Herr Botschafter, zu Beginn möchte ich mit einer allgemeinen Frage starten, bevor wir auf konkrete Themen eingehen. Wie hat der Krieg Russlands gegen die Ukraine die Weltordnung beeinflusst? Im Bericht des österreichischen Verteidigungsministeriums heißt es, dass die Welt „aus den Fugen geraten“ sei. Stimmen Sie dieser Einschätzung zu, und wohin bewegt sich diese entgleiste Welt Ihrer Meinung nach?
Der Begriff „die Welt ist aus den Fugen geraten“ stammt von Shakespeare. Ich würde ihn nicht unbedingt verwenden. Ebenso würde ich den Begriff „Zeitenwende“, wie ihn Olaf Scholz verwendet hat, nicht übernehmen. Ich würde sagen, wir befinden uns in einer Zwischenzeit.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat keine neue Ordnung geschaffen, sondern die alte zerstört. Das bedeutet, dass niemand genau weiß, wie die kommende Ordnung aussehen wird.
Es ist eine Aufforderung, wieder für Stabilität in der Welt zu sorgen. Diese Stabilität wird jedoch nur funktionieren, wenn klar ist, auf welchen Grundlagen sie aufgebaut ist. Genau darum geht es auch in diesem Krieg in der Ukraine: Soll es wieder Einflusssphären von Großmächten geben? Soll es ein neues „Jalta“ geben? Oder soll jeder Staat die Möglichkeit haben, selbst zu entscheiden, welche Position er in dieser neuen Weltordnung einnehmen will? Das ist eine sehr komplizierte und schwierige Frage. Aber ich glaube, dass dies die Richtung ist, die wir einschlagen müssen.
Und wie bewerten Sie die transatlantischen Beziehungen derzeit, insbesondere nach dem Wechsel der US-Administration und ihrem neuen Ansatz in diesem Bereich?
Ich denke, dass das, was Präsident Trump in den letzten Monaten getan hat, unverantwortlich ist, insbesondere im Hinblick auf die transatlantischen Beziehungen. Seine Haltung zum russischen Krieg gegen die Ukraine ist ebenfalls unverantwortlich.
Positiv zu sehen ist jedoch, dass Europa erneut aufgefordert ist, autonomer zu werden und selbst zu handeln. Ich glaube, dieser Aufruf ist laut genug, um tatsächlich umgesetzt zu werden. Es wird sich daran zeigen, wie Europa die Ukraine weiterhin unterstützt – jetzt und auch nach dem Krieg.
Ob damit das transatlantische Verhältnis oder die westliche Ordnung aufgelöst ist, würde ich nicht sagen. Ich glaube, die westliche Ordnung mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist stärker als die derzeitige US-Administration. Zudem sieht man innerhalb der US-Administration durchaus unterschiedliche Positionen.

Und welche Zukunft hat die NATO?
Ich habe nicht geglaubt, dass Emmanuel Macron recht hatte, als er sagte, die NATO sei „hirntot“. Sie hat bewiesen, dass sie das einzig relevante Sicherheitsbündnis in Europa ist. Aber ich glaube auch nicht denen, die sagen, dass eine Aufrüstung der NATO um 400 Prozent langfristige Stabilität in Europa herstellen würde.
Verteidigungsfähigkeit ist wichtig, und hier ist die NATO der entscheidende Akteur. Ich bin auch dafür, dass Österreich möglichst eng mit der NATO zusammenarbeitet. Letztlich ist die Zukunft der Sicherheit jedoch eine politische Frage, die hinter dem Militärischen steht.
Die Ukraine ist ein gutes Beispiel dafür: Militärisch hätte man annehmen können, dass dieser Krieg nicht lange dauert, weil Russland überlegen ist. Aber es stand der politische Wille dahinter, die Ukraine zu verteidigen, und diesen hat Russland offenbar unterschätzt.
