Brigadier i. R. des Bundesheeres Österreichs, Dr. Walter Feichtinger, ist in deutschsprachigen Medien ein bekannter Militärexperte, insbesondere bei dem Thema Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Einen erheblichen Teil seines Dienstes verbrachte der Offizier im akademischen Bereich und leitete bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2020 fast 20 Jahre lang das Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement der Landesverteidigungsakademie in Wien. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zu Verteidigungsthemen, insbesondere einer Dissertation zum Thema „Streitkräfte als Instrument zur Lösung innerstaatlicher Konflikte“. Er war auch als Sicherheits- und Verteidigungsberater im Bundeskanzleramt Österreich tätig.
In einem Interview mit dem Ukrinform-Korrespondenten in Wien erzählte Walter Feichtinger, wie der russische Krieg und einige seiner Folgen im Expertenumfeld Österreichs, zumindest in seinem militärischen Teil, wahrgenommen werden.
Viele Experten im Westen, auch hier in Österreich, hielten eine groß angelegte russische Invasion in die Ukraine für unwahrscheinlich, trotz aller militärischen Vorbereitungen Moskaus. Auch in Ihrem Interview vom 21. Januar 2022 rechneten Sie "in absehbarer Zeit" nicht mit einem Einmarsch Russlands in die Ukraine. Ist es Putin gelungen, die westliche Expertengemeinschaft zu täuschen?
Wenn man das rückblickend betrachtet, dann ist es höchstwahrscheinlich auch so, weil wir uns in Europa einen Krieg dieser Art nicht mehr vorstellen konnten und auch nicht vorstellen wollten.
Ich habe zwar selbst gesehen, was im Donbass passiert. Ich war zuletzt im Jahr 2019 dort. Das war für mich eigentlich damals schon sehr erschreckend. Aber es war doch die Hoffnung, dass man den Krieg räumlich sehr begrenzt halten kann. Und daher wurde dieser große russische Aufmarsch falsch interpretiert.
Auch aus einer anderen militärischen Überlegung heraus. Denn mit diesen Kräften wäre es nicht möglich gewesen, und das hat sich auch so gezeigt, die ganze Ukraine zu erobern.
Aber offensichtlich gab es ein anderes russisches Kalkül. Nämlich dass die Gegenwehr so schwach sei, dass es gelingen könnte, rasch die Herrschaft über die Ukraine zu übernehmen.
Eine weitere Fehlprognose der westlichen Expertengemeinschaft und auch Nachrichtendienste war, dass die Ukraine im Falle eines umfassenden Krieges Russland nicht einmal für einige Tage standhalten könnte. Wie lautete hier Ihre Prognose? Hätten Sie am 24. Februar 2022 gedacht, dass in zwei Jahren die Russen immer noch Dörfer und Kleinstädte irgendwo in der Region Donezk stürmen würden?
Ich habe damals die ukrainischen Streitkräfte nicht als schwach eingeschätzt.
Überhaupt nicht. Vor allem auch, weil ich den Eindruck hatte, wie der Kampf in Donbass geführt wird und mit welcher Professionalität und Intensität die ukrainischen Kräfte ihren Auftrag erfüllen.
Daher bin ich nicht davon ausgegangen, dass die Ukraine ganz schnell militärisch einknicken würde, und das hat sich auch in weiterer Folge gezeigt.
Aber insgesamt war das doch eine Zeit von vielen Irrtümern, vor allem auch auf russischer Seite, weil man eben den Widerstandswillen der Ukraine und die Widerstandsfähigkeit des ukrainischen Militärs total falsch eingeschätzt hat.
Was waren Ihrer Meinung nach die entscheidenden Faktoren dafür, dass die Ukraine in den ersten Tagen und Wochen überleben und die russische Invasion aufhalten konnte?
Entscheidend war sicher, dass es nicht gelungen ist, die Luftlandung im Norden der Hauptstadt Kyiv wie geplant durchzuführen und auszubauen und von dort einen raschen Stoß in die Hauptstadt zu führen. Also das war sicher ein großes Verdienst der ukrainischen Streitkräfte, das zu erkennen und zu verhindern.
