Oleksandr Syrskyj, Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Ukraine
Einheit und Stärke der Ukraine sind Voraussetzung für Sieg über Russland
29.03.2024 09:09

Oleksandr Syrskyj wurde im Februar dieses Jahres durch die Verordnung des Präsidenten der Ukraine zum Oberbefehlshaber der Streitkräfte ernannt. Diese Ernennung sowie spätere Veränderungen in der militärischen Führung, der Abzug der ukrainischen Truppen aus Awdijiwka, die anhaltende Offensive der russischen Invasoren und die Verkündung des Übergangs der Ukraine zur strategischen Verteidigung erregten nicht nur in der Ukraine große Aufmerksamkeit. Unter westlichen Verbündeten und Partnern wurden alarmierende Gedanken laut, dass die Ukraine Stellungen und Fähigkeiten zum weiteren Kampf gegen den Feind verliere. Wie berechtigt solche Einschätzungen sind, wie die reale Situation auf dem Schlachtfeld ist und was die neue Strategie der ukrainischen Streitkräfte bedeutet, erzählte der Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Ukraine, Generaloberst Syrskyj, selbst in einem Interview mit Ukrinform.

Oleksandr Stanislawowytsch, von der Front kommen weiterhin beunruhigende Nachrichten. Der Feind übt weiterhin Druck auf ukrainische Stellungen aus, versucht, in Richtung Kupjansk und Lyman zu stürmen und schafft eine Bedrohung für Jampil und Siwersk. Die Situation in Richtung Awdijiwka bleibt schwierig. Wir wissen, dass der Feind jeden Schritt mit viel Blut bezahlt, aber ... Was passiert? Haben die Streitkräfte Ressourcen und Fähigkeiten, um einen solchen Vormarsch des Feindes zu stoppen?

Die Situation an der Front ist wirklich schwierig. Aber an der Front kann sie auch nicht anders sein. Zweifellos erfordert jeder Tag von unseren Soldaten und Offizieren maximale Anstrengungen. Aber wir stehen nicht nur in der Defensive, sondern rücken auch jeden Tag in verschiedene Richtungen vor. Außerdem übersteigt die Anzahl der von uns zurückeroberten Positionen die Anzahl der verlorenen Positionen. Dem Feind gelang es nicht, in strategischen Richtungen wesentlich vorzudringen, seine Gebietsgewinne, auch wenn es solche gibt, sind von taktischer Bedeutung. Wir kontrollieren diese Situation.

Man muss zugeben, dass die aktuelle Situation in einigen Richtungen weiterhin angespannt bleibt. Die russischen Besatzer verstärken weiter ihre Anstrengungen und haben eine zahlenmäßige Überlegenheit an Personal. Sie rechnen traditionell nicht mit Verlusten und wenden weiterhin die Taktik massiver Angriffe an. In einigen Richtungen wehren Einheiten der Verteidigungskräfte der Ukraine mehrere Dutzend Vorstöße ab.

Die Erfahrung der letzten Monate und Wochen zeigt, dass der Feind die Aktivität der Luftwaffe deutlich erhöht hat und Lenkfliegerbomben einsetzt, die unsere Stellungen ruinieren. Außerdem feuert der Feind dicht mit Artillerie und Mörsern. Vor einigen Tagen betrug der Vorsprung des Feindes in Bezug auf die abgefeuerte Munition etwa 6 zu 1.

Aber wir haben gelernt, nicht mit Menge an Munition zu kämpfen, sondern mit Können, die verfügbaren Waffen einzusetzen. Darüber hinaus nutzen wir maximal die Vorteile unbemannter Luftflugzeuge. Obwohl der Feind versucht, uns mit dieser wirksamen Waffe einzuholen.

Der Feind setzt seine Offensivaktionen auf breiter Front fort und versucht um jeden Preis, die Grenzen der Gebiete Donezk und Luhansk zu erreichen und uns auf dem linken Dnjepr-Ufer in der Region Saporischschja zu bedrängen.

