Alexander Schallenberg, Außenminister Österreichs
Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen
19.04.2023 18:49

In einem Interview mit Ukrinform kommentiert Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg die Beziehungen zu Russland und die Fortsetzung der Arbeit der österreichischen Bankengruppe RBI in Russland sowie die bestehende Abhängigkeit von russischem Gas und sicherte der Ukraine eine weitere Unterstützung zu, darunter im Bereich der Minenräumung. Er sprach sich auch für den Haftbefehl des IStGH gegen Putin aus und betonte, dass Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht gewinnen sollte, und forderte den Kremlchef auf, Truppen aus der Ukraine abzuziehen.

Österreich war eines der letzten EU-Länder, in dem am 30. März eine Rede eines ukrainischen Staatschefs im Parlament stattfand. Allerdings waren nicht alle parlamentarischen Parteien für die Rede von Präsident Selenskyj – die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) verließ während seiner Videoansprache demonstrativ den Saal, und die Hälfte der Abgeordneten der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) ignorierte die Rede. Sie waren zu dieser Zeit im Saal, wie sah es von innen aus? War die Rede des ukrainischen Staatspräsidenten im Nationalrat wirklich eine Verletzung der österreichischen Neutralität?

Ich habe es begrüßt, dass Präsident Selenskyi im österreichischen Nationalrat eine Rede halten konnte. Das war keinesfalls eine Verletzung der Neutralität. Das zu behaupten, wäre eine klare Fehlinterpretation der österreichischen Neutralität. Österreich ist nämlich seit 1955 ausschließlich militärisch, aber niemals politisch neutral. Gesinnungsneutralität ist für uns unvorstellbar, wenn das Völkerrecht mit Füßen getreten wird.

Diese ganz klare Linie gilt bis heute. Wenn ein Staat, der noch dazu ständiges Mitglied im UNO-Sicherheitsrat ist, beschließt, alle Grundregeln der UN-Charta und des Völkerrechts über Bord zu werfen, dann schaut Österreich ganz sicher nicht weg. Wir stehen auch weiterhin entschlossen und solidarisch an der Seite der Ukraine. Ich verstehe die Rede von Präsident Selenskyj im Nationalrat als ein Zeichen genau dieser uneingeschränkten Solidarität. Die Neutralität steht unserer Solidarität in keiner Weise im Wege. Mir war es daher ein Anliegen, im Parlament dabei zu sein und die Rede von Präsident Selenskyj zu hören.

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat den großflächigen Angriff Russlands auf die Ukraine als Zeitenwende bezeichnet, und dies hat zu einer gravierenden Kurskorrektur der deutschen Politik geführt. Diese Zeitenwende ist offensichtlich in Österreich nicht angekommen. Ein Zeichen dafür ist auch, dass in der gültigen "Österreichischen Sicherheitsstrategie" Russland immer noch als ein "wesentlicher Partner" der österreichischen Außenpolitik genannt wird. Kann Österreich so bleiben, wie es ist? Soll Österreich seine Neutralität überdenken? Ist ein Beitritt Österreichs zur NATO ein Tabuthema für Sie?

Der 24. Februar 2022 war ein brutaler Schock, der uns aus den Tagträumen eines postnationalen und posthistorischen Europas gerissen hat. Eine Rückkehr zum Status quo ante, also zur Lage vor dem russischen Angriffskrieg, wird es in den Beziehungen mit Russland nicht geben.

Zur österreichischen Neutralität: Es wäre ein gefährlicher Irrtum zu glauben, Neutralität sei gleich Sicherheit. Deswegen wird die Bundesregierung auch eine neue österreichische Sicherheitsstrategie ausarbeiten. Kernfrage dabei ist, wie Österreich zusammen mit seinen Partnern am effektivsten zur Sicherheit Europas beitragen kann. Auch unsere bestehende Partnerschaft mit der NATO bietet dazu Möglichkeiten. Ein NATO-Beitritt steht aber nicht auf der Tagesordnung.

Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine und der Annexion der Krim-Halbinsel in 2014 haben Sie oft gesagt, dass es keinen Frieden in Europa gegen Russland geben wird, sondern nur mit Russland. Sie fügten hinzu, dass Russland trotz des damals andauernden Krieges im Donbas ein wesentlicher Partner in Europa sei. Glauben Sie so auch nach dem 24. Februar 2024? Können Sie sich eine europäische Sicherheitsarchitektur ohne kriegführendes Russland vorstellen?

