Timoschenko sei ausschließlich um eigene Interessen besorgt – deutscher Publizist Frank Schumann
Zur Eröffnung am Mittwoch, den 10. Oktober, der internationalen Buchmesse – „Frankfurter Buchmesse 2012“ – hat das Buch „Die Gauklerin. Der Fall Timoschenko“ ...
12.10.2012 15:47

Timoschenko sei ausschließlich um eigene Interessen besorgt – deutscher Publizist Frank Schumann

Zur Eröffnung am Mittwoch, den 10. Oktober, der internationalen Buchmesse – „Frankfurter Buchmesse 2012“ – hat das Buch „Die Gauklerin. Der Fall Timoschenko“ des deutschen Publizisten und Verlegers Frank Schumann die Welt erblickt. Dem deutschen Verlag Edition Ost nach wird das Buch zur ersten deutschen Ausgabe, die der ehemaligen Ministerpräsidentin der Ukraine Julia Timoschenko gewidmet ist, ohne Rücksicht auf ihre Biographie. Noch vor seiner Veröffentlichung hat das Buch ein außergewöhnliches Interesse hervorgerufen, denn es stellt ein für den Westen atypisches kritisches Herangehen an Timoschenkos Persönlichkeit dar. Darüber, was den deutschen Publizisten dazu bewegt hat, dieses Buch zu schreiben, über seine Eindrücke von dem, was in der Ukraine erblickt und gehört wurde, erzählte Frank Schumann in seinem Interview der UKRINFORM.

- Herr Schumann, wie und wann ist es Ihnen eingefallen, ein Buch über Timoschenko zu schreiben? Und wie lange hat es eigentlich gedauert?

- Für die Sache Timoschenko habe ich mich dann interessiert, wann in deutscher Presse immer häufiger Berichte und Meldungen darüber veröffentlicht wurden, dass ein unschuldiger Politiker in der Ukraine gesetzwidrig verfolgt wird. Es gibt aber nichts Seltsames darin, dass ein Machtwechsel in der Politik juristische Folgen hat. In Deutschland war das zweimal der Fall: nach 1945 und nach den 1990er. Im zweiten Fall, in den 1990er, wurde es zum Beispiel eine Untersuchung gegen 300 000 ehemalige DDR-Bürger eingeleitet. Die Rechtsprechung in der Ukraine tut folglich dasselbe, was in Deutschland getan wurde: die Vergangenheit wird erarbeitet. Deshalb hat mir die örtliche Reaktion, wann eine massenhafte Solidarität mit Timoschenko zum Ausdruck kam, ein bisschen heuchlerisch geschienen. Hier fing man einstimmig an, sie als die „Schuldlosigkeit selbst“ darzustellen, die man als eine Kämpferin für Demokratie und Menschenrechte verfolgt. Die Ermittlung und Verurteilung erwiesen sich als Erscheinung des Eigenwillens und der Diktatur. Mich hat nicht nur eine Einseitigkeit von Berichten und Meldungen, sondern auch eine groteske Vereinfachung: die Schöne und das Biest getroffen. Deshalb habe ich das getan, was jeder Journalist tun sollte: ich bildete meine eigene Meinung. Für die Suche nach Materialien in der Ukraine sowie für das Schreiben des Buches habe ich drei Monate verbraucht.

- Wo haben Sie nach Materialien gesucht und wer gehörte zu den interessantesten Gesprächspartnern? Wurden Sie bei Ihrer Arbeit von jemandem gestört oder, ganz umgekehrt, sogar unterstützt?