Somit war der russische Generalplan zum Scheitern verurteilt und wir haben dann gesehen, wie binnen weniger Wochen ein neuer Einsatzplan entwickelt wurde. Und dieser Plan hat vorgesehen, nun doch die Ostukraine an mehreren Fronten anzugreifen. Gerade vom Süden her waren sie erfolgreicher, als das vermutet wurde, von der Krim, sowie Richtung Mariupol und Kherson.
Wie würden Sie die Taktik und die Strategie der russischen Militärführung im Krieg gegen die Ukraine im Allgemeinen bewerten?
Generell ist zu erkennen, dass hier ein ständiger Lernprozess stattfindet. Wir hatten eine erste Phase, das war der gescheiterte „Enthauptungsschlag“. Die zweite Phase war eine rasche Eroberung von großen Gebieten. Das hat vor allem deshalb funktioniert, weil es an vielen Stellen keine entsprechende ukrainische Gegenwehr gegeben hat.
Und als sich dann die Ukraine auf diese Situation einstellen konnte, ist der russische Angriff komplett in Stocken geraten. Wir haben dann im Norden bei Kharkiv und im Süden bei Kherson gesehen, dass die ukrainischen Kräfte auch wieder viel Gelände zurückgewinnen konnten.
Also es ist ein ständiges Hin und Her. Was wir dann leider im Winter von 2022 auf 2023 schon erlebt haben, das ist diese Abstandskriegsführung, wo Russland mit Raketen und Marschflugkörpern in die Tiefe des Raumes wirkt und versucht, kritische zivile Infrastruktur und vor allem auch militärische Logistikbasen zu zerstören.
Diese Art der Kriegführung hat man in der Anfangsphase sicher nicht erwartet. Sie ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass operative Erfolge auf dem Gefechtsfeld ausgeblieben sind und russische Kräfte durch die ukrainische Gegenoffensive in Bedrängnis geraten sind.
Und jetzt in diesem Winter und auch aktuell erleben wir diese strategische Kriegführung in die Tiefe zum zweiten Mal. Absicht dürfte sein, möglichst viel zu zerstören und die Moral zu brechen.
Ich bin davon überzeugt, dass die Doppelstrategie von Kampf an der Front und Luftschläge in die Tiefe eine Überforderung und Aufsplittung der ukrainischen Kräfte und damit auch Demoralisierung verfolgt.
Und was halten Sie von der Vorgehensweise der ukrainischen Militärführung? Gab es Aspekte, die Sie überrascht haben oder die Ihre Erwartungen übertroffen haben?
Überraschend war, dass es gelungen ist, eine so lange Frontlinie, und wir reden hier von 1200 Kilometern, zu halten und eine Stabilisierung der Lage herbeizuführen. Trotz massiver russischer Vorstoßversuche konnte Russland keine weiteren größeren Geländegewinne erzielen. Punkt eins.
Punkt zwei ist es der Ukraine gelungen, in kürzester Zeit unbekannte Waffensysteme zu integrieren und einzusetzen. Das hat viele westliche Experten komplett überrascht, weil man meinte, dass es Wochen und Monate dauert, bis man so unterschiedliche Systeme beherrscht. Offensichtlich sind die ukrainischen Soldaten äußerst geschickt und können sehr rasch mit fremden Waffen umgehen.
Und ein dritter Aspekt ist, wie auch die Zivilbevölkerung die Kriegführung unterstützt, indem sie zum Beispiel Drohnen baut. Das konnten sich nur wenige vorstellen und zeigt wieder, wie widerstandsfähig dieses Land und seine Bevölkerung sind. Damit kann man sich auch gegen einen überlegenen Gegner erfolgreich zur Wehr setzen.
Wie würden Sie die derzeitige Lage auf dem Schlachtfeld beschreiben?
Es ist eine sehr angespannte Situation, weil einerseits die Ukraine natürlich unter gewissen Versorgungsdefiziten leidet. Die Hilferufe sind nicht zu überhören und das schon seit Monaten.
Die Ukraine ist bei der Luftabwehr, vor allem aufgrund dieses riesigen Territoriums und der vielen Städte und Zentren, die es zu schützen gilt, bei weitem überfordert. Deswegen können auch russische Luftschläge immer wieder durchdringen und großen Schaden verursachen. Die russische Seite versucht, die derzeitige Schwächephase für eigene Erfolge zu nutzen.
