Martin Schelleis, Generalleutnant a. D. Bundesbeauftragter für Krisenresilienz bei den Maltesern
Widerstandskraft und Geschlossenheit der Ukrainer rufen in Deutschland allerhöchsten Respekt und große Bewunderung hervor
Martin Schelleis, Generalleutnant a. D., hat 46 Dienstjahre bei der Bundeswehr hinter sich. Er diente in verschiedenen Funktionen der Luftwaffe – vom Piloten bis zu Führungspositionen – und war von 2015 bis zu Beginn seines Ruhestandes im Mai 2024 Inspekteur der Streitkräftebasis, der zweitgrößten militärischen Organisations-einheit der deutschen Streitkräfte. In dieser Funktion verantwortete er die Logistik, die materielle Einsatzunterstützung, Transport, Feldjägerwesen und weitere Unterstützungs- und Servicedienste – also jene Infrastruktur, die die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr sicherstellt. Die von ihm geführte Struktur erfüllte sowohl nationale als auch internationale Aufgaben, von der logistischen Unterstützung von Friedensmissionen und Einsatzkontingenten bis hin zur Hilfeleistung für zivile Stellen.
Seit eineinhalb Jahren ist Schelleis Bundesbeauftragter für Krisenresilienz, Sicherheitspolitik und Zivil-Militärische Zusammenarbeit bei den Maltesern. Die große Hilfs- und Freiwilligenorganisation schuf diese Position eigens für den erfahrenen früheren Spitzenoffizier – im Bewusstsein seines umfassenden Wissens und seiner Expertise im Krisenmanagement. Neben vielfältigen humanitären Aufgaben widmen sich die Malteser seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine vermehrt dem zivilen Bevölkerungsschutz und der Stärkung der gesellschaftlichen Vorsorge für unterschiedliche Notlagen, einschließlich militärischer Gefahren.
Die Ukrinform-Korrespondentin sprach mit dem Generalleutnant a. D., der heute als eine der einflussreichsten Stimmen in den deutschen Debatten über Sicherheit, Zivilschutz und Krisenvorsorge gilt.
Herr General, wie stark hat der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine die Deutsche Sicht auf Krisenresilienz verändert?
Der damalige Bundeskanzler Scholz hat in Folge der russischen Vollinvasion am 27. Februar 2022 den Begriff der Zeitenwende geprägt. Ein auf Deutschland sehr gut passendes Bild – sehr viele Träumer sind seither aufgewacht und sehen, dass auch Krieg zu den Sicherheitsgefährdungen für unser Land gehört. Und immer mehr Menschen drängen auf eine bessere Krisenvorsorge durch den Staat.
Ist Deutschland heute besser vorbereitet als noch vor dem 24. Februar 2022 – und wo bestehen weiterhin kritische Lücken?
Keine Frage: seither sind in vielen Bereichen Fortschritte gemacht worden. Gleichwohl gibt es noch keinen ganzheitlichen Ansatz, der die zersplitterten Zuständigkeiten und Fähigkeiten effizient zusammenfassen und zielgerichtet weiterentwickeln würde. Unser föderaler Staatsaufbau, der nach dem II. Weltkrieg bewusst zur Verhinderung einer Zentralgewalt gewählt wurde, hat viele Vorzüge. Doch er verhindert auch das rasche ‚Durchregieren‘, das in kritischen Situationen vorteilhaft sein kann. Hinzu kommt, dass die Regierungen auf Bundes- und Landesebene regelmäßig von mindestens zwei Parteien getragen werden, was das Tempo tiefgreifender Reformen ebenfalls mindestens abbremst.
Welche Maßnahmen stehen derzeit im Mittelpunkt der bundesweiten Krisenplanung?
Im Vordergrund steht die Ertüchtigung der Bundeswehr, die nach dem Willen von Bundeskanzler Merz zur stärksten konventionellen Streitmacht in (West-)Europa werden soll. Dazu sollen im Jahr 2029 € 154 Mrd. für Verteidigung und noch einmal € 66 Mrd. für verteidigungsrelevante Infrastruktur ausgegeben werden – weit mehr als das Doppelte von heute. Geld ist also genug da, nun müssen sehr schnell Personal gewonnen (heute 184.000, Zielgröße 260.000), Material produziert und Gebäude gebaut werden. Überall wird der gesetzliche Rahmen angepasst, um rascher in die Umsetzung zu kommen.
Welche Rolle spielt das Thema ‚Zivile Verteidigung‘ heute im Vergleich zur Zeit vor dem Russlands Krieg gegen Ukraine?
Die in Deutschland seit 1990 stark vernachlässigte Zivile Verteidigung rückt zunehmend ins Blickfeld, auch weil die Defizite offenkundig sind. Wir haben zwar durchaus respektable Fähigkeiten, die jedoch vornehmlich auf den Katastrophenschutz, also auf Friedensumstände ausgelegt sind. Sie müssen nun nach Qualität und Quantität ‚kriegstüchtig‘ gemacht werden.
Zunächst muss aber ein ganzheitlicher Ansatz festlegen: was brauchen wir wovon und in welchem Umfang?
Wie gut ist die Deutsche Bevölkerung auf mögliche Notlagen vorbereitet?