- Das war das Erste, was mich überrasch hat. Der offiziellen deutschen Auslegung nach haben wir in der Ukraine doch mit einem Diktaturregime zu tun, und das, wie wir wissen, mag es nicht, wenn man es verfolgt. Ich aber habe praktisch ab sofort eine Ja-Antwort auf meine per Fax an die Staatsanwaltschaft nach Kiew gesendete Bitte erhalten. Infolgedessen konnte ich zwei Stunden lang mit dem ersten Stellvertreter des Generalstaatsanwalts, Renat Kusmin, kommunizieren. Dann wurde ich vom stellvertretenden Vorsitzenden des Strafvollzugsdienstes der Ukraine, Serhij Sydorenko, empfangen. Er hat mich gefragt, was ich sehen möchte. Ich hab geantwortet: die Kiewer U-Haftanstalt, wo Timoschenko vom August bis zum Dezember 2011 in Haft gehalten wurde, das Frauengefängnis in Charkiw und das Eisenbahnerkrankenhaus. Ich möchte auch mit ihr persönlich verkehren. Meine letzte Bitte hat Sydorenko aber abgelehnt, denn, seinen Worten nach, die Ärzte begrenzten die Anzahl von Besuchen der Ex-Premierin auf ein Minimum. Ich konnte aber mit Belegschaft des Gefängnisses sowie mit anderen Häftlingen kommunizieren. Dazu noch, habe ich eine Gelegenheit erhalten, die ehemaligen Mitkämpfer von Timoschenko, ihren ehemaligen guten Freund (Geschäftsmann Juri Bober – red.) sowie den Sohn des 1996 ermordeten Politikers Jewhen Schtscherban zu treffen. Kusmin hat mir gesagt, in dieser Sache wegen des Mordes werde auch gegen Timoschenko ermittelt: per ihr Bankkonto sollten die Mörder bezahlt werden. Die Fakten, die er mir genannt hat, schienen mir ziemlich überzeugend.

- Warum haben Sie, Herr Schumann, Timoschenko in ihrem Buch als eine „Gauklerin“ bezeichnet? Ist das Ihr eigener Eindruck oder können Sie das beweisen?

- Ich glaube, hier sei eine Grenze zu ziehen. Ich bin kein Rechtsanwalt und kein Staatsanwalt, deshalb brauche ich nicht etwas zu „beweisen“. In der deutschen Sprache bedeutet das Wort „Gaukler“ ein „Zauberkünstler“, das heißt ein Mensch, der durch seine magischen Tricks amüsiert und das Publikum dazu zwingt, daran zu glauben, was es in der Tat nicht gibt. Julia Timoschenko ist, meiner Meinung nach, eine wunderbare Schauspielerin, die dazu noch PR-Kunst ausgezeichnet beherrscht hat. Sie spielt eine verfolgte Schuldlosigkeit, eine Wohltäterin, eine hingebungsvolle Kämpferin für Gerechtigkeit und Menschenrechte, für die die liebe Heimat das teuerste auf der Welt ist. Dabei ist sie ausschließlich um ihre eigenen Interessen besorgt: sie will aus dem Gefängnis los. Selbstverständlich hat sie dafür Recht, denn jeder Mensch möchte frei sein. Timoschenko hat aber gegen das Gesetz verstoßen. Ihrerzeit hat sie mit 5000 Rubel in der Tasche einen Videoverleih errichtet, ein Jahr danach stellte sie sich bei Protektion des damaligen Ministerpräsidenten Pawlo Lasarenko an die Spitze des Energiekonzerns EESU (Vereinte Energiesysteme der Ukraine), ihr Kapital stieg bis auf Hunderte Millionen US$. Was meinen Sie, wäre es möglich, für eine so kurze Zeit ein solches Geld ehrlich zu verdienen. Eine solche Bereicherung erreicht man immer durch verbrecherische Verfahren. In der Ukraine war das in 1990er der Fall, damals ging man sogar über Leichen. Die Konkurrenten wurden einfach ermordet, wie einst im Wilden Westen. Derzeit versucht man, meiner Meinung nach, das alles auf rechtlichem Wege Schritt für Schritt zu ermitteln und zu erarbeiten. Wie man sich aber gegenüber Timoschenko verhält ist zweifellos undemokratisch! Die Zellen von anderen Häftlingen sehen nicht so prächtig aus, wie Timoschenkos Zelle. Die Weiber in der Strafkolonie sollen arbeiten, sie haben alle zusammen in einem Speiseraum zu essen, während das Essen für Timoschenko aus einem Restaurant gebracht wird. Außerdem arbeitet sie nicht, mit ihrer Behandlung beschäftigen sich mehrere Ärzte. Die ganze Etage im Krankenhaus wurde extra für sie neuausgestattet. Das bezeichne ich als undemokratisch, denn die Verletzung des Elementarprinzips der Gleichberechtigung liegt auf der Oberfläche.

- Das heißt, Ihrer Meinung nach, das Urteil über Timoschenko sei mit Recht gefällt worden?