An einigen Frontabschnitten ist es uns gelungen, die Situation mit der Artillerie auszugleichen, was sich sofort mit der Gesamtsituation bemerkbar machte. Unsere Kanoniere verwenden hochpräzise Munition, um feindliche Truppenkonzentrationen auch Dutzende Kilometer von der Frontlinie entfernt zu treffen. Jeden Tag erleidet der Feind nicht nur erhebliche Verluste an Personal und Ausrüstung, einschließlich Artilleriesysteme, er kann sich auch nirgendwo sicher fühlen, auch nicht in den vorläufig besetzten Gebieten der Ukraine. Dies ist ein wichtiger psychologischer Faktor. Sie werden auf unserem Land keinen Frieden haben. Niemals. Und das sollte jedem Besatzer bewusst sein.

Klar, dass es nur eine Statistik ist, aber es ist wichtig zu wissen: Allein im Februar-März dieses Jahres (Stand 26. März) verlor der Feind mehr als 570 Panzer, etwa 1.430 gepanzerte Kampffahrzeuge, fast 1.680 Artilleriesysteme und 64 Luftabwehrsysteme. Gleichzeitig halten die Streitkräfte der Ukraine weiterhin wichtige Höhen und Verteidigungsgebiete unter Kontrolle. Unser Ziel ist es, den Verlust unseres Territoriums zu verhindern, den Feind maximal zu erschöpfen, ihm größtmögliche Verluste zuzufügen, Reserven für Angriffsoperationen zu bilden und vorzubereiten.

Es ist auch sehr bedeutend, dass die Aktivität des Feindes in der Luft, natürlich dank den Fähigkeiten unserer Luftverteidigungseinheiten, auch reduziert werden konnte. Allein innerhalb von 10 Tagen haben sie im Februar 13 feindliche Flugzeuge abgeschossen, darunter gleich zwei strategisch wichtige A50-Frühwarnflugzeuge.

Mit dem Können des Personals ist bei uns also alles in Ordnung. Wir hoffen, von unseren Partnern eine größere Anzahl an Luftverteidigungsgeräten und, vor allem Raketen für sie, zu erhalten, insbesondere angesichts der Tatsache, dass der Feind zu Taktik massiver Luftangriffe, sowohl auf ukrainische Truppen als auch auf zivile Infrastruktur und friedliche Städte in der Ukraine, überging. Wir müssen sie schützen.

Auch auf See ändern wir weiterhin die Taktik. Angriffe unbemannter Drohnen auf feindliche Schiffe sind so effektiv, dass man über Änderungen in der Strategie von Kampfhandlungen auf See insgesamt sprechen kann. Wir zerstören gezielt die russische Schwarzmeerflotte. Und wir werden es auch weiterhin tun. Die jüngste Zerstörung mehrerer Schiffe in Sewastopol ist gerade ein weiteres Beispiel dafür.

Ihre Ernennung erfolgte nach dem lauten und, werden wir ehrlich, nicht ganz verständlichen Rücktritt von General Walerij Saluschnyj von diesem Amt. Womit sind solche Veränderungen sowie die Neuformatierung praktisch der gesamten Militärführung verbunden? Wie wurden solche Unruhen in dem Militär wahrgenommen?

Militärangehörige haben eine Pflicht: Wir besprechen keine Befehle, wir erfüllen sie. Wenn also der Präsident des Landes, der Oberbefehlshaber, Gründe für eine solche Ersetzung hatte, insbesondere während der aktiven Kriegsphase, bedeutet dies, dass die Gründe gewichtig waren.

Walerij Fedorowytsch und ich haben in den schwierigsten Zeiten seit Beginn der groß angelegten russischen Invasion, und sogar schon früher, Schulter an Schulter gearbeitet. Wir arbeiteten als ein Team. Ich wünsche ihm viel Erfolg in seiner neuen und sehr verantwortungsvollen Position.

