Michael Fazekas, SECI-Exekutivkoordinator
Der Wiederaufbau der Ukraine wird das größte Wirtschaftsprojekt der Welt sein
04.04.2023 09:21

Die Ukraine befindet sich aufgrund der groß angelegten russischen Invasion im Jahr 2022, die in einem der größten Länder Europas zu Tod und Zerstörung geführt hat, wie es sie in den letzten 80 Jahren nicht gegeben hat, in einer schwierigen humanitären Lage. Daher kann die Südosteuropäische Kooperationsinitiative (SECI) laut ihrem Exekutivkoordinator Michael Facekas nicht abseits stehen und wird die Menschen in der Ukraine in ihrem Kampf gegen einen brutalen Aggressor bis zum vollständigen Sieg über den Feind weiter unterstützen. SECI hat internationale Zentren für ukrainische Flüchtlinge in Rumänien, Ungarn und Moldawien eingerichtet und finanziert diese. Sie leistet auch humanitäre Hilfe für ukrainische Gemeinden, die von den aktiven Feindseligkeiten betroffen sind. Darüber hinaus bemüht sich SECI darum, die weltweit führenden Unternehmen für den Wiederaufbau der Ukraine zu gewinnen, und fördert die aktive Integration des Landes in die EU. Dies und mehr erfahren Sie in unserem Interview mit Herrn Facekas.

Können Sie uns mehr über die von SECI durchgeführten Projekte erzählen?

SECI ist eine multilaterale, internationale Initiative von 29 OSZE-Staaten, die nach dem Krieg in Jugoslawien gegründet wurde, um die Länder Südosteuropas bei ihrer wirtschaftlichen Entwicklung zu unterstützen. Auch die Ukraine gehört zu den Ländern, die sich an dieser Initiative beteiligen. Deshalb sehen wir es nicht nur als unsere Pflicht, sondern auch als eine Ehre an, der Ukraine in dieser schrecklichen Zeit zu helfen.

Eines der Hauptziele von SECI ist zum Beispiel die wirtschaftliche Entwicklung des Verkehrs, Transport, Energie, Sicherheit, Umwelt und des Privatsektors. Eines unserer jüngsten Projekte ist der Ausbau der Eisenbahnverbindungen zwischen 8 südosteuropäischen Ländern und ihre Integration in das EU-Verkehrssystem.

Wie beurteilen Sie die Arbeit der Ukrzaliznytsia in der Kriegszeit und welchen Platz kann sie in der Zukunft der europäischen Eisenbahnprojekte einnehmen?

Was den Personenverkehr der Ukrzaliznytsia angeht, so sind die ukrainischen Züge auf jeden Fall viel pünktlicher als in vielen EU-Ländern. Die Züge kommen nicht nur pünktlich an, sondern die Bahn erholt sich auch sehr schnell von Beschuss und Bombardierung. Dies ist eine bemerkenswerte Leistung der Ukrzaliznytsia und ein großes Verdienst ihres Managements. Mit Bedauern habe ich letzte Woche erfahren, dass Ukrzaliznytsia-Chef Kamyshin zurückgetreten ist. Ich bin der Meinung, dass er viel für die Entwicklung von Ukrzaliznytsia getan hat.

Welche weiteren Bereiche der Zusammenarbeit mit der Ukraine sehen Sie?

Wir stehen heute in Kontakt mit vielen ukrainischen Institutionen, wie Ministerien, Regionen, Bürgermeistern, Kommunalverwaltungen, Industrie- und Handelskammern und Unternehmen, und mit der ukrainischen Botschaft in Wien als auch mit der ukrainischen Delegation bei der OSZE. Ich hatte vor kurzem ein Treffen mit dem ukrainischen Botschafter und seinem unmittelbaren Stellvertreter, und die Arbeit zwischen SEKI und den ukrainischen Beamten ist recht lebhaft. Und ich möchte betonen, und das ist mein persönlicher Eindruck, dass der Botschafter und seine Kollegen wie echte Löwen für die Verteidigung der Interessen der Ukraine kämpfen.