Das gilt auch für Gesamteuropa: Neben dem Militärischen braucht es den politischen Willen zu einem freien Europa.
Was den Krieg Russlands gegen die Ukraine betrifft, war meiner Meinung nach der entscheidendste Punkt der Wille des Ukrainischen Volkes, gegen die Russen zu kämpfen.
Ich meine nicht den Willen der Politiker, sondern den politischen Willen. Politischer Wille bedeutet für mich, dass die Gesellschaft dies will – selbstverständlich. Die Menschen wollen das und sind dazu bereit.
Genau das ist der Punkt, wo ich denke, dass wir im Westen Europas noch viel von der Ukraine lernen können. In der Ukraine zeigt sich ein gemeinsamer Wille, die staatliche und nationale Souveränität zu verteidigen oder wiederherzustellen, und das ist nicht selbstverständlich. Deshalb hoffe ich, dass die Ukraine auch für die Zukunft Europas eine sehr positive Rolle spielen wird.
Und wenn ich über die Zukunft der NATO fragte, meinte ich hier vor allem die Haltung der USA, den sogenannten Trump-Faktor. Kann das Bündnis ohne die USA existieren?
Die USA werden sehr sicher nicht aus der NATO austreten. Sie profitieren auch von ihren Stützpunkten in Europa, insbesondere wenn es um die Auseinandersetzung mit Asien, China oder Russland geht. Diese Stützpunkte sind für sie sehr wichtig.
Was sie zu Recht fordern, ist, dass der europäische Teil der NATO gestärkt wird. Der Beitrag Europas muss größer werden. Trump verhandelt in all diesen Dingen mit Maximalforderungen, so wie er es offenbar aus seinen Immobiliengeschäften gelernt hat. Das gilt für Zollfragen ebenso wie für die NATO und militärische Fragen.
Ich denke, die NATO wird ein transatlantisches Sicherheitsbündnis bleiben, weil dies im beiderseitigen Interesse liegt.
Besteht die Aussicht, dass neue regionale Sicherheitsbündnisse in Europa entstehen, insbesondere mit Beteiligung der Ukraine?
Ich hoffe, dass dies möglich sein wird.
Wir haben in Wien mit der OSZE einen schlafenden Riesen, der eigentlich nie ein Riese war. Die OSZE basiert auf dem Einstimmigkeitsprinzip, hat kaum Sanktionsmöglichkeiten und war beim Monitoring, auch in der Ukraine, nicht besonders erfolgreich. Man wird das neu konzipieren müssen.
Die Hoffnung war, dass es langfristig gelingt, eine Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands aufzubauen. Das ist derzeit nicht absehbar, aber wir sollten verhindern, dass ein neuer Eiserner Vorhang entsteht, bei dem die freie Ukraine eindeutig auf der Seite des Westens stünde, während Russland, Belarus und vielleicht andere auf der anderen Seite wären. Das müssen wir vermeiden. Ich bin gegen sogenannte Einflusssphären der Großmächte und gegen eine Jalta-Lösung, bei der ein Eiserner Vorhang in Europa entsteht.
Vielleicht ist das zu optimistisch, aber ich glaube, dass es die Möglichkeit für eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur gibt, die gut vorbereitet werden muss. Die zentrale Frage ist, wie man Russland in ein solches System integriert und unter welchen Voraussetzungen.
Meiner Ansicht nach ist das größte Problem der OSZE die Beteiligung Russlands. Und was die künftige Sicherheitsarchitektur und Zusammenarbeit mit Russland betrifft, herrscht in der Ukraine hingegen die Überzeugung, dass eine massive Betonmauer mit einem Graben voller Krokodile notwendig wäre.
Ich verstehe diese Position. Wenn ich Ukrainer wäre, würde ich vermutlich ähnlich argumentieren.