Von meiner Seite kann ich sagen, dass all unser Wissen und unsere Erfahrung, die schon während des umfassenden Krieges in Kämpfen mit den überlegenen Kräften des Feindes erworben worden sind, darauf gerichtet werden, die Effektivität unserer Handlungen zu erhöhen und den Angriffsgruppen des Feindes den größtmöglichen Schaden zuzufügen.

Auf dieser Grundlage arbeiten wir die Algorithmen der Militärverwaltungsorgane aller Ebenen durch. Es geht um eine detaillierte und sorgfältige Planung der Handlungen von Verbänden, Einheiten und Zusammensetzungen, natürlich unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Front. Eigentlich hängt von der klaren Arbeit dieser Vertikale, die die Planung und die Gewährleistung von Kampfhandlungen umfasst, von der rechtzeitigen Lieferung der neuesten Waffen und Munition von unseren westlichen Partnern, nicht nur der Erfolg jeder einzelnen Militäroperation ab, sondern auch das Leben der Menschen. Kommandeure aller Ebenen sollten dies nicht vergessen, und unsere Verbündeten im Westen erinnern wir ständig daran.

Unsere Stäbe müssen ausnahmslos alle Bedürfnisse der Front kennen und die Situation an jedem Frontabschnitt im Griff haben. Hier rückt die Qualifikation der Offiziere der Militärverwaltung in den Vordergrund vor.

Ich kann bestätigen, dass die Zusammensetzung des Generalstabs und anderer militärischer Verwaltungsorgane mit Kampfoffizieren mit großer praktischer Erfahrung der Kampfeinsätze, die sie auf den Schlachtfeldern dieses Krieges erworben haben, erneuert wird.

Welche Veränderungen werden nach Ihrer Ernennung auf dem Schlachtfeld sein?

Wie Sie verstehen, hängt die Situation auf dem Schlachtfeld nicht nur vom Oberbefehlshaber ab. Moderne Kriegsführung erfordert Entschlossenheit und Initiative vor Ort, genau dort, wo die Kämpfe stattfinden. Über den Erfolg von Kampfoperationen entscheidet Offizier, Sergeant und Soldat, die sich in den Schützengräben und an Stützpunkten befinden, sie sind es, die diese enorme Kampflast auf ihren Schultern tragen.

Wir können eine Strategie bestimmen und Handlungen koordinieren, operativ auf Änderungen der Situation und die Bedürfnisse der Front reagieren. Dabei sollte zugrunde der Philosophie des Truppeneinsatzes, das ist zumindest meine Position, die Hauptformel liegen. Das Wertvollste, was unsere Streitkräfte haben, sind Menschen. Unsere Aufgabe ist es, ihr Leben zu schützen und gleichzeitig dem Feind maximale Verluste zuzufügen.

Die Umsetzung dieses Grundsatzes erfordert die Einhaltung eines Gleichgewichts zwischen der Erfüllung von Kampfaufgaben und der Erholung militärischer Einheiten und Abteilungen. Unsere Leute sind Helden, aber ihre Kräfte sind nicht grenzenlos, sie brauchen auch Erholung und Entspannung.

Daher ist heute bereits der Prozess der Rotation von Militäreinheiten an der Front eingeleitet worden, was es uns ermöglicht, die Kampffähigkeit nicht nur der Technik vollständig wiederherzustellen, sondern vor allem die Erholung und Entspannung unserer Soldaten sicherzustellen.

Für die Sicherstellung dieses Prozesses brauchen wir Menschen. Gerade deshalb möchte ich, dass jeder Mann im wehrfähigen Alter in der Ukraine erkennt, dass das Überleben der Ukraine von seinem Willen und seinem Handeln abhängt.