Unmittelbar nach Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine haben wir beschlossen, noch stärker insbesondere mit der Ukraine und den Staaten, die direkt an die Ukraine angrenzen - Ungarn, Rumänien und Moldawien – zusammenzuarbeiten, denn in diese Länder ist ein großer Zustrom ukrainischer Flüchtlinge geflossen. Heute sind dort die durch uns finanzierten Unterstützungszentren für ukrainische Vertriebene tätig.

Wie viele solcher Zentren haben Sie insgesamt?

Wir unterstützen und finanzieren die Arbeit von fünf temporären Unterbringungszentren: eines in Rumänien, in der Stadt Siret, zwei in Ungarn, in Budapest und Zahony, und zwei in Moldawien, in Palanca und Chisinau.

Wie viele Ukrainer sind derzeit dort untergebracht? Und wie viel Geld ist bereits finanziert worden?

Was die Verteilung der Vertriebenen betrifft, so befanden sich im Jahr 2022 etwa 80.000 Menschen in der ungarischen Stadt Záhony, 60.000 in Budapest, 560.000 in Sziret, 700.000 in Palanca und 200.000 in Chisinau. Dort werden die Menschen aufgenommen, ihre Dokumente werden bearbeitet, und sie erhalten eine erste finanzielle und rechtliche Unterstützung. Von der Notunterkunft aus ziehen sie dann in andere Regionen oder an Orte mit festem Wohnsitz weiter. Das Projektbudget beläuft sich derzeit auf ca. EUR 3 Mio. Leider ist ein kurzfristiges Ende des Krieges nicht zu erwarten. Daher sind wir uns bewusst, dass wir die Arbeit dieser Zentren weiterhin unterstützen und finanzieren müssen. Andererseits gehen wir davon aus, dass viele Flüchtlinge irgendwann in die Ukraine zurückkehren werden.

Ich möchte es nicht Integration von Vertriebenen nennen, aber der Hauptaspekt unserer Arbeit in den temporären Unterbringungszentren besteht darin, den Menschen ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln und ihnen normale Lebensbedingungen in den Aufnahmeländern zu bieten. Den Eltern soll es ermöglicht werden, zu arbeiten, und den Kindern, die Schule zu besuchen.

Damit tragen Sie aber auch dazu bei, dass die Ukrainer in den Aufnahmeländern bleiben und sich allmählich assimilieren. Wie kann die Ukraine den Verlust von Humanressourcen verhindern?

Ich betone, dass unsere Aufgabe nicht in der Integration besteht, sondern darin, den Vertriebenen zu helfen, damit sie sich nicht als Fremde fühlen, damit sie ein normales Leben unter normalen Bedingungen führen können, damit ihre Kinder normal aufwachsen und sich entwickeln können. Die Ukraine sollte die Erfahrungen anderer Länder berücksichtigen, die ebenfalls mit ähnlichen Problemen der kriegsbedingten Massenmigration konfrontiert waren.

Während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien gab es beispielsweise das Phänomen, dass hochgebildete Bürger des Landes massenhaft ihre Heimat verließen und in andere westeuropäische Länder gingen. Leider wirkte sich dies später auf das Tempo und die Wirksamkeit des Wiederaufbauprozesses der Balkanstaaten aus. In den letzten Jahren haben wir die Rückkehr hochqualifizierter Arbeitskräfte in die Länder des ehemaligen Jugoslawien beobachtet, da dort bereits anständige Arbeitsplätze mit angemessener Bezahlung geschaffen wurden. Das heißt, die Ukraine sollte sich schon jetzt Gedanken darüber machen, wie sie ihre hochqualifizierten Arbeitskräfte und deren Familien nach dem Krieg nach Hause bringen und vor allem, wie sie sie halten und ihnen angenehme Bedingungen schaffen kann. Diese Entscheidungen dulden keinen Aufschub.