Aber wenn man nicht nur die Landkarte, sondern auch die Geschichte dieses Kontinents betrachtet, sieht man, dass es trotz fürchterlicher Kriege letztlich nur funktioniert hat, wenn man versucht hat, alle wieder einzuschließen. Das beste Beispiel ist der Wiener Kongress von 1814–1815. Napoleon war besiegt, aber die anderen Großmächte haben Frankreich wieder in die Verhandlungen eingebunden. Das waren ebenfalls fürchterliche Kriege.
Ich sage nicht, dass wir jetzt schon entscheiden sollten, wie wir nach diesem Krieg mit Russland umgehen. Doch es ist wichtig, auch einen Schritt voraus zu denken.
Ich bin überzeugt, dass es in der Ukraine Überlegungen gibt, wie man künftig mit diesem Nachbarn, der nicht verschwindet, zusammenleben kann. Eine Betonmauer mit Graben und Krokodilen mag im Krieg nützlich sein, aber nach dem Krieg?
In der jetzigen Situation haben Sie recht, wenn Sie sagen, dass das Problem der OSZE die Beteiligung Russlands ist. Gleich nach Kriegsbeginn hat man in anderen Organisationen überlegt, was man mit Russland macht. In der Donaukommission wurde Russland, soweit ich weiß, suspendiert. In anderen Organisationen ebenfalls. In der Donaukommission hat man sogar überlegt, die Kommission zu beenden und eine neue zu gründen, da man niemanden ausschließen kann. Das ist eine radikale Situation, ich verstehe das völlig.
Aber erlauben Sie mir zu sagen, als Diplomat hat man eine gewisse Erfahrung, was den Umgang auch mit Bösewichten betrifft. Die entscheidende Frage wird natürlich sein, wie geht es mit der Macht und der Herrschaft in Russland weiter.

Ich stimme Ihnen zu, dass man über die Zukunft mit Russland erst dann sprechen kann, wenn Putins Regime nicht mehr existiert. Die zentrale Frage lautet daher: Wie stabil ist Putins derzeitiges Regime, und welche Szenarien sind nach seinem Ende vorstellbar?
Das Putin-Regime hat sich als sehr stabil erwiesen, was die Unterstützung in der Bevölkerung betrifft. Aber ich halte dies nur für eine Folge der autoritären und diktatorischen Politik, die Putin seit 2000 verfolgt hat. Diese Stabilität ist erzwungen, weil es keine unabhängige Justiz gibt und Oppositionspolitiker immer wieder eingesperrt oder umgebracht werden. Es ist eine erzwungene Stabilität.
In Russland gibt es jedoch die Erfahrung, dass Revolutionen über Nacht möglich sind. Ich bin sicher, dass der Kreml und Putin das wissen. Russland ist ein Land, in dem Revolutionen sehr schnell passieren können. Ich denke etwa an die wenigen Tage, als die Wagner-Söldner Richtung Moskau marschierten. Ich erinnere an dieses Live-Interview im Fernsehen, als Putin sichtlich Furcht hatte, dass die Wagner-Söldner Moskau erreichen und seine Macht gefährden könnten. Das zeigt, dass die Stabilität in Russland erzwungen ist und jederzeit kippen kann.
Ich möchte Sie noch zur Zukunft der Europäischen Union fragen. Wie sollte die Vision für die EU aussehen?
Als Analytiker bin ich sehr skeptisch. Als politischer Mensch hoffe ich, dass die EU eine gute Zukunft haben wird.
Analytisch gesehen hat die Europäische Union immer dann Erfolg gehabt, wenn sie Schritt für Schritt auf mehr Vereinigung und politisches Zusammenleben hingearbeitet hat. Das hat auch funktioniert, und Erweiterungen waren möglich. Doch jetzt ist ein Punkt erreicht, an dem eine Grundsatzentscheidung getroffen werden muss: Wird die EU tatsächlich eine politische Union oder nicht? Der Austritt Großbritanniens hat dies erleichtert, da die Ablehnung einer politischen Union eines der Hauptargumente der Brexit-Befürworter war. Dennoch spürt man derzeit nicht, dass eine Mehrheit der Mitgliedstaaten bereit ist, eine politische Union anzustreben.
