Heinrich Brauß, Generalleutnant außer Dienst des Heeres der Bundeswehr
Die Ukraine hat zurzeit die stärkste europäische Armee
Generalleutnant der Bundeswehr a.D., Heinrich Brauß, zählt zu den einflussreichsten europäischen Militärstrategen und war von 2013 bis 2018 Beigeordneter Generalsekretär der NATO für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung. In dieser Zeit war er für die Anpassung des Bündnisses nach dem Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine im Jahr 2014 zuständig, insbesondere für die Entscheidung zur Stärkung der NATO-Ostflanke. Nach dem Ende des Dienstes analysiert er weiter die europäische Sicherheit und die Beziehungen zwischen NATO und Ukraine, arbeitet mit Thinktanks zusammen, nimmt an Konferenzen teil und veröffentlicht Forschungsarbeiten. Er setzt sich konsequent für maximale Unterstützung der Ukraine und eine Stärkung der westlichen Verteidigung ein.
Die Korrespondentin von Ukrinform sprach mit General Brauß und befragte ihn zu seiner Vision eines möglichen russischen Angriffs auf die NATO und der Bereitschaft der Allianz zu reagieren, sowie zu den Perspektiven für die Beteiligung von Bundeswehrsoldaten an der Friedenssicherung in der Ukraine.
Sie haben in Ihren Reden erwähnt, dass Sie die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Russland versuchen könnte, ein NATO-Land nicht erst etwa im Jahr 2029 anzugreifen, wie einige Experten sagen, sondern sogar noch vor dem Ende dieses Krieges gegen die Ukraine. Halten Sie das wirklich für realistisch?
Die Auffassungen dazu unterscheiden sich. Meine Sorge ist, dass der russische Präsident Putin jetzt schon einen Angriff auf ein NATO-Land plant. Das gefährlichste Szenario aus meiner Sicht wäre, dass er, solange die Ukraine sich weiter verteidigt, einen schnellen, überfallartigen Angriff auf einen baltischen Staat versucht. Die baltischen Staaten sind am stärksten gefährdet gegenüber einer möglicher russischer Aggression.
Sie meinen einen konventionellen Angriff?
Den „nicht-linearen“ oder hybriden Krieg führt Putin jetzt schon, in der Ukraine, aber auch gegen die westlichen Demokratien, besonders in Europa. Aber er könnte ihn eben auch zu einem konventionellen Angriff erweitern – beispielsweise durch eine schnelle, überfallartige, aber begrenzte Aggression. Und wenn er diese dann mit einer nuklearen Drohung kombinierte, könnte er darauf setzen, dass die NATO a) nicht rechtzeitig mit Verstärkungskräften für die baltischen Verteidiger vor Ort wäre und b) wegen der Furcht vor einer nuklearen Eskalation die Entschlossenheit und Bereitschaft der Verbündeten, die baltischen Staaten schnell militärisch zu unterstützen, nachlassen könnten. Das ist für mich das gefährlichste Szenario.
Etliche Analysten und Planer gehen davon aus, dieses Szenario würde nur greifen, wenn es zu einem Waffenstillstand oder einem Ende des Krieges gegen die Ukraine kommen sollte. Da habe ich Zweifel. Ich fürchte, dass der Hasardeur im Kreml womöglich auch eine andere Option plant, nämlich parallel zum Angriff gegen die Ukraine einen schnellen Schlag gegen einen oder mehrere baltische Staaten, und dass er dann daraufsetzt, dass wir nicht rechtzeitig verteidigungsbereit sind und dass wir außerdem wegen einer möglichen nuklearen Drohung gelähmt würden und nicht die Geschlossenheit und Entschlossenheit aufbringen, in der NATO tatsächlich einen konventionellen Angriff Putins zu konterkarieren und rasch Truppen ins Baltikum zu verlegen. Das ist meine Sorge.
Wäre es der Fall, dass Putin das Baltikum angreift, würden alle anderen NATO-Staaten bereit sein, Artikel 5 wirksam werden zu lassen?
Also, so wie die Lage jetzt aussieht und schlussfolgernd aus dem, was ich aus der NATO höre, ist die Antwort ein klares Ja. Genau vorhersehen, wie in einer heute nicht genau vorhersehbaren Lage die Einzelstaaten sich entscheiden und in der NATO abstimmen, kann man nicht. Man kann auch nicht exakt vorhersagen, angesichts der Lage in den USA und im Lichte der Avancen, die Präsident Trump gegenüber Präsident Putin in der Vergangenheit gemacht hat, ob die Amerikaner sich tatsächlich an der Verteidigung und an der Umsetzung von Artikel 5 beteiligen würden. Generalsekretär Rutte hat gesagt, er sei fest davon überzeugt, weil er gerade erst mit Trump ausführlich darüber gesprochen hat.
Und richtig ist auch, dass in der Erklärung des NATO-Gipfeltreffens in Den Haag – ganz wichtig, wie eine Überschrift – im ersten Abschnitt steht: Wir stehen alle zur kollektiven Verteidigung, „Einer für alle, alle für einen“, und felsenfest zu Artikel 5, und wir werden unsere Alliierten und unsere Bevölkerungen schützen und Freiheit und Demokratie verteidigen. Das hat auch Präsident Trump unterschrieben. Und deshalb planen die Amerikaner weiter, in Europa militärisch präsent zu sein, und die NATO plant die Verteidigung aller ihrer Regionen.