Damit Sie verstehen, ist dieser Prozess nicht nur auf die Tätigkeit von territorialen Zentren für Rekrutierung beschränkt. Das ist eine ganze Reihe von Fragen, die die Ausbildung der Menschen, ihre richtige Ausrüstung und Versorgung umfasst. Zu solchen Bemühungen gehören auch soziale Schutzmaßnahmen für Soldaten und ihre Familienangehörigen. Man muss sich Gedanken darüber machen, wie sich das Leben eines Soldaten nach seiner Entlassung oder Demobilisierung gestalten wird. Natürlich ist es unmöglich, alle diese Aufgaben allein durch die Bemühungen der Streitkräfte zu lösen. Wir sehen, dass der Staat nicht untätig bleibt und schon jetzt Mechanismen zur Lösung all dieser Probleme schafft.

Die Ukrainer gehen weiter ihr Land verteidigen, auch kehren sie aus dem Ausland zurück. Wir haben viele Freiwillige, und das ist keine Übertreibung. Ich behaupte nicht, dass es keine Probleme gibt, aber ich betone, dass wir alles tun, um sie zu lösen.

Früher wurde die Zahl genannt, dass noch 500.000 Menschen mobilisiert werden müssen, um die Kampffähigkeit aufrechtzuerhalten und die Rotation von Einheiten und Abteilungen der Streitkräfte an der Front sicherzustellen. Wie realistisch ist eine solche Zahl jetzt?

Durch die Prüfung unserer internen Ressourcen und die Richtigstellung der Kampfzusammensetzung der Streitkräfte wurde diese Zahl deutlich verringert. Wir erwarten, dass wir genügend Leute haben werden, die das Mutterland verteidigen können. Es geht nicht nur um die Mobilisierten, sondern auch um Freiwillige.

Man muss davon ausgehen, dass Menschen keine Roboter sind. Sie sind körperlich und psychisch erschöpft, besonders unter Kampfbedingungen. Zum Beispiel diejenigen, die im Februar 2022 in die territorialen Zentren für die Rekrutierung kamen, brauchen diese Menschen Erholung und Behandlung. Es genügt zu erwähnen, dass die 110. Kampfbrigade von Beginn der groß angelegten Invasion an in Richtung Awdijiwka eingesetzt war. Sie brauchen Erholung und Entspannung, und das ist eine objektive Notwendigkeit. Und solche Teile gibt es viele.

Wir prüfen derzeit die Zahl und Menge einzelner Nichtkampfeinheiten auf der Grundlage des Audits ihrer Tätigkeit. Was es uns ermöglichte, Tausende von Soldaten freizusetzen und sie zu Kampfeinheiten zu schicken.

Aber dabei sollte man sich auf Extreme verzichten. In allen Armeen der Welt gibt es Personal, das nicht an Kampfhandlungen teilnimmt, sondern Kampfeinheiten versorgt. Das ist ein ebenso wichtiger Teil der Arbeit. Aber der Krieg, den wir gegen die russischen Invasoren führen müssen, ist ein Abnutzungskrieg, ein Logistikkrieg. Daher ist die Bedeutung der Effektivität der hinteren Einheiten nicht zu unterschätzen. Es geht um das System der Versorgung der Truppen mit Nahrungsmitteln und Munition, um Reparatureinheiten, um medizinische Einrichtungen und um vieles mehr. Diese Menschen tragen zur Wirksamkeit der Kampfhandlungen bei.

Ich möchte gesondert betonen: Die Bürger, die in die Armee im Rahmen der Mobilisierung kommen, gehen nicht sofort an die Front. Mit ganz besonderen Ausnahmen, beispielsweise wenn eine Person bereits über Kampferfahrung verfügt, kommt die überwiegende Mehrheit dieser Personen zu militärischen Ausbildungseinheiten und -zentren. Zum Stand vom Februar dieses Jahres machte die Zahl der Personen, die eine solche Ausbildung absolvieren, 84 Prozent der Gesamtzahl der Mobilisierten aus. Erst nach Abschluss einer solchen Ausbildung können sie zum Auffüllen militärischer Einheiten für die Wiederherstellung deren Kampffähigkeiten geschickt werden.

