Stefan Voss dpa-Faktenchecker
Es wird immer mehr Deep Fakes geben – es ist eine Aufgabe von Journalisten, sie zu entlarven
04.09.2020 11:10

Ukrinform führt im September gemeinsam mit der deutschen Nachrichtenagentur dpa eine Reihe von digitalen Workshops für ukrainische Medienvertreter durch. Wir haben mit Stefan Voss, der das Verifikations-Team der dpa leitet und im Workshop als Experte teilnehmen wird, über Tools für Nachrichtenmedien zur Bekämpfung der Desinformation und über schwer zu prüfende Inhalte [WN1] gesprochen.

Falsche Behauptungen werden über soziale Netzwerke verbreitet, um Verunsicherung und Ärger zu schüren

Seit wann existiert bei dpa ein Verifikations-Team? Nach welchen Kriterien erkennen Sie, dass eine Meldung ein Fake ist?

Bei dpa erschienen die ersten Faktenchecks 2013. Unser Verifikations-Team wurde 2017 gegründet. Der Faktencheck bei dpa ist immer eine Überprüfung einer Behauptung oder einer Äußerung. Wir verifizieren nur Tatsachenbehauptungen und niemals Meinungen.

Wir überprüfen beispielsweise, ob ein Foto oder Video ein aktuelles Ereignis an einem bestimmten Ort zeigt, oder ob es sich dabei um eine alte Aufnahme von einem anderen Ort handelt. In unserer täglichen Arbeit sehen wir, dass Statistiken häufig falsch interpretiert werden, beispielsweise auf dem Gebiet der Kriminalität. Außerdem stoßen wir häufig auf frei erfundene Zitate, die einer bestimmten Person zugeordnet werden.

Was sollte bei einer Nachricht zuerst überprüft werden?

Wir überprüfen hauptsächlich die Aussagen prominenter Personen wie Politiker oder von privaten Nutzern verbreitete Behauptungen in den sozialen Netzwerken. Unser Faktencheck konzentriert sich gewöhnlich auf die Kernaussage.

Welche Arten von Fake News finden Sie am häufigsten in der deutschen Nachrichtenwelt? Sehen Sie bestimmte regionale Besonderheiten, wenn Sie internationale Informationen prüfen?

Wir verwenden den stark politisierten und gleichzeitig ungenauen Begriff „Fake News“ ungern. Es handelt sich in erster Linie um Desinformationen, Manipulationen und Irrtümer. In den sozialen Netzwerken sehen wir vor allem falsche Behauptungen, die verbreitet werden, um bei Menschen Verunsicherung und Ärger zu schüren. Wir beobachten das in vielen Ländern Europas. Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie werden in den sozialen Netzwerken wie Facebook, YouTube oder Telegram lebensgefährliche Tipps verbreitet.

Können Sie ein paar konkrete Beispiele nennen, die eine breite Resonanz in Deutschland hatten?

Es ist nicht überraschend, dass die meisten Falschmeldungen in der letzten Zeit im Zusammenhang mit dem Coronavirus stehen. Ein Beispiel ist die Behauptung, dass der amerikanische Autor Dean Koontz in seinem Thriller „The Eyes of Darkness“ („Die Augen der Dunkelheit“) vor etwa 40 Jahren den Ausbruch vom Sars-CoV-2 im chinesischen Wuhan ungefähr im Jahr 2020 vorausgesagt haben soll. Diese Behauptung war in den sozialen Medien in Deutschland weit verbreitet. Tatsächlich ging es im Roman, der zur Zeit des Kalten Krieges spielt, um biologische Waffen aus einem Labor in der Sowjetunion.

Ein weiteres Beispiel: Bei Facebook wurden Fotos von einer Desinfektionsmittel-Flasche geteilt, die angeblich 2016 hergestellt wurde. Auf dem Etikett stand, das Spray wirke unter anderem gegen das Coronavirus. Es wurde dann behauptet, dass die Warnungen der Behörden eine Lüge seien und es keinen neuen Erreger gebe. Die Wahrheit ist, dass Coronaviren schon seit Jahrzehnten bekannt sind. Die aktuelle Art des Coronavirus ist aber neu.

Journalistische und technische Fachkenntnisse sind gleich wichtig, um Deep Fakes zu erkennen

Welche Tools verwenden Sie derzeit beim Faktencheck? Wie hat sich Ihre Herangehensweise an die Verifikation im Laufe der Zeit verändert?