Für Frieden und Sicherheit braucht es einen starken Multilateralismus sowie internationale Verträge. Wir haben die UNO-Charta nach dem Zweiten Weltkrieg als fundamentale Grundregeln der Weltgemeinschaft gemeinsam aufgestellt. Diese Regeln sind auch die Basis der europäischen Sicherheitsarchitektur.

Die Geschichte und die Geographie können wir nicht ändern. Russland wird nicht von der Landkarte verschwinden. Die europäische Sicherheitsarchitektur wird dieser Realität weiter Rechnung tragen müssen. Multilateralismus bedeutet nicht, sich nur mit gleichgesinnten Partnern auszutauschen und dem eigenen Echo zu lauschen, sondern auch, sich – von klaren Positionen ausgehend – mit Staaten auseinanderzusetzen, mit denen man nicht einer Meinung ist. Ich glaube daher, dass Plattformen wie die OSZE weiterhin eine große Bedeutung haben. Ein „Multilateralismus à la Facebook“, wo ein Algorithmus dafür sorgt, dass man nur Content sieht, der einem genehm ist, wäre eine gefährliche Entwicklung und ist sicher nicht in unserem Interesse.

Ein weiteres Zeichen dafür, dass die Zeitenwende in Österreich nicht angekommen ist, ist die anhaltende Abhängigkeit des Landes von russischem Gas. Die Republik kauft im Durchschnitt immer noch die Hälfte seines Gases aus Russland und finanziert damit Putins Kriegsmaschinerie in Milliardenhöhe. Der Gasliefervertrag der österreichischen OMV mit der russischen Gazprom läuft dabei bis 2040. Unterliegt der OMV-Konzern einem Knebelvertrag, aus dem trotz Kriegszustands und weitreichender Sanktionen kein Ausstieg möglich ist? Wird die Bundesregierung versuchen, diesen „russischen“ Vertrag des teilstaatlichen Energiekonzerns zu kündigen?

Seit letztem Februar haben wir enorme Anstrengungen geleistet, unsere Abhängigkeit von russischem Gas deutlich zu reduzieren und allgemein unseren Energieverbrauch zu senken.

Bei der österreichischen Gasversorgung haben wir einen historischen Kurswechsel eingeleitet: Österreich hat zum ersten Mal in seiner Geschichte eine strategische Gasreserve angelegt - und dieses Gas kommt natürlich nicht aus Russland. Wir hatten als Bundesregierung für die Versorgungssicherheit Österreichs zu sorgen und das haben wir getan.

Zusätzlich haben wir die Gasimporte diversifiziert: Wir konnten den Anteil russischen Gases von rund 80% auf im Durchschnitt 51% zwischen März 2022 und Februar 2023 senken. Wir haben also in relativ kurzer Zeit Fortschritte erzielt und arbeiten weiter daran, uns von russischem Gas unabhängig zu machen. In absoluten Zahlen haben sich die Importe bereits halbiert. Das ist ein Bohren harter Bretter und geht nicht über Nacht. Aber unsere Richtung ist klar.

Obwohl Sie darauf hinweisen, dass die RBI nur eines von vielen westlichen Firmen ist, die weiterhin in Russland tätig sind, ist die RBI dennoch ein einzigartiges westliches Unternehmen in Russland, wenn man bedenkt, welche systemische Rolle die Bank für die russische Wirtschaft spielt. Laut Berichten laufen von 30 bis 50 Prozent der Euro- und Dollar-Transfers aus Russland im SWIFT über die RBI. Im Jahr 2022 zahlte die RBI-Russland-Tochter 559 Millionen Euro an den russischen Haushalt, das ist 4,8 Mal so viel wie im Vorkriegsjahr und entspricht den Kosten für etwa 95 Kalibr-Raketen, mit denen Russland regelmäßig ukrainische Städte beschießt. Schadet die Fortführung der Aktivitäten der RBI Ihrer Meinung nach dem internationalen Image Österreichs? Werden die österreichischen Behörden mit der RBI kommunizieren, um das Russland-Geschäft einzustellen?

Da muss man schon die Fakten betrachten: Laut einer Studie der Universität St. Gallen sind über 90% der Unternehmen aus EU- und G7-Staaten weiterhin in Russland tätig. Man tut immer so, als sei nur eine österreichische Bank in Russland tätig. Das ist schlicht falsch – ein Fingerzeig auf einzelne Unternehmen ist außerdem reine Polemik. Zudem ist die RBI nicht nur in Russland aktiv, sondern auch in der Ukraine eines der größten Geldhäuser.