Als sich die ukrainischen Truppen aus Awdijiwka zurückzogen, schrie die russische Propaganda von Tausenden gefangenen Ukrainern. Was ist da wirklich passiert?

Wir haben unsere Truppen aus Awdijiwka abgezogen, weil der Feind einen erheblichen Vorteil an Personal und Mitteln der Angriffseinheiten hatte. Durch die ständigen Bombardierungen mit gelenkten Fliegerbomben ist die Integrität unserer Verteidigung gebrochen worden, was dem Feind die Möglichkeit gab, allmählich vorzurücken. Auch die unzureichende Munitionsmenge unserer Artillerie spielte eine negative Rolle. Dies machte es unmöglich, unter solchen Bedingungen eine wirksame Artilleriebekämpfung durchzuführen. Um die Einkesselung zu vermeiden und Menschenleben zu retten, beschloss ich also, sich aus Awdijiwka zurückzuziehen.

Leider wurden während dieser Kämpfe 25 ukrainische Soldaten von Russen gefangen genommen. Das ist Krieg... Russische Propagandisten versuchen, verschiedene Videos mit gefangenen ukrainischen Soldaten zu nutzen, um die Streitkräfte der Ukraine zu diskreditieren, psychologischen Druck auszuüben und Panik unter den Ukrainerinnen und Ukrainern zu verbreiten.

Ich möchte diesen Soldaten, wenn sie mich hören werden, und ihren Familien sagen: Wir haben niemanden vergessen und tun alles, um diese Soldaten aus der feindlichen Gefangenschaft zu befreien. An diesen Bemühungen sind sowohl die Führung unseres Staates als auch die Hauptverwaltung für Aufklärung des Verteidigungsministeriums und die Führung der Streitkräfte in vollem Maße beteiligt.

Man sollte auch nicht vergessen, dass die Offensive auf Awdijiwka zu erheblichen Verlusten für den Feind führte, und es ist unwahrscheinlich, dass darüber im „russischen“ Fernsehen berichtet wird. Allein im Zeitraum vom 10. Oktober 2023 bis 17. Februar 2024 verloren die russischen Invasoren in Richtung Awdijiwka: 47.186 Mann, 364 Panzer, 748 gepanzerte Kampffahrzeuge, 248 Artilleriesysteme, 5 Flugzeuge. Seit Beginn der Verteidigungsoperation Awdijiwka haben die ukrainischen Verteidigungskräfte in dieser Richtung 95 russische Eindringlinge gefangen genommen.

Von Beginn des seit zwei Jahren andauernden umfassenden Krieges leiteten Sie die Verteidigung von Kyjiw und die Truppen bei der Befreiung des Territoriums der Region Charkiw. Nach Einschätzung einer Reihe westlicher Massenmedien droht Charkiw erneut die Gefahr einer russischen Offensive. Wie real ist eine solche Bedrohung Ihrer Meinung nach?

Wir können jede Information über die Vorbereitungen des Feindes auf Angriffshandlungen nicht ignorieren und ergreifen daher alle Maßnahmen, um auf eine solche Wahrscheinlichkeit angemessen zu reagieren. Heute wird ein ganzer Komplex von Arbeiten zur Befestigung von Ausrüstung auf Territorien und Stellungen, die Aufstellung eines komplexen Hindernissystems und Pläne für den Einsatz unserer Truppen im Falle solcher Aktionen durchgeführt.

Wir haben bereits Erfahrung mit Kampfhandlungen in der Region Charkiw, es ist uns gelungen, den Feind zu „kalkulieren“ und den größten Teil der Region Charkiw zu befreien. Gerade dann kam es zum größten Zusammenbruch der russischen Front. Sollten die Russen erneut dorthin ankommen, wird Charkiw für sie zur tödlichen Stadt.