- Ich bin davon überzeugt, dass Frau Timoschenko auf Kosten des ukrainischen Volkes reich wurde. Das haben auch die anderen Politiker getan und sie tun das gewiss auch jetzt weiter. Sie hat aber ihre politische Stellung missbraucht. Bei der Demokratie bedeutet ein politisches Mandat die Macht für eine bestimmte Zeitdauer, deren Hauptziel in der Entwicklung der Gesellschaft besteht. In der Ukraine, und nicht nur dort, haben die Präsidenten und Ministerpräsidenten den Staat als eine Art von Selbstbedienungsgeschäft betrachtet, das zum Zweck der Selbstbereicherung ausgenutzt werden konnte. Der Ex-Ministerpräsident Lasarenko hat dafür neun Jahre Haftstrafe in den USA erhalten, die Ex-Regierungschefin Timoschenko in der Ukraine – sieben Jahre Haftstrafe. Es sei bewiesen worden, sie dachten an eigenen Wohlstand mehr, als an Entwicklung des Staates, wozu eigentlich sie gewählt worden waren.

- Julia Timoschenko haben Sie also nicht treffen können? Macht das Ihr Buch vielleicht auf eine bestimmte Weise nicht vollwertig?

- Und wann, Ihrer Meinung nach, können wir ein Buch als vollwertig bezeichnen? Dieser Logik nach dürfte man nicht, ein Buch über den Vatikan ohne Audienz des Papstes herausgeben. Was Frau Timoschenko denkt und sagt, lese ich Tag für Tag dank ihrer PR-Abteilung in deutschen Zeitungen. Über die Menschen, die mit ihr zu tun haben, die ihr aber nicht zu allem ja sagen und gegen ihr kritisch sind, findet man in unseren Massenmedien kaum was zu lesen. Um eine Einseitigkeit meiden zu können, sei das Wort auch der anderen Seite zu erteilen. Nur ein solches gemeinsames Herangehen erlaubt es, ein volles und differenziertes Bild zu schaffen.

- Wie krank ist, Ihrer Meinung nach, Julia Timoschenko? Welche Rolle spielen bei dieser Sache die Ärzte der Charité?

- Auf meine Frage, ob Timoschenko wirklich so krank ist, wie man uns darin zu überzeugen versucht, haben einige Ärzte nur hochnäsig gelächelt. Mehr haben sie nichts gesagt, indem sie sich auf ärztliche Schweigepflicht berufen haben. Ich habe ein interessantes Gespräch mit dem Chefarzt des Zentralen klinischen Krankenhauses Charkiw, Mychailo Afanasjew, einem herzlichen und liebenswürdigen Mann, gehabt, der die deutschen Ärzte in Schutz genommen und beliebige politischen Kommentare abgelehnt hat. Dann habe ich ihn gefragt, ob er eine solche Situation sich vorstellen könnte: einen deutschen Häftling brachte man nach Charité, er lehnt die Leistungen von deutschen Ärzte ab und fordert ukrainische Ärzte. Die letzten kommen nach Berlin, schätzen das Krankenhaus ein, erarbeiten einen Therapieplan, dessen Verwirklichung für örtliche Mediziner und Ärzte zur Pflicht wird. Dann besuchen die ukrainischen Ärzte von Zeit zu Zeit Charité in Begleitung von Journalisten, sie prüfen nach, ob ihre Anweisungen erfüllt werden. Auf meine Frage hat Afanasjew nur geantwortet, seine Einbildungskraft sei in dieser Hinsicht noch nicht so stark entwickelt.

- Halten Sie Timoschenko für eine charismatische Persönlichkeit? Welche Gefühle erweckt sie bei Ihnen, vielleicht – Respekt und Mitleid?

- Ich halte Timoschenko für eine talentvolle Politikerin, die, was die Intelligenz anbetrifft, den meisten ihrer ukrainischen Kollegen überbietet. Überdurchschnittlich zu sein bedeutet es nicht sittlicher bzw. menschlicher zu sein. Hier muss ich zugeben, die Politik und die Sittlichkeit verdrängen sich einander. Deshalb kann man sagen, es reicht, wenn die Politiker in jedem Fall vertrauenswürdig sind. Meiner Überzeugung nach ist Timoschenko in keinem Fall vertrauenswürdig. Ob ich Respekt vor ihr habe? Wofür denn? Dafür, dass sie sich die Taschen gescheit gefüllt hat, dass sie sich der gegenwärtigen Staatsführung auf den Kopf gesetzt hat? Das einzige, was mich rein beruflich entzückt, das ist ihre Meisterschaft Journalisten und Politiker, besonders im Westen, für sich zu gewinnen. Öffentlichkeitsarbeit hat sie so wie niemand mehr beherrschen können. Aber: säße der Westen ihr zu Füßen, wenn sie eine Burka trüge?

 

- Warum gibt es im Westen so wenig kritischer Meinungen im Fall von Timoschenko?