Bei der dpa nutzen wir eine Vielzahl an Methoden und Tools zur Verifikation. Sie reichen von einer Foto-Rückwärts-Suche bis hin zu spezifischen Werkzeugen der Geolocation wie Schattenwurf und Tools zur Analyse von Webseiten.

Im Laufe der Zeit haben sich unsere Möglichkeiten zur Verifikation erheblich verbessert. Inzwischen beschäftigt sich ein Team von 20 Kolleginnen und Kollegen mit Faktenchecks. Das ist sehr wichtig, weil Faktenchecks und Verifikation immer Teamarbeit sind. Momentan sind wir dabei, unsere Fähigkeiten auf dem Gebiet der Digitalen Forensik zu verbessern, das heißt die Erkennung von Deep Fakes.

Was müssen Journalisten und die breite Öffentlichkeit über Deep Fakes wissen?

Es ist erschreckend, wie Videos und Audios heutzutage technisch manipuliert werden können. Und es ist noch dramatischer zu wissen, dass immer mehr Leute diese Fälschungstools nutzen werden. Die Frage ist nicht, ob Deep Fakes in unseren Ländern eingesetzt werden, um Falschbehauptungen zu verbreiten und unserer Gesellschaft zu schaden. Das wird auf jeden Fall passieren. Die Frage ist nur, wann? Um Deep Fakes technisch zu erkennen, sind Fachkenntnisse von Videotechnikern und Entwicklern erforderlich. Das ist aber nur eine Seite der Medaille. Journalistische Fachkenntnisse sind ebenso wichtig. Es geht um Fragen wie diese: Sind die Informationen in einem vermeintlichen Deep-Fake-Video logisch? Es wird die Aufgabe der Medien sein, Deep Fakes als solche zu enttarnen. Darauf müssen wir uns intensiv vorbereiten, sowohl technisch als auch journalistisch.

Fakes werden immer geschickter als Fakten getarnt. Vor welchen Herausforderungen stehen Sie in diesem Zusammenhang?

Dies sind die klassischen Herausforderungen eines jeden Journalisten. Wir checken, ob die faktische Behauptung tatsächlich stimmt. Dazu nehmen wir die Argumente im zu prüfenden Text genau unter die Lupe. Solche Arbeit kann manchmal Tage dauern. Bei komplizierten Fragen holen wir uns Rat bei unabhängigen Experten.

Sie haben erkannt, dass eine Meldung gefälscht ist. Wie wird dann die Entscheidung über weitere Maßnahmen getroffen? Ist es notwendig, die Meldung zu widerrufen, eine korrigierte Meldung erneut zu senden, ohne die Fälschung zu erwähnen, oder überhaupt nichts zu senden?

Das hängt vom Medium ab, für das der jeweilige Journalist arbeitet. Die dpa ist ein rein privates Medienunternehmen und erhält keine finanzielle Unterstützung vom Staat. Es ist nicht unsere vorrangige Aufgabe, Veröffentlichungen anderer renommierter Medien zu prüfen. Unsere Reporter berichten aus erster Hand über alle weltweit bedeutenden Ereignisse. Wir haben weder einen Bildungsauftrag noch sind wir politisch abhängig. Unsere Aufgabe ist es, den Menschen zu ermöglichen, sich eine eigene (politische), auf Fakten gestützte Meinung zu bilden. Deswegen veröffentlichen wie die Faktenchecks, um Manipulationen und Fehler aufzudecken.

Gibt es einen Unterschied zwischen der Reaktion auf Desinformationen (Verbreitung von falschen Informationen mit der Absicht, in die Irre zu führen – Red.) und Fehlinformationen (falsche Informationen, die unabsichtlich verbreitet werden – Red.)?

Das hängt davon ab, was unter „Desinformationen“ und „Fehlinformationen“ verstanden wird. Für unsere Faktenchecks spielt es keine Rolle, ob die falsche Behauptung absichtlich oder versehentlich verbreitet wird. Über Motive von Manipulatoren zu spekulieren ist nicht die Aufgabe der dpa-Faktenchecker.

Gesetzmäßigkeiten der Verifikation zu verstehen ist wichtiger als ein bestimmtes Tool anzuwenden

Basiert Ihre Arbeit nur auf Ihrer eigenen Erfahrung oder nutzen Sie die Expertise anderer Medien oder Institutionen, wie zum Beispiel EUvsDisinfo, um Ihre Faktenchecks zu verbessern?