Aber natürlich ist jede Militäroperation auf ihre Weise einzigartig und die einfache Verwendung ihres herkömmlichen Pauspapiers in der nächsten Situation an der Front wird unter keinen Umständen funktionieren. Die moderne Kriegsführung ist eine mathematische Aufgabe mit Hunderten von Variablen, bei denen jede einzelne Komponente von entscheidender Bedeutung sein kann.

Ich kann nicht umhin zu fragen: Wo waren die Befestigungslinien, zu deren sich unsere Truppen aus Awdijiwka zurückziehen sollten?

Ich beginne mit dem Hauptthema. Es gelang uns, den Feind unweit von Awdijiwka aufzuhalten, indem wir Stellungen nutzten, die während der Schlacht errichtet wurden. Die Hauptbefestigungslinie ist errichtet und liegt viel weiter in der Tiefe unserer Verteidigung. Derzeit wird in praktisch allen Bedrohungsgebieten an der Errichtung fester Verteidigungslinien gearbeitet. Für die Führung des Staates und der Streitkräfte, für lokale Verwaltungen usw. ist der Bau von Befestigungslinien und -bauwerken derzeit eine der Hauptprioritäten.

Vorbereitete Befestigungen retten das Leben unserer Soldaten. Der Bau eines verzweigten Systems von Ingenieur- und Befestigungsanlagen ist nicht nur die Aufgabe der Ingenieureinheiten der Unterstützungskräfte der Streitkräfte der Ukraine und der Militäreinheiten. An diesem Prozess sind auch regionale Militärverwaltungen und Einheiten des Staatlichen Sondertransportdienstes beteiligt. Diese Arbeit geht immer weiter.

Wie bedeutend ist die Unterstützung der Streitkräfte von unseren westlichen Verbündeten und Partnern?

Wir sind unseren westlichen Verbündeten, den Nato-Staaten, der Europäischen Union und anderen Partnern für ihre Unterstützung sehr dankbar. Ohne solche Unterstützung, ohne die Lieferung von Waffen, Munition, Luftverteidigungsmitteln und schwerer Technik wäre es für uns viel schwieriger, gegen einen heimtückischen und starken Feind zu kämpfen.

Umso dankbarer wären wir, wenn diese Hilfe schneller und in ausreichender Menge kommen würde. Man muss zugeben, wir konnten während der Charkiw-Offensive keinen größeren Erfolg erzielen, weil uns die Ressourcen fehlten. Der Mangel an Ressourcen und der notwendigen Menge an Munition ermöglichte es den Russen, sich im Süden, in der Region Saporischschja, tief in dem Boden zu verschanzen, und der Sturm dieser Stellungen ohne effektive Luftunterstützung würde uns Menschen- und Technikverluste kosten. Der letzte Fall ist Awdijiwka. Wir würden diese Positionen auf jeden Fall beibehalten, wenn eine ausreichende Anzahl von Flugabwehrwaffen und Artilleriegeschossen vorhanden wäre.

Das ist kein Vorwurf, sondern eine Tatsachenfeststellung. Ich glaube, dass unsere Verbündeten bereits erkannt haben, mit wem sie es in Russland zu tun haben, und dass sie unseren Erfolg im Kampf gegen den Feind sehr gerne sehen würden. Uns fehlen Waffen, alles andere können wir selbst machen. Wir sind unseren Partnern für jedes Geschoss, für jede Tonne Treibstoff dankbar. Aber um die Operationen effektiv planen zu können, benötigen wir die Vorhersehbarkeit dieser Lieferung.