Die Situation spitzt sich zunehmend zu, weil jetzt doch die Zusage der amerikanischen Seite gekommen ist, weitere Waffen und Munition zu liefern. Russland weiß genau, dass es für seine Armee viel, viel schwieriger werden wird, sobald diese Systeme eintreffen.
Daher ist jetzt ein großer Zeitdruck auf russischer Seite, rasch noch vorzustoßen, bevor diese Systeme eintreffen. Auf ukrainischer Seite wird das Kalkül dominieren: Können wir jetzt unsere letzten Reserven verschießen, um genau das zu verhindern? Können wir uns darauf verlassen, dass in den nächsten Tagen und Wochen tatsächlich mehr Munition und neue Geräte kommen?
Deswegen erwarte ich in nächster Zeit eine Zunahme der Kampfhandlungen, weil es für Russland darum geht, dieses Schwächemoment für sich zu nutzen und die Ukraine das verhindern oder begrenzen möchte.
Was sind Ihrer Meinung nach die unmittelbaren militärischen Ziele der Russen? Und wie schätzen Sie die Entwicklung in den nächsten Monaten ein?
Auf strategischer Ebene dominiert die Zielsetzung, die Ukraine weiterhin zu schwächen und in ihrer Handlungsfähigkeit einzuschränken. Deswegen gibt es immer wieder diese gezielten Luftschläge in die Tiefe, wo es darum geht, nachhaltigen Schaden anzurichten und die Bevölkerung zu zermürben. Das ist die eine Sache. Das ist die strategische Kriegführung in der Tiefe.
An der operativen Front schaut es danach aus, dass die russischen Truppen versuchen, den gesamten Donbas zu erobern und im Norden Richtung Kharkiv vorzugehen. Also Kharkiv ist noch weit entfernt, das ist mir schon klar, aber offensichtlich wird das Schwergewicht in den Nordosten verlegt. Dabei versucht man, an verschiedenen Abschnitten vorzustoßen, um bessere Ausgangspositionen für einen weiteren Angriff zu schaffen.
Gehen Sie davon aus, dass die Russen nach wie vor das gesamte Territorium der Ukraine einschließlich der Hauptstadt Kyiv besetzen wollen?
Die offizielle Zielsetzung Russlands ist unverändert. Man will diese Regierung vertreiben, man will „die Nazis“ vertreiben, das Land demilitarisieren und es gibt auch die provokante Behauptung Putins, dass die Ukraine eigentlich gar kein Existenzrecht habe. Daran hat sich nichts geändert.
Das heißt, der rhetorische politische Anspruch auf eine Dominanz über die Ukraine, in welcher Form auch immer, ist ungebrochen. Der besteht weiterhin.
Es dürfte aber auch im Kreml klar sein, dass eine militärische Eroberung der gesamten Ukraine nicht realistisch ist. Die nächsten Ziele werden davon abhängen, wie sich das Gefecht auf dem Boden entwickelt.
Aber insgesamt ist Russland in keine versöhnlichere Position getreten. Es beharrt nach wie vor auf dem Maximum und das ist eben das Einknicken der Ukraine zu Russlands Bedingungen.
Und was denken Sie eigentlich über diese russischen Ziele "der Entnazifizierung und Demilitarisierung der Ukraine"?
Das hat sich längst überholt. Diese Floskeln bleiben bestehen, aber in Wirklichkeit ist das völlig unrealistisch geworden.
Man hat gesehen, dass man die Regierung nicht aus dem Sattel heben kann, ganz im Gegenteil, die Geschlossenheit ist größer denn je.
Außerdem ist der Begriff "Denazifizierung" eine plumpe Anlehnung an den Zweiten Weltkrieg. Das hat mit der Realität überhaupt nichts zu tun.
Daher handelt es sich, wie ich glaube, nur um ein Schlagwort zur Mobilisierung der eigenen Bevölkerung. Auch im Ausland, selbst bei Verbündeten, wird das keine Wirkung erzielen. Es ist eine Mobilisierungsphrase für die Innenpolitik.
Sie haben bereits darauf hingewiesen, dass die Situation einem Stellungskrieg ähnelt. Was denken Sie, was braucht man für die Ukraine, um diesen Stellungskrieg zu überwinden? Sind neue Waffen oder Technologien erforderlich, oder gibt es andere Ansätze?
