prozesses gab es mehrere Tabus – etwa der Hitler-Stalin-Pakt…
Ja, das stimmt. Im Londoner Statut von 1945, das die rechtliche Grundlage der Nürnberger Prozesse bildet, gab es eine klare Absprache unter den Alliierten. Die Prozesse sollten nicht dazu dienen, das Verhalten der Alliierten selbst anzuklagen. Das betraf unter anderem den Hitler-Stalin-Pakt, die Vertreibung der Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa, den U-Boot-Krieg, die Bombardierung deutscher Städte – also Themen, bei denen Alliiertenverantwortung infrage gekommen wäre. Zur Anklage standen ausschließlich die Deutschen, Punkt. Das war die Vereinbarung.
Die Sowjets wollten sich besonders auf diesen Deal verlassen. Doch nicht alle westlichen Richter hielten sich strikt daran – vor allem die Amerikaner zeigten Unabhängigkeit. Sie ließen vereinzelt auch Diskussionen über alliiertes Fehlverhalten zu. Die deutschen Verteidiger versuchten systematisch, diese Themen einzubringen – um ihre Mandanten zu entlasten. Sie argumentierten etwa, die Alliierten hätten ebenfalls Kriegsverbrechen begangen – etwa durch den Bombenkrieg gegen deutsche Städte.
Ein Beispiel: Zwei Admiräle – Raeder und Dönitz – waren angeklagt, weil sie Schiffe mit Zivilisten versenkt hatten. Die Verteidigung führte an, dass die amerikanische Marine dasselbe getan habe. Diese Argumentation wurde teilweise zugelassen – damit war die Büchse der Pandora geöffnet.
Ein weiteres Beispiel war der Hitler-Stalin-Pakt, also die geheime Aufteilung Polens und des Baltikums durch Nazi-Deutschland und die Sowjetunion. Oder das Massaker von Katyn, bei dem Tausende polnische Offiziere durch die sowjetische Geheimpolizei ermordet wurden. Diese Themen kamen zur Sprache – und die Westalliierten ließen sie kurzzeitig zu.
Das hat die sowjetische Delegation extrem verunsichert und enttäuscht.
Sie sahen es als Vertrauensbruch – denn es war vereinbart worden, dass eine solche Umkehrung des Anklageprinzips nicht stattfinden sollte. Letztlich wurde die Diskussion abgewürgt – aber die Wahrheit war in der Welt. Das Katyn-Massaker wurde so bekannter – und dieser Konflikt ist sicherlich einer der Faktoren, die den Kalten Krieg mitausgelöst haben. Die Sowjets waren nun gezwungen, ihre Lüge vom „nicht existenten Hitler-Stalin-Pakt“ immer unbeirrter zu wiederholen. Und tatsächlich wurde diese Lüge bis 1990 offiziell aufrechterhalten – obwohl die ganze Welt längst wusste, dass sie nicht stimmt.

ENTTÄUSCHTE HOFFNUNGEN AUF GERECHTIGKEIT
Während des Tribunals standen vier Anklagepunkte im Fokus?
Genau. Die vier Anklagepunkte lauteten: Planung eines Angriffskrieges, Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Alle vier Punkte treffen auch auf die heutige Situation zu. Damals hoffte man, dass Kriegsverbrecher künftig abgeschreckt würden. Heute sehen wir, dass diese Hoffnung enttäuscht wurde.
Diese Mahnung wurde auch damals nicht befolgt. Bereits 1943 verkündeten die Alliierten in der Moskauer Deklaration, dass Kriegsverbrechen geahndet würden. Doch das änderte nichts am Verlauf des Krieges – auch nicht an der Shoah. Die deutschen Täter fühlten sich entweder unantastbar oder waren dermaßen ideologisch verblendet, dass sie sich von den Alliierten nicht abschrecken ließen. Selbst nach Hitlers Tod wurden noch Tausende Juden ermordet – die Vernichtung ging bis zum letzten Kriegstag weiter.
Es ist also kein neues Phänomen in der Weltgeschichte, dass Strafandrohungen Verbrechen nicht immer verhindern. Auch im heutigen Völkerrecht ist die präventive Wirkung fraglich. Täter hören selten auf die Stimme der Vernunft – sei es im Radio oder im Gesetzbuch.
Kann man heute jemanden tatsächlich zur Rechenschaft ziehen?
Die Strukturen des Völkerstrafrechts sind kompliziert. Es gibt zwei Ebenen: Staaten können einander verklagen – aber nur, wenn beide Seiten dem Internationalen Gerichtshof beigetreten sind. Russland ist das nicht, und die Ukraine war es bis vor Kurzem auch nicht.
Dann gibt es den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), der von sich aus tätig werden kann. Dort ist Wladimir Putin auch tatsächlich angeklagt worden.
Die Strukturen sind also da – doch ihre Wirkungskraft wird untergraben, wenn sie nicht durchsetzbar sind. Dass Putin angeklagt ist, aber weiterhin reist, etwa in die Mongolei – obwohl diese das Römische Statut unterzeichnet hat und ihn verhaften müsste – schwächt das Völkerrecht massiv. Dasselbe gilt für Benjamin Netanjahu. Auch er ist angeklagt – und auch seine Reisen testen die Grenzen des Strafrechts.
Olga Tanasiichuk, Nürenberg.