 

- Es gibt welche, nicht aber in den Spalten der Zeitungen. In der Publizistik endet Meinungsvielfalt dort, wo die politischen Interessen ihren Anfang haben. Seinerzeit wurde das Duo Timoschenko-Juschtschenko im Westen gutgeheißen, wenn es den Beitritt zur EU sowie zur NATO zu seinem Vorrang erklärt hatte. Wenn aber die neue demokratisch gebildete Regierung erklärte, sie möchte zu einer Brücke zwischen dem Osten und dem Westen werden und hatte nicht vor, nach der Konfrontierung mit Russland zu suchen – wozu der Beitritt zur NATO führen könnte – begann es der Westen sich von Kiew zu distanzieren. Um das begründen zu können, war die Strafsache von Timoschenko einfach erforderlich. Hätte es keine gegeben, so hätte man etwas anderes erfunden. Und Timoschen hat das schnell kapiert und für ihre Zwecke ausgeschlachtet, was sie eigentlich auch jetzt fortsetzt. Sie erlaubte es dem Westen sich auszunützen und derzeit nützt sie den Westen in ihren egoistischen Interessen aus.

- Hinter Gitter befindet sich in der Ukraine nicht nur Timoschenko, sondern auch einige anderen Oppositionellen. Ist die Ukraine, Ihrer Meinung nach, ein demokratisches Land, oder stellen Sie das in Frage?

- Mir ist kein einziger Land bekannt, wo alles nach Recht und Billigkeit vorgeht. Der Staat und seine Herrschaftsinstrumente sind immer repressiv, sie werden immer für Verwirklichung des Willens herrschender Klasse eingesetzt. Im Falle einer idealen Demokratie wird diese politische Klasse durch die Mehrheit gewählt, in bezug auf die Minderheit ist das eine Repression. Häufiger aber ist alles umgekehrt: die Minderheit herrscht und unterdrückt die Mehrheit. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Ukraine ein „normales“ Land. Sie ist nicht mehr und nicht weniger despotisch, als die anderen europäischen Länder. „Die oppositionellen Politiker“ werden hinters Gitter seltener dafür gebracht, dass sie eine andere, als die amtierende Regierung, politische Meinung haben, häufiger dafür aber, dass sie gegen das Gesetz verstoßen haben, denn sie haben doch gedacht, das Gesetz gelte für sie nicht, sie seien doch etwas besonderes. Die Ermittlungen gegen Timoschenko waren auch während der Präsidentschaft von Juschtschenko der Fall, als sie Ministerpräsidentin war. Verurteilt wurde sie schon bei seinem Nachfolger, als sie „in der Opposition“ war, d.h. sie war durch die Wähler entmachtet. Eine wichtige Voraussetzung für Demokratie ist das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, d.h. Ausführung von Gesetzen, im schlimmsten Fall auch durch Repressivmaßnahmen. Mit Rücksicht darauf entwickelt sich in der Ukraine, wie es scheint, das, was wir kritisch, unvoreingenommen aber verfolgen können. Zusammengefasste Meinungen und Dämonisierung sind hier fehl am Platz.

- Ihre Prognose: was wartet auf Timoschenko in den nächsten Jahren?

- Sie überschätzen meine Fähigkeit als Vorsehers. Davon ausgehend, dass Julia Timoschenko unbedingt ernst anzunehmen ist und dass sie nicht zu unterschätzen ist, betrachte ich mehrere Varianten. Die erste: die Parlamentswahlen werden die Staatsmachtänderung zur Folge haben, man wird Timoschenko aus der Haft entlassen, und sie kann in die Politik zurückkehren werden. Die zweite: nichts wird sich ändern, man kann zulassen, der Präsiden wird Timoschenko einmal begnadigen. Das wäre verständlich, nicht aber demokratisch. Das wird einem kleinen Menschen nur noch einmal vorzeigen: wer laut schreit, wer genug Geld hat, der wird seinen Willen durchsetzen. Im Falle mit Reichen und Würdenträgern steht die Gnade über das Recht, was das Prinzip der Gleichberechtigung wiederum verletzt. Die dritte Variante, die ich für die wahrscheinlichste halte: nach einer gelungenen Behandlung – wie es in einem Rechtsstaat sein sollte – wird Timoschenko zwei Drittel der Strafzeit unter gewöhnlichen Bedingungen (nicht aber unter Sanatoriumsbedingungen, wie jetzt) verbüßen und zum bürgerlichen Leben von Millionären zurückkommen. 

mk

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