Die Ukraine hat jetzt eine große Chance, einen bedeutenden Entwicklungssprung zu machen

Ich denke, dass der Wiederaufbauprozess in der Ukraine viel schneller verlaufen wird als in den Balkanländern, weil es sich um das größte Wirtschaftsprojekt seit 1945 handelt. Ich hoffe wirklich, dass die EU und die USA die günstigsten Bedingungen dafür schaffen werden. Ich spreche nicht von den Bürgern der Ukraine, die als erste an der Wiederherstellung ihres Landes interessiert sein werden. Daher gehe ich davon aus, dass der Prozess der Rückführung von qualifiziertem Personal in die Ukraine recht aktiv sein dürfte. Zum einen werden Ukrainer zurückkehren, die sich am Wiederaufbau ihres Landes beteiligen wollen, und zum anderen ukrainische Staatsbürger, die im Ausland in Unternehmen arbeiten, die Geschäftsinteressen in der Ukraine haben werden.

Welche Fehler sollten wir Ihrer Meinung nach im Wiederaufbauprozess vermeiden?

Die Europäer müssen erkennen, dass die Ukraine durch ihr Leiden und ihre Opfer das Recht erworben hat, zu den führenden europäischen Nationen zu gehören.

Heute hat die Ukraine die Sympathie und Unterstützung der gesamten westlichen Welt, und das darf unter keinen Umständen verloren gehen. Die Ukraine ist ein Teil Europas, und ich bin überzeugt, dass sie auch zur europäischen Gemeinschaft gehören wird.

Im Gegenzug müssen die Europäer lernen, dass die Ukraine durch ihr Leiden und ihre Opfer das Recht verdient hat, zu den führenden europäischen Nationen zu gehören. Daher ist es unsere größte Pflicht, Sie auf diesem Weg zu unterstützen.

Es ist wichtig zu verstehen, dass die Ukraine trotz des furchtbaren Angriffskriegs jetzt eine große Chance hat, einen bedeutenden Entwicklungssprung zu machen. Aufgrund der Globalisierung haben viele westliche Unternehmen ihre Produktionen und Dienstleistungen nach Asien verlagert. Die Pandemie und der Krieg haben jedoch die Geschäftslogistik und die Transportverbindungen gestört, so dass es wahrscheinlich ist, dass westliche Unternehmen sich neu orientieren und ihre Produktion zurückholen werden - und die Ukraine kann davon profitieren. Zumindest, weil sie Teil der westlichen Welt ist und über ein starkes berufliches und unternehmerisches Potenzial verfügt.

Ihre Organisation hilft nicht nur den Bürgern, sondern auch den Unternehmen. Welche Initiativen bieten Sie an?

Unsere Organisation besteht seit 1996, und im Laufe der Zeit sind neue Mitgliedsländer hinzugekommen, und natürlich mussten wir uns nicht nur mit politischen und sozialen Fragen, sondern auch mit der wirtschaftlichen Zusammenarbeit befassen. Deshalb wurde beschlossen, einen Wirtschaftsbeirat zu gründen, in dem mehr als 100 große Unternehmen aus der gesamten Welt vertreten sind. Dieser Beirat ist ein Bindeglied zwischen der Politik und der globalen Wirtschaft. (Streichen: da ihm große Privatunternehmen angehören, die weltweit tätig sind).

Ist der Wirtschaftsbeirat eher eine Plattform für den Erfahrungsaustausch oder für die Suche nach Investoren? Was sind seine Ziele?

Das Interesse an der Ukraine ist derzeit sehr groß, weil jeder weiß, welch enormer Wiederaufbau in naher Zukunft zu erwarten ist.

Das Hauptziel ist die Zusammenarbeit mit der Geschäftswelt der Mitgliedsländer. SECI kann nicht direkt in unternehmerische Projekte investieren, aber private Unternehmen können dies mit unserer Unterstützung und Hilfe tun.