Sehr vielen ist bewusst, dass auch individuell vorgesorgt werden muss. Broschüren und Handreichungen für den Notfall von Bund, Ländern und Kommunen finden reißenden Absatz, mehr und mehr Menschen informieren sich über Warnsignale und legen sich Notvorräte an. Auch hier könnte es in der Umsetzung schneller gehen, doch die Einsicht wächst, auch ganz persönlich vorsorgen zu müssen.
Was wären aus Ihrer Sicht realistische Erwartungen: Was sollte jeder Haushalt unbedingt für Krisenfälle vorhalten?
Batteriebetriebene Leuchtmittel, Zündhölzer und Kerzen; ein netzunabhängiges Radio; Trinkwasser, Nahrung sowie ggf. Medikamente für drei Tage; gepackter Notfallrucksack mit wichtigen Dokumenten und Bargeld.
Wie gehen Sie mit der Sorge um, dass Mahnungen zur Vorsorge oft als Panikmache missverstanden werden?
‚Be prepared, so you’re not scared’ - so hat der finnische Botschafter in Berlin neulich auf die gleiche Frage geantwortet. Und er hat völlig recht: die Vorbereitung auf Notfälle beruhigt, wenn man alles in der eigenen Macht Stehende getan hat. Das ist wie mit der Vorbereitung auf eine Klassenarbeit in der Schule: vorher lernen lässt ruhiger schlafen.
Welche Fortschritte wurden beim Ausbau des Zivilschutzes und beim Schutz kritischer Infrastruktur erzielt?
Gute Fortschritte sind bei der Warnung der Bevölkerung vor Gefahren unter Nutzung moderner Medien gemacht worden. Auch haben wir viele leistungsfähige Katastrophenschutzfähigkeiten, die grundsätzlich auch für den Zivilschutz nutzbar sind. Doch hier fehlt es noch an einem ganzheitlichen Ansatz für die anforderungsgerechte Weiterentwicklung, um allen Sicherheitsrisiken für die Bevölkerung gerecht zu werden.
Mit dem KRITIS-Dachgesetz und der Umsetzung der EU-Richtlinie NIS 2 wurde kürzlich ein erweiterter Rechtsrahmen für den Schutz Kritischer Infrastrukturen gesetzt. Dieser muss nun durch die Betreiber mit Leben gefüllt werden. Hier gibt es große Unterschiede – manche sind bereits sehr gut aufgestellt, andere haben noch Nachholbedarf.
Gibt es Szenarien, die mit Blick auf hybride Bedrohungen besonders realistisch oder besonders gefährlich erscheinen?
Da müssen wir nicht weit schauen – wir erleben ja seit Jahren eine sich verschärfende hybride Kriegführung Russlands in Deutschland. Cyberangriffe, Sabotage, Desinformation, Spionage, z.B. mittels Drohnen, sind an der Tagesordnung. Die größte Gefährdung ist der Vertrauensverlust der Bürger in unsere föderale, liberale Gesellschaftsordnung, mit den vielfältigen, auch nicht-militärischen Gefährdungen und Problemen fertig zu werden. Die russische Propaganda ist hier sehr erfolgreich.
Welche sicherheitsrelevanten Lehren zieht Deutschland aus den Erfahrungen der Ukraine im Umgang mit massiven Angriffen, Infrastrukturausfällen und hybriden Bedrohungen?
Lückenloser Schutz vor derart massiven Angriffen ist nicht möglich. Daher muss neben der Tarnung und Härtung wichtiger Einrichtungen die rasche Instandsetzung nach Beschädigung oder Zerstörung sichergestellt werden. Die eindrucksvollste Erkenntnis aber ist: die Bürger müssen ihr Land verteidigen wollen und dafür auch bitterste Zeiten durchstehen – so wie es uns die Ukrainer und Ukrainerinnen seit fast vier Jahren in bewundernswerter Art und Weise vormachen.
Gibt es konkrete Elemente aus der Krieg in der Ukraine - und Katastrophenbewältigung, die Deutschland übernehmen oder adaptieren könnte?
Besonders die Widerstandskraft und die große gesellschaftliche Geschlossenheit des ukrainischen Volkes in der Verteidigung seines Landes gegen den russischen Angreifer sowie die Tapferkeit und Opferbereitschaft ganz vieler, ganz normaler Menschen an unterschiedlichsten Stellen im Land. Das nötigt uns hier in Deutschland nicht nur allerhöchsten Respekt, sondern große Bewunderung ab.
Was sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen für die Deutsche Krisenresilienz in den kommenden fünf bis zehn Jahren?
Militärisch stellt Russland bis Ende dieses Jahrzehnts die größte Gefahr dar. Ab dann werden die eingeleiteten Abwehrmaßnahmen in Deutschland und Westeuropa greifen und einen Angriff für Russlands zunehmend unattraktiv machen. Daneben werden uns nicht-militärische, durch Natur oder Menschen hervorgerufene Katastrophen zunehmend treffen, allein schon durch die Folgen des Klimawandels. Die Effektivität, mit der wir der nächsten – wie auch immer gearteten - Krise begegnen, wird entscheidenden Einfluss auf den Fortbestand unserer liberalen Demokratie haben. Krisenresilienz wird also zum Prüfstein für das Vertrauen der Deutschen in ihren Staat.
Olga Tanasiichuk
Olga Tanasiichuk