Es hat vor knapp einem Jahr den Versuch gegeben, große Kapazitäten für eine Gegenoffensive aufzubauen. Wir wissen, dass etwa zwölf Brigaden mit vielen Panzerfahrzeugen und Artilleriegerät formiert wurden, um einen Gegenangriff zu starten. Und das ist letztlich aus verschiedenen Gründen gescheitert.
Ein Hauptgrund war für mich, dass viele Waffen- und Munitionslieferungen sehr spät eingetroffen sind.
Aber nicht nur. Russland hat es geschickt verstanden, die Zeit zu nutzen und einen Befestigungswall zu bauen, der vermutlich alle westlichen Vorstellungen und Befürchtungen übertroffen hat.
Das heißt, was kann man für die Zukunft daraus ableiten? Wird es eine ähnliche Möglichkeit, einen ähnlichen Versuch geben, eine Gegenoffensive zu starten? Das sehe ich nicht in absehbarer Zeit.
Die Rückeroberung von großen Landesteilen ist für mich in absehbarer Zeit keine realistische Option. Das Schwergewicht wird vermutlich auf dem Behaupten des derzeit kontrollierten Territoriums liegen und damit den Frontverlauf mit geringen Einbußen zu halten. Dabei wird es immer wieder Kampfhandlungen um kleinere Ortschaften und Gebiete geben. Ob es tatsächlich zu einer größeren russischen Sommeroffensive kommen wird, bleibt abzuwarten.
Ganz wichtig ist, dass der Schutz in der Tiefe verbessert wird, um diese systematische Zerstörung von russischer Seite sowie das unglaubliche Leid Zivilbevölkerung zumindest zu reduzieren. Deswegen steht für mich die Lieferung von Luftabwehrsystemen an vorderster Stelle, gleichzeitig mit Munition für die Front, damit ein weiterer russischer Vormarsch verhindert werden kann.
Glauben Sie, dass sich die Situation verändern wird, wenn die Ukraine die erwarteten F-16-Kampfjets erhält?
Ich glaube nicht, dass sie die Situation in großem Maßstab verändern. Mit den Jets kann man vielleicht kleine Erfolge erzielen, weil sie z.B. weitreichende Raketen abfeuern können. Sie könnten auch russische Kampfflugzeuge zu mehr Vorsicht zwingen. Dennoch werden diese Kampfflugzeuge zumindest vorerst wahrscheinlich keine große Veränderung bringen, allein deswegen, weil deren Stückzahl zu gering ist.
Für eine tatsächliche Wende würden vermutlich hunderte davon benötigt, um die Bodentruppen so zu unterstützen, dass sie wieder in die Gegenoffensive gehen können. Aber von diesen Zahlen ist keine Rede, das ist auch nicht zu erwarten.
Das heißt, eine punktuelle Unterstützung ist damit sicher möglich. Aber der Zulauf von F-16 ist ja auch schon ein Blick in die Zukunft. Denn mit der Einführung dieser Systeme würde ein Grundstein für eine zukünftige Luftwaffe gelegt, auf den sich aufbauen lässt. Aber da denke ich schon an eine Zeit nach den großen Kampfhandlungen, wenn es darum geht, dass die Ukraine eine Abschreckungsfähigkeit erlangt.
Das neue US-Hilfspaket für die Ukraine könnte auch Langstreckenraketen des Typs ATACMS enthalten? Könnten diese zu einem Wendepunkt werden?
Das ist eine generelle Fragestellung, denn das verbindet sich auch mit dem deutschen Taurus- und allen anderen ähnlichen Systemen. Da geht es um weitreichende Raketen oder Flugkörper, die hunderte Kilometer in die strategische Tiefe wirken und signifikanten Schaden auf russischer Seite bewirken könnten.
Hier stellt sich die Frage, welche Absicht die Ukraine damit verfolgt. Man kann sicher sehr viele, sehr harte Schläge damit führen, wenn man diese weitreichenden Systeme hat. Aber kann man Russland damit in die Knie zwingen? Kann es so geschädigt werden, dass es den Krieg einstellt oder zu Konzessionen bereit ist?