Derzeit erfüllen die Verteidigungskräfte Aufgaben an der gesamten riesigen Frontlinie, und das praktisch unter Bedingungen des Mangels an Waffen und Munition. Unter diesen Bedingungen ist der Übergang zur strategischen Verteidigung eine logische Entscheidung. Aber das Gegenteil ist genauso logisch: Wenn der Westen, wie er erklärt, der Ukraine alles liefert, was ihre Streitkräfte brauchen, wird es ermöglichen, den Feind zurückzudrängen, egal wie viele Menschen Russland mobilisiert, und schließlich diesen Krieg mit einem militärischen Sieg über den Feind zu beenden.

Aber wir auch sitzen nicht tatenlos, sondern bauen die Kapazitäten des heimischen Verteidigungsindustriekomplexes aus. Wenn die Europäer sich in den versprochenen Mengen an seiner Entwicklung beteiligen werden, werden wir, denke ich, das Problem des „Artilleriegeschossenhungers“ mit der Zeit lösen. Gegenwärtig gehört die Ukraine hinsichtlich der Anzahl der Innovationen und der Eigenentwicklungen von Waffen und militärischer Ausrüstung, und vor allem, hinsichtlich ihres praktischen Einsatzes auf dem Schlachtfeld zu den absoluten Spitzenreitern.

In diesem Kontext kann man die Umrüstung von Artillerieeinheiten mit der heimischen 155-mm-Kanone „Bohdan“ mit gleichzeitigem Nachrüsten ihres automatischen Feuersystems erwähnen. Bald kann man erwarten, dass in der Ukraine schon bestimmte Muster westlicher Haubitzen und inländische gezogene Mörser hergestellt werden. Gleiches gilt für die Entwicklung moderner Raketenwaffen und Systeme der Artilleriebekämpfung. Die Gesellschaft weiß bereits recht gut über die Produktion von Drohnen Bescheid. All diese Maßnahmen können also in naher Zukunft einen operativen Vorteil über dem Feind an der Front verschaffen.

Ein gutes Beispiel ist auch die Regenerierung und die Generalreparatur amerikanischer M777-Haubitzen. Die Produktion einiger solcher Teile haben wir bei uns in der Ukraine eingerichtet. Insbesondere bei der Regenerierung jeder Einheit dieser Haubitze werden 40 Prozent der Teile und Ersatzteile verwendet, die für den Bedarf der Streitkräfte der Ukraine in inländischen Unternehmen hergestellt wurden. Die Versorgung, Wartung, Reparatur und Wiederherstellung sind um ein Vielfaches gesunken und die Front spürt diese qualitativen Veränderungen.

Was ist für den Oberbefehlshaber Syrskyj jetzt das Wichtigste?

Wie ich schon sagte, für uns ist das Wichtigste im Moment, die Menschen zu bewahren. „Eisen“ kann wiederhergestellt werden, aber die Menschen, die gefallen sind, können nicht zurückgebracht werden.

Es gibt noch eine andere Priorität. Das ist die Einheit der Gesellschaft. Keine politische Zwietracht. Wir dürfen die tragischen Seiten unserer Geschichte nicht vergessen. Ich bin davon überzeugt, dass Russland uns auf dem Schlachtfeld niemals besiegen kann, solange die Ukrainer Einigkeit und Geistesstärke bewahren. Wenn die Energie und Kraft für leere politische Auseinandersetzungen miteinander verschwendet werden, ist dies nicht einmal der Weg zur Niederlage, sondern zum Tod.

Ich möchte, dass jeder Ukrainer das versteht. Russland lehnt uns allen das Existenzrecht ab. Deshalb sind Niederlage und Tod identisch. Jetzt ist wieder die Zeit gekommen, dass sich das Land in eine starke, einheitliche Faust verwandelt. Die Hauptaufgabe der Ukraine besteht darin, die Einheit zu wahren. Das ist der Hauptbestandteil unseres Sieges.

Gespräch führte Dmytro Schkurko

Foto: Oleksij Bobownikow, PR-Verwaltung der Streitkräfte der Ukraine, und Roman Tschop, „Soledar“.

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