Bärbel Bas, Präsidentin des Deutschen Bundestages
Wenn man es mit einem brutalen völkerrechtswidrigen Angriff und Menschenrechtsverletzungen zu tun hat, braucht man Waffen zur Selbstverteidigung
23.10.2022 10:03

Bärbel Bas, Präsidentin des Deutschen Bundestages, war der erste hochrangige Beamte Deutschlands, die nach Kriegsbeginn die ukrainische Hauptstadt besuchte. Dies geschah am 8. Mai. Nach der Rückkehr nach Berlin forderte Bas auf, den EU-Beitrittsprozess der Ukraine zu beschleunigen.

Am 22. Oktober verlieh der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, Bärbel Bas, unter Parlamentsvorsitzenden von 12 Ländern, den Orden des Fürsten Jaroslaw des Weisen des II. Grades „für bedeutende persönliche Verdienste bei der Stärkung der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit, die Unterstützung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine, einen bedeutenden Beitrag zur Popularisierung des Ukrainischen Staates in der Welt.“

Ukrinform gratuliert Frau Bas zu hoher Auszeichnung und veröffentlicht ein Interview mit der Politikerin im Vorfeld ihrer Teilnahme am ersten parlamentarischen Gipfeltreffen der Internationalen Krim-Plattform.

Frau Bundestagespräsidentin, am 25.Oktober nehmen Sie teil an der Krim-Plattform in Zagreb. Wie wichtig ist diese Plattform, Ihrer Meinung nach? Und was ist zu erwarten nach dem Treffen dieses Jahr?

Als mich mein ukrainischer Amtskollege Ruslan Stefantschuk nach Zagreb eingeladen hat, habe ich gleich zugesagt. Wir müssen die Ukraine, die seit acht Monaten gegen den russischen Angriffskrieg kämpft, nicht nur auf der Regierungsebene unterstützen, sondern auch mit unseren Parlamenten.

Wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier stehen in ständigem Austausch mit den Menschen in unseren Wahlkreisen. Wir wollen unsere Solidarität mit den Ukrainerinnen und Ukrainern in unseren Gesellschaften stark halten. Mir ist wichtig, dass die große Hilfsbereitschaft und Unterstützung fortgesetzt wird. Für den dafür notwendigen parlamentarischen Austausch ist die Krimplattform ein sehr gutes Format.

Das wird, wenn ich mich nicht irre, Ihr viertes Treffen mit dem ukrainischen Kollegen Ruslan Stefantschuk. Es herrscht der Eindruck, dass die Zusammenarbeit zwischen den zwei Parlamenten nie besser gewesen ist. Ist es so konstruktiv nur auf der Ebene der Parlamentschefs oder auch auf anderer Ebene?

Ich habe tatsächlich häufig Kontakt – telefonisch, aber auch persönlich – zu Ruslan Stefantschuk. Ich finde einen engen Austausch in diesen schwierigen, sehr belasteten Zeiten besonders wichtig. Aber auch andere Bundestagsabgeordnete pflegen intensive Kontakte in die Ukraine, sowohl zu ihren Kolleginnen und Kollegen aus der Werchowna Rada als auch zu Vertretern der Zivilgesellschaft. Parlamentarierinnen und Parlamentarier verschiedener Fraktionen und Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses, des Europaausschusses oder des Verteidigungsausschusses haben sich in Kiew und anderen Regionen der Ukraine selbst ein Bild von der Kriegssituation gemacht. In ihren Wahlkreisen erfahren die Abgeordneten, wie es den Menschen geht, die zu uns nach Deutschland geflüchtet sind und setzen sich für sie ein. Es sind inzwischen über eine Million Menschen aus der Ukraine nach Deutschland gekommen, darunter viele Kinder. Die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland setzen sich mit großer Empathie und Energie für die Geflüchteten ein. Viele haben ukrainische Familien in ihren privaten Wohnungen aufgenommen.

Auch zwischen unseren beiden Regierungen ist die Zusammenarbeit und Abstimmung sehr eng, um die Ukraine bestmöglich zu unterstützen. Das betrifft praktisch alle Ressorts. Ich weiß aus meinen Gesprächen mit Ruslan Stefantschuk aber auch mit Wolodymyr Selenskyj, wie sehr man die deutsche Unterstützung schätzt.

Und auch in der EU prüfen wir immer wieder, wie wir die Ukraine am besten unterstützen können.

Kyiw bietet seit langem Berlin, den Bundestag, Holodomor von 1932-33 als Völkermord anzuerkennen. Sehen Sie solche Perspektiven? Und wie wahrscheinlich ist es, dass der Bundestag die heutigen Taten Russlands in der Ukraine als Genozide oder Terrorismus anerkennt (wie einige Parlamente es getan haben)?

Es ist ganz klar: Ohne Wahrheit kann es keine Gerechtigkeit und keinen wahren Frieden geben. Unrecht muss als Unrecht benannt und als solches anerkannt werden. Das gilt für das Verbrechen des Holodomor wie aktuell für die Kriegsverbrechen im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Mit dem Holodomor befasst sich schon seit 2015 eine gemeinsame deutsche-ukrainische Historikerkommission. Deutschland hat sich auch der Erklärung zum 85. Jahrestag des Holodomor im Rahmen der 73. Generalversammlung der Vereinten Nationen ausdrücklich angeschlossen, damit der Opfer des Holodomor angemessen gedacht wird. Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages prüft eine Petition zu Holodomor. Sie wurde von über 56.000 Menschen unterzeichnet. Auf die Ergebnisse warten wir noch. Für heute ist wichtig: Die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine müssen dokumentiert werden, anschließend unabhängig untersucht und die Verantwortlichen angeklagt werden. Hier ist auch die internationale Gemeinschaft gefragt. Der Deutsche Bundestag hat diese Verbrechen mehrfach auf das Schärfste verurteilt. Und der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof hat bereits Ermittlungen gegen Russland eröffnet, nachdem es konkrete Anhaltspunkte für Kriegsverbrechen gegeben hatte.