Anders ausgedrückt: wird durch den Einsatz dieser Raketen der politische und militärische Preis für Russland zu hoch?
Das ist vorerst zu bezweifeln.
Bedenken habe ich auch, weil ich davon ausgehe, dass Präsident Putin diesen Krieg einfach braucht. Er braucht den Krieg, um sich an der Macht zu halten. Er hat jetzt das ganze Land und auch die Wirtschaft auf Krieg ausgerichtet. Und es wäre für ihn jetzt vermutlich sehr schwierig, plötzlich zu sagen „Nein, es ist nicht mehr nötig und wir fahren jetzt einen anderen Kurs“. Er würde wahrscheinlich in kürzester Zeit innenpolitisch stark unter Druck geraten.
Aber das Putin-Regime verfügt doch über eine umfangreiche Propagandamaschine. Sie könnten innerhalb von einem oder zwei Monaten die öffentliche Meinung vollständig verändern. Die Leute könnten dann denken, dass ihr Führer die richtige Entscheidung getroffen hat.
Naja, die öffentliche Meinung kann man sicher in hohem Maße beeinflussen. Die Frage ist, wie es dann bei den Eliten insgesamt ausschaut, wie die damit umgehen können. Es gibt sehr viele Kriegsgewinner, wie immer. Seien sie in der Wirtschaft, seien sie in der Politik, seien sie irgendwo. Die könnten dann sagen, eigentlich hat uns der Krieg mehr gedient und mehr gebracht, als wenn wir jetzt in Richtung Frieden gehen.
Das ist in jedem Konflikt so, dass es Gegner eines Friedens gibt, weil sie vom Krieg profitieren. Und deshalb vermuten viele Russland-Experten, dass es mächtige Gruppen gibt, die Putin dann politisch gefährden könnten. Er sei daher gezwungen, den Krieg in irgendeiner Form fortzuführen.
Die deutschen Taurus-Raketen haben Sie erwähnt. Glauben Sie, dass die Bundesregierung ihre Position in dieser Angelegenheit ändern wird?
Deutschland hat sicher eine schwierige Position aufgrund seiner Geschichte.
Und Deutschland hat im Lauf dieses Krieges gezeigt, dass es erstens ein starker Unterstützer der Ukraine ist und zweitens immer mehr gegeben hat als anfangs zugesagt.
Heute ist Deutschland bereits einer der größten Lieferanten von militärischem Gerät. Daher schließe ich nicht aus, dass auch Taurus geliefert wird. Allerdings gibt es hier schon noch größte Vorbehalte und Bedenken.
Das weiß natürlich auch Russland ganz genau. Daher versucht es auch, durch politische Agitation Einfluss auf die politische Debatte und öffentliche Meinung zu nehmen.
Dass sich Kanzler Scholz sehr schwer tut mit dieser Entscheidung ist hinlänglich bekannt. Ich weiß nicht, wer im Hintergrund hier noch entscheidend mitwirkt, aber unterm Strich muss man sagen, dass es eine sehr starke
Unterstützung für die Ukraine gibt. Daher schließe ich nicht aus, dass letztlich auch Taurus geliefert werden könnten.
Es scheint, zumindest aus Sicht der Ukrainer, dass die westlichen Verbündeten der Ukraine zwar Waffen liefern, aber möglicherweise nur in begrenztem Umfang, um die Ukraine vor einer Niederlage zu bewahren, ohne genug zu liefern, um einen Sieg zu ermöglichen. Die Frage lautet, warum das so ist. Hat der Westen Angst vor einer militärischen Niederlage Russlands? Immerhin verfügt der Westen meiner Meinung nach über genügend Waffen, um einen Sieg der Ukraine zu ermöglichen.
Da bin ich mir nicht so sicher. Ich weiß nicht, ob der Westen genug Waffen hat, denn wir haben sie 30 Jahre systematisch abgebaut. Das ist einmal das eine.
Das zweite ist, dass viele europäischen Staaten eine eigentlich simple strategische Frage nicht beantworten wollen. Die simple strategische Frage lautet: wo und wie kann ich mein Land am besten vor den größten Gefahren schützen? Und das größte Risiko stellt derzeit eindeutig Russland dar.