Unsere Faktenchecks basieren fast ausschließlich auf eigener Recherche. Wir lesen viele andere Texte zu unseren Themen. Dies ist ein Teil unserer Arbeit. Wie ich aber bereits sagte, müssen zentrale Punkte unserer Faktenchecks von uns selbst recherchiert werden. EUvsDisinfo spielt keine wichtige Rolle in unserer täglichen Arbeit.

Wer ist Ihrer Meinung nach heute effektiv bei der Bekämpfung von Fakes?

Es ist schwer einzuschätzen, wer heute im Journalismus Fehlinformationen effektiv entgegenwirkt. Auf jeden Fall sind das unabhängige Medien, die Fakten transparent überprüfen, um zu zeigen, welche Behauptungen falsch sind. Entscheidend für die Effizienz im Kampf gegen Desinformationen sind Kompetenzen eines jeden Faktencheck-Teams.

Verifikation bedeutet permanentes Lernen: Techniken und Tools, die das Team lange Zeit genutzt hat, können plötzlich nicht mehr funktionieren. Neue soziale Netzwerke tauchen auf. Oder große Medienunternehmen stoppen über Nacht Recherchemöglichkeiten. Das hat Facebook vor einem Jahr getan, als es seine Suchfunktion Graph Search einstellte. Es reicht nicht aus, dass Faktenchecker und Rechercheure mit einem bestimmten Tool arbeiten können, weil dieses Tool morgen ausgeschaltet werden kann. Viel wichtiger ist es, die Struktur einer Recherche zu verstehen.

Wenn Tatsachenbehauptungen mit Meinungsäußerungen vermischt werden, ist die Verifikation besonders schwierig

Laut einem aktuellen Bericht des Global Engagement Center beim US-Außenministerium stützt sich das System der Desinformation Russlands auf fünf Säulen: offizielle Behördenkommunikation, staatlich finanzierte Informationsdienste, Pflege von Verbreitungsquellen in anderen Ländern, Einsatz von sozialen Medien als Waffe und Cyber-Desinformation. Was passierte laut Ihrer Erfahrung mit Fakes und ihren Hauptquellen in den letzten Jahren?

Ausländische Staatsmedien verbreiten auch in Deutschland absichtlich falsche Informationen. Für unseren Faktencheck bei dpa ist es jedoch weniger relevant, „wer“ etwas behauptet. Wir konzentrieren uns darauf, „was“ behauptet wird und widerlegen Falschbehauptungen. Wir müssen unsere Arbeit so unvoreingenommen leisten, wie es möglich ist.

Welche Art von Falschmeldungen ist heute am schwierigsten zu verifizieren?

Das Überprüfen von Nachrichten, in denen die Tatsachenbehauptungen mit Meinungen stark vermischt werden, ist besonders schwierig. Darüber hinaus ist es oft ein technisches Problem, den Ursprung eines Fotos oder Videos zu finden. Viele Aufnahmen werden zuerst in geschlossenen Messenger-Diensten (WhatsApp, Telegram) geteilt und erst später über offene Netzwerke wie Twitter oder Facebook verbreitet. Dies macht es nahezu unmöglich festzustellen, wer der Autor eines Fotos oder Videos ist.

Welche Schlussfolgerungen können aus Ihren Beobachtungen zur Verbreitung von Desinformationen und Technologien, die bei der Bekämpfung dieses Problems helfen, gezogen werden? Entwickeln sich diese Prozesse mit der gleichen Geschwindigkeit? Wie ist Ihre mittelfristige Prognose?

Es ist die Aufgabe von Journalisten, Falschbehauptungen in den sozialen Netzwerken aufzudecken. Dafür sind nicht nur Faktenchecker verantwortlich. Jeder Journalist sollte in der Lage sein, Grundfähigkeiten der digitalen Recherche und Verifikation anzuwenden. Die meisten Fälschungen können mit diesen Grundtechniken auch in Zukunft aufgedeckt werden. Es kann passieren, dass die Deep Fakes irgendwann so „perfekt“ werden, dass es keine Technologie mehr gibt, um sie aufzudecken. Dann gibt es für Journalisten umso mehr Grund zum Handeln. Sie werden Fähigkeiten wie digitale Recherche, logisches Denken, langjährige Erfahrung in der Faktenprüfung und große Beharrlichkeit brauchen. Je mehr Journalisten diesen Weg gehen können, desto erfolgreicher werden unsere freien Gesellschaften im Kampf gegen Desinformationen sein.

Natalia Kostina, Ukrinform

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