Entscheidend ist für mich: Alle österreichischen Unternehmen haben sich ohne Wenn und Aber an die EU-Sanktionen zu halten. Die RBI wird vor diesem Hintergrund letztlich selber die Entscheidung zu treffen haben, wie sie sich künftig aufstellt. Dabei wird die komplexe Frage zu beantworten sein, wie ein Ausstieg unter den gesetzlichen Rahmenbedingungen erfolgen könnte, ohne dass der Kreml große wirtschaftliche Vorteile daraus zieht. Wir sind uns wohl einig, dass es nicht sinnvoll wäre, dem Kreml Assets in Milliardenhöhe quasi zu schenken.

Im September 2022 haben unsere Regierungen ein Rahmenabkommen über die wirtschaftliche Zusammenarbeit bei der Entwicklung von Projekten, insbesondere im Gesundheitsbereich, unterzeichnet. Dabei hat der Bau und die Ausstattung von Gesundheitseinrichtungen oberste Priorität. Hat es seit der Unterzeichnung des Abkommens Fortschritte gegeben?

Die russischen Angriffe auf die zivile Infrastruktur in der Ukraine, vor allem auch auf medizinische Einrichtungen, sind ganz besonders grausam. Ein besonderes Augenmerk der österreichischen Unterstützung liegt daher auf dem (Wieder)Aufbau medizinischer Infrastruktur. Zu diesem Zweck hat Österreich letzten Herbst eine Rahmenvereinbarung in Höhe von 600 Millionen Euro für den Bau und die Modernisierung von drei Gesundheitseinrichtungen unterzeichnet. Derzeit laufen intensive Gespräche und ich hoffe, dass wir bald zur konkreten Umsetzung der Projekte kommen.

Österreich hilft der Ukraine auch bei der Behandlung von den Schwerverletzten, hauptsächlich von Frauen und Kindern. Wie viele unserer Landsleute wurden von Ihrem Land seit 24. Februar 2022 behandelt? Sind darunter auch Militärangehörige oder nur Zivilisten?

Österreich hat mehr als 30 schwerverletzte Zivilisten aus der Ukraine, insbesondere Frauen und Kinder, zur Behandlung aufgenommen. Das ist aber nur einer von vielen Aspekten österreichischer Hilfe.

Laut dem Ukraine Support Tracker des Kieler Instituts für Weltwirtschaft steht Österreich gemessen an seinem BIP bei der humanitären Hilfe für die Ukraine sogar an erster Stelle. Wir haben seit Kriegsausbruch über 129 Millionen Euro bilateral an finanzieller und humanitärer Hilfe geleistet. Die österreichische Bundesregierung sowie die Bundesländer, Gemeinden und die Bevölkerung leisten darüber hinaus auch einen großen Beitrag bei der Aufnahme und Integration von zeitweise über 90.000 ukrainischen Vertriebenen. Derzeit leben noch mehr als 55.000 Ukrainerinnen und Ukrainer bei uns in Österreich. Wir waren auch der erste Staat, der eine Luftbrücke aus Moldau eingerichtet hat, um Vertriebene aus der Ukraine nach Österreich zu fliegen. Wir werden diese Solidarität fortsetzen und auch in Zukunft an der Seite der Ukraine und ihrer Menschen stehen.

Nach dem Treffen Anfang Februar mit dem österreichischen Bundespräsidenten dankte der ukrainische Präsident für die humanitäre Hilfe Österreichs und erklärte dennoch, dass die Ukraine auch gerne von Österreich Unterstützung in Form von Systemen zur Drohnenabwehr und anderen nicht-tödlichen Mitteln sowie bei der Entminung erhalten würde. Kann das ukrainische Volk auf eine solche Unterstützung seitens Österreichs zählen?

Wir haben rasch auf den Appell der ukrainischen Regierung reagiert, sie bei der humanitären Entminung zu unterstützen. Österreich trägt im Rahmen des OSZE „Support Programme for Ukraine“ bereits jetzt zu humanitärer Minenräumung in der Ukraine bei. Wir prüfen aber laufend, wie wir die Ukraine im Bereich der Entminung weiter am effektivsten unterstützen können.

Österreich beteiligt sich an der Europäischen Friedensfazilität, über welche die EU auch die Lieferung von Waffen zur Verteidigung an die Ukraine finanziert. Wie groß ist finanzieller Beitrag Österreichs für die Friedensfazilität und wofür wird er verwendet?

Aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Neutralität kann Österreich keine Unterstützung für die Finanzierung letaler Waffen und Munition leisten. Dafür leisten wir umso mehr an Unterstützung im zivilen und humanitären Bereich, etwa für Schutzausrüstung, Zelte und medizinische Güter. Vor diesem Hintergrund haben wir der schrittweisen massiven Aufstockung der Europäischen Friedensfazilität zugestimmt. Der österreichische Beitrag zur Europäischen Friedensfazilität beläuft sich bisher auf knapp 100 Millionen Euro.

Österreich hat sich kürzlich der Kerngruppe für die Einrichtung eines Sondertribunals gegen Russland wegen des Verbrechens der Aggression gegen die Ukraine angeschlossen. Wie schätzen Sie die Aussichten für die Einrichtung dieses Tribunals ein? Wird Putin Ihrer Meinung nach auf der Anklagebank landen?

Für mich ist ganz klar, Kriegsverbrechen müssen lückenlos aufgeklärt werden. Es darf kein Bereich dieser unglaublich brutalen Aggression Russlands gegen die Ukraine unbeleuchtet bleiben. Österreich unterstützt daher tatkräftig die in Wien ansässige Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrats bei der Dokumentation von Kriegsverbrechen. Wir gehören auch zu jenen 43 Staaten, die den Internationalen Strafgerichtshof mit der Situation in der Ukraine befasst haben. Wir unterstützen zudem den Gerichtshof bei seiner wichtigen Arbeit finanziell und durch Bereitstellung einer österreichischen Expertin für das Büro des Chefanklägers. Über die EU-Mission in der Ukraine leisten wir einen Beitrag zur Ausbildung ukrainischer Forensiker, damit sie entsprechende Beweise für Kriegsverbrechen sichern und auswerten können. Wie Sie wissen, gehört Österreich auch zur Kerngruppe von mittlerweile mehr als 30 Staaten, die aktiv an der Einrichtung eines Sondertribunals für den Tatbestand der Aggression arbeiten. Ich hoffe, dass wir hier bald Ergebnisse sehen und Nägel mit Köpfen machen können. Auch, wenn die Gerechtigkeit manchmal einen langen Atem braucht, bin ich zuversichtlich, dass sie sich letztendlich durchsetzen wird.

Vor diesem Hintergrund war der Haftbefehl gegen Putin wegen des Vorwurfs der Entführung von über 16.000 Kindern aus der Ukraine nach Russland ein sehr klares und richtiges Signal. Ich begrüße jeden Schritt, der dem Recht zum Durchbruch verhilft. Es darf keine Straffreiheit geben. Niemand steht über dem Recht – auch kein Präsident.

Glauben Sie persönlich an einen Sieg der Ukraine im Krieg, den Russland gegen sie führt?

Der Verteidigungswille und der Mut der Ukrainerinnen und Ukrainer ist zutiefst beeindruckend und er verdient unser aller Respekt. Russland hat diesen Widerstandswillen ganz offenbar unterschätzt und sich – was das enorme Ausmaß der internationalen Unterstützung für die Ukraine betrifft – auch strategisch völlig verkalkuliert.

Das Recht des Stärkeren darf nicht über die Stärke des Rechts siegen. Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen. Daher erneuere ich meinen Appell an den Verantwortlichen in Moskau: Lassen Sie die Waffen ruhen! Beenden Sie das menschenverachtende Blutvergießen! Ziehen Sie Ihre Truppen aus der Ukraine ab!

Bei dem Zitieren und der Verwendung aller Inhalte im Internet sind für die Suchsysteme offene Links nicht tiefer als der erste Absatz auf „ukrinform.de“ obligatorisch, außerdem ist das Zitieren von übersetzten Texten aus ausländischen Medien nur mit dem Link auf die Webseite „ukrinform.de“ und auf die Webseite des ausländisches Mediums zulässig. Texte mit dem Vermerk „Werbung“ oder mit einem Disclaimer: „Das Material wird gemäß Teil 3 Artikel 9 des Gesetzes der Ukraine „Über Werbung“ Nr. 270/96-WR vom 3. Juli 1996 und dem Gesetz der Ukraine „Über Medien“ Nr. 2849-IX vom 31. März 2023 und auf der Grundlage des Vertrags/der Rechnung veröffentlicht.

© 2015-2024 Ukrinform. Alle Rechte sind geschützt.

Design der Webseite — Studio «Laconica»

erweiterte SucheWeitere Suchkriterien ausblenden
Period:
-