Daher ist zu fragen: Schütze ich mein Land und seine Bevölkerung am besten, indem ich der Ukraine möglichst viel militärische Ressourcen zur Verfügung stelle oder indem man möglichst viel zurückbehält, denn es könnte ja sein, dass auch das eigene Land angegriffen wird.
Dieser Frage entziehen sich die meisten, sie wird nicht beantwortet.
Für mich ist es relativ einfach.
Die militärische Aggression findet gegen die Ukraine auf ukrainischem Territorium statt, die Ukraine ist ein Bollwerk für Europa. Daher volle Aufmerksamkeit und auch volle Unterstützung für die Ukraine. Denn wenn die Ukraine fällt und damit der Feind näher herankommt, sind Risiken und Schaden wesentlich größer.
Und wie sieht es in Österreich mit dieser Frage aus, ob Russland das größte Risiko darstellt? Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine von einer Zeitenwende gesprochen, gab es diese Zeitenwende in Österreich?
Wir erleben auch in Österreich eine Zeitenwende. Am besten kann man das an der Situation des Österreichischen Bundesheeres erkennen. Das Verteidigungsbudget wurde deutlich erhöht, die politische Aufmerksamkeit und das Ansehen der Soldaten in der Öffentlichkeit sind gestiegen. Also in diesem Bereich haben wir auch eine Zeitenwende.
Im öffentlichen Bewusstsein ist sie allerdings noch nicht richtig angekommen. Das bedauere ich sehr, weil wir hier eine gewisse Realitätsverweigerung machen. Daher ist es sehr, sehr wichtig, mit klaren Worten, ohne Panik zu erzeugen, auf die aktuelle Lage aufmerksam zu machen und zu sagen, was Sache ist. Und Sache ist, dass wir einfach 30 Jahre von einer Friedensdividende profitiert haben, aber das war eine Ausnahmesituation.
Die Realität ist, dass es Krieg gibt und Krieg wird derzeit geführt. Daher muss man sich auch dagegen wappnen und darauf vorbereiten. Dabei geht es nicht darum, jemanden zu besiegen, sondern es geht darum, jemanden von einem Angriff abzuhalten. Und das ist etwas, was man der Bevölkerung sehr wohl vermitteln kann.
Die Bundesregierung Österreichs bereitet die neue Sicherheitsstrategie vor, die jedoch noch nicht beschlossen wurde. Wie sehen Sie das? Und was denken Sie, wie sollte Russland in dieser Strategie behandelt werden?
Also es überrascht mich, dass diese Sicherheitsstrategie noch nicht beschlossen wurde, weil an sich liegen ja alle Fakten auf dem Tisch. Und dass man bei einer so wichtigen Materie keinen Konsens finden kann in einer Regierung, das irritiert mich.
Wie sollte Russland behandelt werden? Wie sollte es angesprochen werden? Das ist überhaupt keine Frage. Bedauerlicherweise ist Russland von einem Sicherheitspartner zur größten Bedrohung geworden. Und zwar nicht nur militärischer Natur, sondern insgesamt. Wir sprechen von einer hybriden Machtprojektion, die Russland für seine Interessen einsetzt.
Wir haben vor zehn Jahren in meinem Institut ein Projekt dazu gemacht, weil „hybride Kriegführung“ plötzlich in aller Munde war, seine Bedeutung aber bei uns nicht angekommen ist. Aber es ist offenkundig, dass man so viele Möglichkeiten hat, Macht auf ein anderes Land zu projizieren, um die Funktionsfähigkeit der Regierung und den Zusammenhalt der Gesellschaft zu unterminieren. Das trifft auch Österreich.
Daher müssen wir uns damit auseinandersetzen, das muss auch öffentlich angesprochen werden.
Was die österreichische Unterstützung der Ukraine betrifft, so hilft Österreich sehr viel in der humanitären Sphäre, jedoch nicht im militärischen Bereich, und beruft sich dabei auf seine Neutralität. Was denken Sie, hat Österreich hier Ihrer Meinung nach alle neutralitätskonformen Möglichkeiten genutzt, um der Ukraine bei der Stärkung ihrer Verteidigungskapazitäten zu helfen?