Das ist sehr heikel. Es könnte dazu führen, dass die EU letztlich auf eine Handels- und Wirtschaftsunion zurückgebaut wird.
Wir haben Strukturen, bei denen wir zu Recht versuchen, alle 27 Mitgliedstaaten von Änderungen zu überzeugen. Das wird jedoch zunehmend schwieriger. Als Vertreter eines kleinen Staates erwarte ich nicht, dass die österreichische Regierung – egal wie sie zusammengesetzt ist – auf das Einstimmigkeitsprinzip bei fundamentalen Fragen der EU verzichten wird. Das gilt auch für andere kleinere Mitgliedstaaten.
Daher bleibt der EU letztlich nur der Weg, den ich fast als altösterreichisch-habsburgisch bezeichnen würde: auf Wienerisch „Durchwurschteln“ – auf Englisch „to muddle through“. Das bedeutet, pragmatische Lösungen zu finden, um alle an Bord zu halten, ohne große Schritte zu machen. Das ist der derzeitige Zustand der EU.
Das ist nicht ideal, denn zweitens steht die EU vor der entscheidenden Frage, wie sie ihre Wirtschaftsmacht, Innovationskraft und ihr Know-how in Wettbewerbsfähigkeit umwandeln kann. Hier ist Europa bisher nicht weit gekommen.
Es gibt zwar hervorragende Berichte, etwa von Enrico Letta oder Mario Draghi, die seit einem Jahr vorliegen, aber kein Mitgliedstaat hat diese wirklich ernsthaft aufgegriffen. Als Analytiker bin ich daher ziemlich skeptisch, was die Weiterentwicklung der EU angeht. Als politischer Mensch bin ich jedoch überzeugt, dass die EU einen Weg finden wird – vermutlich durch „muddle through“, also kleine Schritte nach vorne.
Wie sehen diese kleinen Schritte aus?
Kleine Schritte bedeuten, den Binnenmarkt endlich zu vollenden. Es gibt noch viel zu tun, besonders im digitalen Bereich und bei überflüssigen Regulierungen, die einen offenen Markt behindern. Viele „vested interests“ von Großunternehmen, Mitgliedstaaten oder Landwirten bremsen dies aus. Hier müssen wir weiterarbeiten – kleine, aber machbare Schritte. Zweitens muss Frontex und damit der EU-Außengrenzschutz gestärkt werden. Das ist mehrheitsfähig und notwendig. Nur durch gemeinsame Kontrolle und Integration können wir in der Integrationsarbeit vorankommen.
Die EU kann also mit kleinen Schritten vorwärtsgehen. Aber wenn Sie mich fragen, ob Europa so einer der Pole in einer multipolaren Welt sein kann – auf diese Weise wird Europa kein Pol sein. Sondern, wie ich bereits erwähnt habe, eher die Beute am Tisch der Raubtiere. Wir kennen die Namen der Raubtiere, und es ist zu befürchten, dass Europa den großen Schritt zu einem gemeinsamen Agieren in außen- und wirtschaftspolitischen Fragen nicht machen wird, obwohl ich ihn für absolut notwendig halte.
Sollte EU nicht auch ein Verteidigungsbündnis werden?
Wenn ich von Außengrenzschutz spreche, meine ich natürlich auch die Verteidigungsfähigkeit Europas gegen äußere Feinde. Hier machen wir pragmatische Fortschritte: Höhere Verteidigungsbudgets in nahezu allen Mitgliedstaaten und ein EU-Verteidigungskommissar stärken die europäische Rüstungsindustrie, etwa durch Lieferketten mit befreundeten Staaten. Ich hoffe, diese Schritte sind schnell genug.