Daher besteht unsere Hauptaufgabe darin, Kontakte herzustellen und die Bemühungen zu koordinieren. Als Vertreter der Organisation treffe ich mich beispielsweise mit Politikern, regionalen Gouverneuren und Bürgermeistern, dem Team des Wirtschaftsministeriums und dem Leiter der Industrie- und Handelskammer in der Ukraine, um Bereiche der Zusammenarbeit zu ermitteln, in denen wir dazu beitragen könnten, Unternehmen und private Investitionen aus den SECI-Mitgliedsländern für verschiedene Projekte in der Ukraine zu gewinnen.

Wie würden Sie das derzeitige Interesse potenzieller Investoren an der Ukraine und ihre zukünftige Erholung beschreiben?

Glauben Sie mir, das Interesse an der Ukraine ist im Moment sehr groß, denn jeder ist sich bewusst, dass in naher Zukunft ein enormer Investitions- und Sanierungsaufwand zu erwarten ist. Ich bin nicht bereit, die Höhe der potenziellen Investitionen zu nennen, aber es könnte sich – über viele Jahre gerechnet – um mehrere Billionen Dollar handeln. Natürlich wird es nach dem Ende der Feindseligkeiten viele Unternehmen geben, die an einer Tätigkeit in der Ukraine interessiert sind. Für uns ist es aber wichtig, dass diese Unternehmen und Organisationen nicht auf das Ende des Krieges warten, sondern jetzt schon mit der Hilfe beginnen, zum Beispiel mit humanitären Projekten, aber vor allem auch mit Investitionen vor Ort, um Arbeitsplätze zu schaffen.

An welchen Branchen sind Sie besonders interessiert?

Ich kann nur über die Arbeit unserer Organisation sprechen. Das Thema, mit dem wir uns bereits beschäftigen, ist die Entwicklung des Verkehrs-, Transport- und Energiesektors in der Ukraine. Wir sehen das Interesse vieler international tätigen Unternehmen; die in ihren Bereichen Europamarkt- bzw. Weltmarktführer sind, wie z.B. Plasser&Theurer, Andritz, Umdasch, Frequentis und Kirchdorfer. (Streichen: Es beschäftigt sich mit der Entwicklung der Eisenbahninfrastruktur in Europa. Daher hat es bestimmte Investitionspläne für die Ukraine als Teil der europäischen Verkehrskorridore).

Im Rahmen Ihrer humanitären Arbeit kommunizieren Sie viel mit Menschen aus vom Krieg betroffenen Regionen. Welche Geschichte hat Sie am meisten beeindruckt und inspiriert?

Wir müssen jetzt Schulter an Schulter mit Ihnen stehen, um dieses Übel zu überwinden.

Im Rahmen der humanitären Hilfe von SECI gab es natürlich viele Treffen und Projekte. Wir lieferten und liefern weiter Generatoren, medizinische Ausrüstung, Güter für Kinder und Computerausrüstung in die entvölkerten Regionen. Es gab viele verschiedene Geschichten, ich kann keine davon herausgreifen. Aber ich muss zugeben, dass ich von den Ukrainern sehr beeindruckt bin. Ich hatte zum Beispiel ein Gespräch mit dem Chefarzt eines Kinderkrankenhauses in Tschernihiw, der mir erzählte, dass er während der Besatzung zehn Monate lang Kinder im Keller des Krankenhauses operiert hat, weil er wegen des Beschusses keine Operationen in den Operationssälen durchführen konnte.

Gleichzeitig führte der Stromausfall zu Risiken bei solchen Operationen. Das sind Geschichten und Erfahrungen, die wir Europäer uns in den letzten 80 Jahren nicht hätten vorstellen können, sie sind für uns sehr schwer. Allmählich begreifen wir, dass solche schrecklichen Dinge auch im Nachbarland geschehen. Wir dachten, dass nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Entwicklung in Russland in Richtung einer Demokratisierung der Gesellschaft gehen würde, aber es hat sich das Gegenteil herausgestellt. Und jetzt haben wir den verräterischen Angriff Russlands auf die Ukraine. Ich bin überzeugt, dass wir mit Ihnen Seite an Seite stehen müssen, um dieses Übel zu überwinden.

Marina Nechyporenko, Kyjiw

Foto: Yulia Ovsyannikova

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