Ich denke schon, dass Österreich hier eigentlich mehr tut, als öffentlich wahrgenommen wird. Über die humanitären Hilfen, Spenden und viele andere Aktivitäten. Ein wichtiger Faktor ist, dass zum Beispiel Unterstützungsgüter für die Ukraine durch Österreich fahren können.
Das ist möglich, weil es ein EU-Mandat gibt, einen EU-Beschluss gibt. Österreich ist damit gewissermaßen von der Neutralität „entbunden“, wie auch im Falles Mandat des UNO-Sicherheitsrats. Deswegen können wir die Grenzen aufmachen und Unterstützungstransporte auch militärischer Natur und Überflüge genehmigen.
Waffen zu liefern, das ist schon wieder etwas anderes. Da hätten wir ein Problem mit der Neutralität. Und daher können wir das in dieser Form auch nicht machen.
Aber ich spreche hier nicht über die Lieferung von Waffen. Ja, das wäre ein klarer Bruch der Neutralität. Ich meine hier zum Beispiel die Ausbildung von ukrainischen Soldaten. Wäre das auch ein Bruch? Würde dies die Neutralität Österreichs verletzen?
Ich persönlich sehe das nicht als Bruch, sondern als realistische Möglichkeit. Wie es praktisch ausschaut, ob man die Kapazitäten hat, ob man sich allenfalls an einem Ausbildungspool beteiligen könnte, da fehlen mir die Unterlagen. Das weiß ich nicht. Aber rein theoretischer Natur würde ich hier kein Problem sehen.
Auch Training im Entminungsbereich?
Ich würde sagen, alles, was im Ausbildungsbereich ist, wäre für mich unproblematisch. Und es ist eine reine innenpolitische Abwägung, ob man das macht oder nicht.
Ich möchte eine Frage zum Krieg stellen. Die Ukraine hat gezeigt, dass sie auch mit begrenzten Mitteln in der Lage ist, auf dem Territorium Russlands schmerzhafte Schläge zu verursachen, insbesondere durch Angriffe mit ukrainischen Drohnen. Wie bewerten Sie diese Drohnenangriffe auf Flugplätze und vor allem auf Ölraffinerien in Russland? Welche negativen Auswirkungen erwarten Sie darauf für die russische Wirtschaft?
Ich gehe nicht davon aus, dass diese Schläge in der Tiefe tatsächlich unmittelbar eine substanzielle Schädigung bewirken können.
Es ist politisch und psychologisch ein wesentlicher Faktor, der russischen Seite und auch der Bevölkerung zeigen zu können, wir können auch euch wehtun. Es ist sicher auch wirtschaftlich unangenehm, wenn eine Raffinerie beschädigt und die Produktion gestört wird. Ob mit diesen Angriffen ein Ausmaß erreicht werden kann, das Russland wirklich zu einem Umdenken zwingen würde, bleibt abzuwarten.
Aber es scheint, dass dies bereits der Fall sein könnte. Russland hat bereits 10 Prozent oder mehr seiner Ölraffineriekapazität verloren hat.
Wenn allerdings die Schäden ein Ausmaß annehmen würden, das erhebliche Auswirkungen auf die russische Wirtschaft, den Rüstungsbereich und das Alltagsleben der Bevölkerung hätte, dann wäre ein Umdenken nicht auszuschließen. Das sehe ich aber derzeit nicht, dafür wären umfangreiche weitere Waffenlieferungen nötig.
Und wie bewerten Sie die Erfolge der Ukraine auf See?
Es ist beeindruckend, wie es gelungen ist, die russische Schwarzmeerflotte zurückzudrängen und auch den Getreidekorridor zu öffnen. Das ist wirklich ein Erfolg für die Ukraine und ein Schwächezeichen auf russischer Seite. Es zeigt auch wieder, wie unglaublich erfinderisch die ukrainische Seite bei der Entwicklung von eigenen Waffensystemen und von Angriffstechniken. Das ist sicher ein schwerer Schlag in die Magengrube Russlands. Einerseits, weil es das Schwarze Meer nicht mehr komplett kontrollieren kann und andererseits die Kampfführung insgesamt natürlich maßgeblich beeinträchtigt ist.
Sie können nicht mehr bis vor die Küste fahren und Städte gefährden oder beschießen. Sie müssen einen Sicherheitsabstand halten.
Vasyl Korotkyi, Wien.