Vor Kurzem war ich in Estland, in Narva an der Grenze zu Russland, wo ein Angriff auf einen NATO-Staat denkbar ist. Dort wird klar, dass Europa verteidigungsfähiger werden muss. Mittel- und osteuropäische Länder, wie die baltischen Staaten, Polen, aber auch Slowakei, Ungarn und Rumänien, sind nun Frontstaaten – eine neue Realität.
Nicht alle dieser mittel- und osteuropäischen Frontstaaten haben die gleiche Meinung über Europa und seine Verteidigung. Im Moment ist es mit Ungarn und der Slowakei schwierig. Wobei die Slowakei sich zumindest politisch um eine proeuropäische Haltung bemüht, während Ungarns Regierungschef davon profitiert, antieuropäisch aufzutreten und sich Freunde im europakritischen Lager sucht.
Zum Einstimmigkeitsprinzip und Ungarn unter Orbán: Was kann man tun, um zu verhindern, dass ein einzelnes Land wichtige Entscheidungen im Rahmen eines gemeinsamen Kurses blockiert?
Die EU geht hier ziemlich kreativ vor. Das Einstimmigkeitsprinzip bedeutet nicht unbedingt, dass alle zustimmen müssen. Es gibt Fälle von konstruktiver Enthaltung – Österreich hat sich einmal konstruktiv enthalten – oder jemand ist bei der Abstimmung nicht im Raum. Solche pragmatischen Lösungen sollten genutzt werden. Aber bei den wirklich großen Fragen müssen alle 27 Mitgliedstaaten überzeugt werden, sonst droht die EU auseinanderzufallen. Das kann niemand wollen.
Nun zur Neutralität – kein Interview in Österreich ohne diese Frage. Können Sie erläutern, warum die Neutralität für Österreicher so wichtig ist und als Teil der österreichischen Identität gilt, obwohl sie ursprünglich von außen aufgezwungen wurde? Welchen Nutzen bringt sie, und schützt sie das Land tatsächlich?
Es ist interessant, dass im kollektiven Gedächtnis Österreichs vergessen wurde, dass die Neutralität nicht freiwillig war, sondern eine Bedingung der Sowjetunion für den Abzug ihrer Truppen aus Ostösterreich. Dennoch haben wir 1955 freiwillig das Neutralitätsgesetz beschlossen. Warum ist sie heute Teil der Identität? Dafür gibt es drei Gründe.
Erstens gab es seit 1955 keinen Krieg in dieser Region, und viele Österreicher verbinden dies mit der Neutralität, auch wenn sie keinen direkten Schutz bietet. Zweitens hat die Neutralität Österreich zu einem Ort der Vermittlung und Verhandlung gemacht. Wir sind der einzige UNO-Sitz in der EU und haben 50 internationale Organisationen, was ohne Neutralität nicht möglich gewesen wäre. Drittens wird die Neutralität mit dem Wohlstand des Wohlfahrtsstaates assoziiert.
Vermutlich sind alle drei Argumente ziemlich gute Mythen, ziemlich gute Erfindungen, aber sie prägen das Narrativ eines wirtschaftlich erfolgreichen und gesellschaftlich stabilen Österreichs.
Der Krieg in der Ukraine hat jedoch die Sicherheitslage verändert, und nun wird diskutiert, ob die Neutralität wirklich schützt und was sie bedeutet: Ist sie ein identitätsstiftendes Merkmal – oder ob wir nicht vielmehr darauf schauen müssen, wie wir die Bevölkerung schützen können.
Und dafür braucht es mehr, als nur zu sagen: „Wir sind neutral“.
Die Diskussion ist da, und sie wird in Österreich nicht verschwinden. Ich denke, wie die Politik bisher darauf reagiert hat, ist durchaus vernünftig. Wir interpretieren das Neutralitätsgesetz sehr nach unseren politischen Interessen – das macht Österreich eigentlich schon seit 1955.
Wir sind sofort den Vereinten Nationen beigetreten, später der Europäischen Union. Wir verhindern nicht, dass militärische Unterstützung durch, über und mit Österreich auch in die Ukraine gelangt.