Der Vorsitzende der Werchowna Rada hat nach seinem Besuch in Berlin vor einem Monat gesagt: die Parlamente der Ukraine und Deutschlands gemeinsam könnten sich um die Anpassung der ukrainischen Gesetzgebung an die europäische Gesetzgebung bemühen. Ich hoffe, dass in naher Zukunft die Werchowna Rada der Ukraine und der Bundestag das entsprechende Memorandum über die Zusammenarbeit unterzeichnen werden. Wann kann das passieren? Und wie sehen Sie persönlich die europäischen Perspektiven der Ukraine?

Für mich steht es außer Frage: Die Ukraine gehört zu Europa! Mich beeindruckt der Kampfeswille der Ukrainerinnen und Ukrainer, die für Freiheit, Demokratie und die europäischen Werte ihr Leben einsetzen. Damit erinnern sie uns in Deutschland auch immer daran, für welche Werte wir stehen. Und dass wir für unsere Werte einstehen müssen - auch indem wir bereit und in der Lage sind, unsere freiheitlichen Demokratien und unsere Art zu leben zu schützen und zu verteidigen. Ich möchte die Ukraine auf ihrem Weg in die Europäische Union nach Kräften unterstützen. Der Weg dahin wird zwar noch lang sein. Der erste Schritt – der Kandidatenstatus – ist aber schon getan. Unsere Parlamente sind – wie gesagt – im engen Kontakt. Und wo es gewünscht wird, stehen wir mit Rat und Tat der Werchowna Rada zur Seite.

All die Verurteilungen von Putins Krieg seitens der Mehrheit der Staaten der Welt haben den Krieg und Putin nicht gestoppt. Was kann die Weltgemeinschaft Ihrer Meinung nach tun, um diese Barbarei zum Ende zu bringen und nicht einen Diktatfrieden zu akzeptieren?

Die Krimplattform ist ein großes internationales Parlamentstreffen, das auch helfen wird, die Solidarität mit der Ukraine und den Widerstand gegen den russischen Aggressor zu stärken.

Nach acht Monaten des Krieges steht Europa weiterhin geschlossen und entschlossen der Ukraine bei – militärisch und humanitär, finanziell und politisch. Damit hat Putin nicht gerechnet, er wollte Europa spalten. Aber wir sind enger zusammengerückt.

Auch die VN-Resolutionen sind wichtig. Die VN-Generalversammlung hat in einem beeindruckenden Votum am 12. Oktober erneut gezeigt, dass Russland isoliert ist und seine eklatanten Verstöße gegen unsere internationale Ordnung nicht akzeptiert werden.

Wir müssen weiter gemeinsam vorgehen, uns abstimmen, unsere Ressourcen bündeln und die Ukraine in ihrem Kampf um Freiheit unterstützen. Solange wie nötig und mit aller Kraft. Wir prüfen gemeinsam mit unseren Partnern immer wieder, wie wir die Ukraine am besten unterstützten können. Die immer wieder verschärften Sanktionen und die Waffenlieferungen zeigen, dass wir es nicht bei Deklarationen und Verurteilungen belassen.

Sie selbst waren im Mai in der Ukraine. Wie wichtig sind solche persönlichen Eindrücke um die Ukraine besser zu verstehen und unsere Entschlossenheit bis zum Sieg zu kämpfen zu verstehen?

Mein Besuch in Kyiw am 8. Mai war ein sehr einschneidendes Erlebnis für mich auch ganz persönlich. Ich bin 1968 im Frieden geboren und mit einer pazifistischen Haltung aufgewachsen. Aber als ich im zerbombten Butscha und Irpin stand und mit den Menschen dort sprach, die um Hilfe baten, war das wie eine eigene Zeitenwende im Kopf. Ich musste erkennen, wenn man es mit einem brutalen völkerrechtswidrigen Angriff und Menschenrechtsverletzungen zu tun hat, braucht man Waffen zur Selbstverteidigung. Tief beeindruckt war und bin ich vom Kampfeswillen und der Entschlossenheit der Ukrainerinnen und Ukrainer in dieser dramatischen Lage.

SPD-Chef Lars Klingbeil hat gesagt, dass die Partei in der Russland-Politik schwere Fehler begangen habe. Teilen Sie diese Einschätzung? Und auch die Einschätzung, dass es keinen Frieden und keinen Sicherheit in Europa mit diesem Regime in Russland geben kann?

Meine Partei, aber auch andere Parteien, mussten eine Zeitenwende in ihren politischen Einstellungen vollziehen. Wir haben leider zu lange auf eine gemeinsame Sicherheitsordnung und eine Partnerschaft mit Russland gesetzt. Dabei haben wir berechtigte Warnungen unserer mittel- und osteuropäischen Partner nicht ernst genug genommen. Das war ein Fehler.

Heute ist klar: Wir müssen uns und unsere Bündnispartner wieder vor Russland schützen. Gerade für uns Deutschen bedeutet das eine echte Wende. Besonders sichtbar wird das in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik und in der Energiepolitik. Wir nehmen unsere Beistandspflichten gegenüber unseren Verbündeten aber sehr ernst und auch in meiner Partei ist die Solidarität mit der Ukraine sehr groß.

Olha Tanasijtschuk, Berlin

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