Das heißt, wir haben eigentlich die wesentlichen Bestandteile eines neutralen Staates – nämlich zwischen allen Fronten zu stehen – aufgegeben. Was wir derzeit noch haben, ist die militärische Neutralität: keine fremden Truppen auf österreichischem Territorium und keine Mitgliedschaft in einer Militärallianz. Das ist der verbliebene Rest der Neutralität.
Und die österreichische Bevölkerung scheint damit zufrieden zu sein, dass die Politik sagt: Wir sind natürlich weiterhin neutral – auch wenn sich diese Neutralität faktisch nur noch auf diesen Restbestand beschränkt.
Kann oder soll Österreich auch in Zukunft neutral bleiben?
Wenn es uns gelingt, in diese Richtung weiter Politik zu machen – also moralisch, politisch und wirtschaftlich keinen Neutralitätskurs zu fahren, sondern nur die militärische Restneutralität beizubehalten und gleichzeitig eng mit der NATO zusammenzuarbeiten, dann spricht nichts dagegen, dass wir den Mythos der Neutralität weiterhin über die österreichischen Alpen erklingen lassen.
Sollte jedoch eine Diskussion aufkommen wie: „Sollen wir wirklich mit anderen zusammenarbeiten – wir sind doch neutral?“ Oder: „Sollen wir wirklich die Ukraine unterstützen – wir sind doch neutral?“ Dann wäre das ein Fehler. Das würde Österreich schaden, und dagegen sollte man entschieden vorgehen.
Am Montag war der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, zu einem offiziellen Besuch in Wien und dankte unter anderem Österreich für die Unterstützung des ukrainischen Volkes. Wie beurteilen Sie insgesamt diesen Besuch? Sehen Sie Raum dafür, dass Österreich seine Unterstützung für die Ukraine verstärken kann, ohne dabei seine Neutralität zu verletzen?
Der Besuch von Präsident Selenskyj hat der österreichischen Staats- und Regierungsspitze die Möglichkeit geboten, die volle österreichische Solidarität mit der Ukraine zu unterstreichen und Wien als Ort für Friedensgespräche anzubieten. Für die bilateralen freundschaftlichen Beziehungen war dieser Besuch wichtig. Wir sind kulturelle Nachbarn in Mitteleuropa. Österreich könnte und sollte daher seine humanitäre und finanzielle Unterstützung der Ukraine weiter verstärken. Die militärische Neutralität bleibt davon unberührt
Hier gibt es natürlich einen gewissen Spielraum. Man könnte der Ukraine noch mehr finanzielle Unterstützung zukommen lassen. Zweitens: Es wird derzeit versucht, sich stärker im Bereich des Wiederaufbaus der zerstörten Teile der Ukraine zu engagieren. Dafür wurde ein Sonderkoordinator, angesiedelt im Außenministerium, bestellt. Auch die Wirtschaftskammer arbeitet intensiv daran, österreichische Unternehmen auf die zukünftige Unterstützung der Ukraine vorzubereiten. Alles, was diesen wirtschaftlichen Bereich betrifft, könnte also noch verstärkt werden – ohne Probleme mit der Neutralität.
Indirekte Unterstützung der Ukraine besteht auch darin, wie stark die Armeen der europäischen Staaten sind – je stärker diese Armeen, desto besser für die Ukraine -, und dazu zählt auch Österreich. Wir müssen uns militärisch besser aufstellen, ebenso im Bereich der hybriden Kriegsführung, etwa beim Thema Desinformation. Da kann Österreich noch viel tun – ohne dass das mit Neutralität kollidiert.

Was die Teilnahme Österreichs an der EU-Ausbildungsmission für die ukrainischen Streitkräfte betrifft: Wäre das eine Verletzung der Neutralität?
Ich denke, das wäre noch mit der Neutralität vereinbar. Es gibt dazu unterschiedliche juristische Einschätzungen. Letztlich ist es aber eine politische Entscheidung. In vielen Neutralitätsfragen haben wir uns nicht zuerst mit Juristen beraten, sondern uns gefragt: Was ist gut für Österreich? Was ist politisch richtig? Und dementsprechend gehandelt. Es gibt ja auch Juristen, die sagen, dass der Transport von NATO-Kriegsmaterial durch Österreich nicht mit der Neutralität vereinbar sei – und Österreich hat es dennoch getan.
Wie bewerten Sie die Politik Österreichs gegenüber Russland über die Jahrzehnte hinweg, und hat sich die Haltung seit Beginn des russischen Angriffskriegs verändert?
Österreich wurde international wiederholt für eine zu russlandfreundliche Haltung kritisiert. Ich habe ein gewisses Verständnis dafür, da wir tatsächlich in vielerlei Hinsicht Verbindungen zu Russland hatten, die weder vernünftig noch nachhaltig waren.
Seit den 1960er Jahren war Österreich der erste westliche Staat, der über eine Pipeline mit russischem Gas versorgt wurde. Bis heute ist eine der systemrelevanten Banken Österreichs in Russland aktiv, mit großen Schwierigkeiten, die dort bestehen. Zudem gab es stets politische Akteure, die eine besondere Beziehung zu Russland betonten – teils begründet mit dem Staatsvertrag von 1955 und dem Abzug der Roten Armee, teils mit der Vorstellung einer kulturellen Verständigung zwischen Österreichern und Russen, die ein Sonderverhältnis zur Sowjetunion und später zu Russland rechtfertigen sollte. Überraschend ist aber, dass es in Wirklichkeit wenig echte kulturelle Verbindungen gibt, abgesehen davon, dass russische Musik bis heute unsere Konzertsäle prägt.
Und daraus entstand der Vorwurf, wir seien eine „fünfte Kolonne“ im Westen. Hinzu kommt, dass zahlreiche russische Diplomaten, die in Wien tätig waren oder vielleicht noch sind, nicht legal agierten. Das hat Österreichs Ruf in Bezug auf sein positives Verhältnis zu Russland geschadet.
Meiner Ansicht nach hat sich diese Haltung zu Recht stark geändert – nicht nur wegen des Krieges, obwohl er einen wesentlichen Einfluss hatte, sondern vor allem, weil Russlands Politik durchweg aggressiv ist, auf Spaltung und Schwächung Europas abzielt. Ein Staat wie Österreich kann dabei weder mitmachen noch untätig zusehen. Diese Erkenntnis hat sich inzwischen durchgesetzt.
Wenn Sie mich fragen, was ich über eine ehemalige Außenministerin denke, die jetzt einen G.O.R.K.I Think-Tank in St. Petersburg mit Unterstützung des russischen Außenministeriums betreibt, dann kann ich Ihnen nur sagen, ich bin froh, dass sie ausgewandert ist. Und ich bin einmal kritisiert worden, weil ich gesagt habe, man könnte eigentlich prüfen, ob sie noch die österreichische Staatsbürgerschaft behalten kann und ob das nicht unseren nationalen Interessen widerspricht. Ich sage das hier nicht noch einmal, aber ich bin froh, dass sie dort ist. Sie kann, wie kürzlich beim Moskau-Forum 2050 mit Herrn Lawrow auftreten, und sagen, was sie will – das hat glücklicherweise nichts mehr mit der österreichischen Außenpolitik zu tun.
Seit dem Herbst 2024 bezieht Österreich kein russisches Erdgas mehr. Ein österreichischer Bekannte sagte mir damals im Herbst, dass Österreich durch diesen Schritt endlich frei geworden ist. Teilen Sie diese Einschätzung?
In Wirklichkeit wissen wir oft nicht genau, welches Erdgas oder Öl wir beziehen – die Rohstoffe tragen keine Flagge. Daher ist die Frage schwer eindeutig zu beantworten. Innerhalb der EU werden jedoch zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um den Anteil russischer Rohstoffe deutlich zu reduzieren. Österreich unterstützt, soweit ich weiß, aktiv das 18. Sanktionspaket, das aktuell vorbereitet wird und sich unter anderem gegen die Schattenflotte sowie indirekte Öl- und Gastransporte richtet. Eine vollständige Unabhängigkeit ist noch nicht erreicht, aber das politische Ziel besteht zweifellos.
Die Unterstützung der Ukraine durch ihre Partner ist oft schrittweise und begrenzt, "um Putin nicht zu provozieren". Dadurch kommt die Hilfe für die Ukraine teils zu spät oder in unzureichendem Umfang. Sollte man von diesem Ansatz, Putin nicht zu verärgern, abweichen?
Diese Kritik an einem zu zögerlichen Vorgehen halte ich für absolut berechtigt. Sie hat bislang keine positiven Ergebnisse gebracht. Man denke nur an die Versuche des deutschen Bundeskanzlers und des französischen Präsidenten, mit Putin in freundlichem Ton zu sprechen. Das Resultat war, dass Putin darin eher Schwäche als Stärke Europas erkannt hat.
Ich habe Putin stets so erlebt, dass er nur Stärke als positives Signal anerkennt und nur bereit ist, mit jemandem zu verhandeln, der Stärke zeigt. Das ist auch entscheidend für die Frage, ob es zu Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine kommen kann. Nur wenn die militärische Unterstützung entschlossen und nicht zögerlich erfolgt, gibt es eine reale Chance auf ernsthafte Gespräche.
Das muss man auch Trump immer wieder deutlich machen. Ich habe den Eindruck, dass er langsam selbst erkennt, wie sehr er an Putins langer Leine hängt – und ich glaube nicht, dass ihm das gefällt.
Noch eine letzte Frage: Das Ende des Krieges liegt in den Händen einer einzigen Person – Wladimir Putin. Wenn er morgen beschließt, die Invasion zu stoppen, wäre der Krieg beendet. Die Frage ist: Wie kann man ihn zu einer solchen Entscheidung bewegen?
Zunächst wünsche ich jedem Ukrainer, dass es gelingt. Das ist der entscheidende Punkt. Wie kann man auf Putin einwirken? Natürlich kann man versuchen zu verstehen, was in seinem Kopf und im Kreml vor sich geht. Viele Analysten sagen, man dürfe ihm nicht das Gefühl geben, verloren zu haben. Er müsse der russischen Bevölkerung erklären können, dass er gesiegt habe, dass der Tod Hunderttausender – auch russischer Soldaten – nicht umsonst war.
Ich bin mir nicht sicher, ob die Ukraine oder der Westen hier wirklich Einfluss nehmen können – oder ob das überhaupt der richtige Ansatz ist. Aus meiner Sicht sollte unser Ziel klar sein: die Ukraine so stark zu unterstützen, dass es zu Verhandlungen zum Ende des Krieges im Interesse der Ukraine und Europas kommen kann. Und das geht nur über entschlossene Unterstützung – politisch, wirtschaftlich, militärisch – und über ein möglichst einheitliches Auftreten.
Da sprechen wir einen wunden Punkt an: In der EU gibt es tatsächlich ein, zwei, drei Staaten, die glauben, man müsse Putin freundlich begegnen, um sich wirtschaftliche Vorteile zu sichern. Ich halte das für völlig falsch.
Der Krieg kann nur beendet werden durch maximale Unterstützung der Ukraine und durch möglichst enge Zusammenarbeit mit der US-Administration – selbst wenn das nicht immer einfach ist. Wichtig ist, dass keine falschen Signale nach Moskau gesendet werden – weder von europäischen Hauptstädten noch aus Washington.
Das garantiert kein sofortiges Kriegsende. Aber es ist der einzig gangbare Weg dorthin.
Wassyl Korotkyj, Wien