Deswegen ist es auch so wichtig, auch wenn die Amerikaner nach Aussage des amerikanischen Verteidigungsministers Hegseth angeblich eine „European-led NATO“ anstreben, dass der militärische Oberbefehlshaber der NATO, der SACEUR, ein Amerikaner bleibt. Er ist eine machtvolle Persönlichkeit im amerikanischen System. Er plant die Verteidigung der NATO und den Einsatz der amerikanischen Truppen in Europa; er ist gleichzeitig Oberbefehlshaber der amerikanischen Truppen in Europa, nicht nur SACEUR. Das ist für mich ein starkes Zeichen.
So schauen auch die russischen Strategen und Planer auf die Allianz. Solange Moskau davon ausgehen muss, dass sich die gesamte NATO zur Verteidigung entschließt – wie die kollektive Verteidigung letztlich ihre Raison d'être, ihr Kernauftrag ist – und solange die Möglichkeit besteht, dass die Amerikaner dann „full speed“, mit ganzer Kraft, an der Verteidigung ihrer Verbündeten teilnehmen, ist das Risiko für Russland zu groß einen Krieg gegen die NATO oder auch nur einzelne Verbündete zu verlieren. Und wenn die Amerikaner involviert sind, heißt das für russische Strategen, dass immer auch die Gefahr einer Eskalation in eine nukleare Auseinandersetzung mit den USA besteht. Selbst wenn Russland dann mit Nuklearwaffen drohte oder sie einsetzte, kann man in Moskau nicht ausschließen, dass es zu einer nuklearen Eskalation zwischen Russland und Amerika kommt. Und das wäre für Russland selbst selbstmörderisch. Das durchdenken die russischen Strategen als Möglichkeit, und diese Möglichkeit ist zu risikoreich für einen russischen Angriff.
Wie hat sich die nukleare Abschreckungsstrategie der NATO seit 2022 verändert?
Im Grund aus meiner Sicht gar nicht. Die Grundsätze und Kernelemente der nuklearen Abschreckung ist so, wie sie war, und wird aus meiner Sicht im Kern so bleiben. Sie beruht auf einer Kombination der strategischen Nuklearwaffen der Amerikaner – Luft-, Boden- und Seestreitkräfte inklusive U-Boot-gestützter Raketen – und den in Europa vorausstationierten, endphasengelenkten und daher zielgenauen Bomben der USA, die zurzeit in fünf Nationen: Deutschland, Belgien, den Niederlanden, Italien und der Türkei lagern. Sie würden im Ernstfall einer Entscheidung über ihren Einsatz mit Kampfflugzeugen transportiert und auf Ziele in Russland gelenkt Dies macht die erweiterte nukleare Abschreckung der USA im Rahmen der NATO aus Jetzt hat sich Großbritannien entschieden, ebenfalls dazu beizutragen, was ein wichtiger neuer Aspekt ist, der die Glaubwürdigkeit der erweiterten Abschreckung stärkt.
Insofern verändert sich die Strategie insgesamt nicht, wohl aber die Optionen der NATO und der USA; die Optionen der nuklearen Abschreckung erweitern sich, was ein zusätzlicher Abschreckungsfaktor gegenüber Russland ist. Großbritannien ist ohnehin nuklear bewaffnet und verfügt über U-Boot-gestützte strategische Fähigkeiten; ergänzt wird dies nun durch kampfflugzeuggestützte Nuklearwaffen, möglicherweise auch B61-12-Bomben, die sie wie andere Verbündete im Ernstfall ebenfalls einsetzen könnten, falls der US-Präsident und die NATO entscheiden, im Extremfall bestimmte, bewusst ausgewählte Ziele in Russland atomar zu treffen.
All dies wissen die Russen und beziehen es in ihr strategisches Kalkül ein. Die Prinzipien der nuklearen Abschreckung der NATO sind also bislang unverändert: Es geht darum, von einem Angriff abzuschrecken, eine russische Erpressung zu konterkarieren und zu entkräften mit dem Hinweis auf unsere Fähigkeiten, mögliche Ziele in Russland nuklear treffen zu können – und dies nicht als isolierte Maßnahme der USA, sondern als gemeinschaftliche Aktion von Amerikanern und Europäern im Rahmen der NATO.
Glauben Sie persönlich an die russische Oreschnik, Poseidon, Burevestnik usw.? Wie ernst ist die Gefahr, unterschätzt man sie nicht? Mit welchem Ziel hat Putin all das demonstriert?
Für mich ist es eine bewusste Demonstration, die Furcht verbreiten soll, in den Regierungszentralen und Parlamenten der Verbündeten und auch in der Bevölkerung, vor allem in unserer Bevölkerung. Aber das Prinzip der wechselseitigen nuklearen Abschreckung zwischen den USA und Russland ändert sich grundsätzlich nicht. Burevestnik beispielsweise ist ein nuklearer (und nuklear angetriebener) Marschflugkörper von strategischer Reichweite, der Amerika erreichen können soll. Er soll manövrierfähig sein und könne daher nicht abgefangen und zerstört werden.
Insofern bedeutet die Rolle der genannten russischen Nuklearwaffen in der russischen Nuklearstrategie aus meiner Sicht keine prinzipielle Veränderung. Aber sie ändern das strategisch-nukleare Gleichgewicht zwischen den Vereinigten Staaten und Russland nicht grundsätzlich. Und sie ändern für mich auch nichts an dem Prinzip und der Glaubwürdigkeit der Abschreckung der Amerikaner und der NATO. Die USA behalten so oder so die vernichtende nukleare Zweitschlagfähigkeit, auch nach einem großen russischen Erstschlag. Die eiskalte Logik der „wechselseitig gesicherten Vernichtungsfähigkeit“, der „Mutual Assured Destruction“, ist der Kern der Abschreckung und Kriegsverhinderung zwischen den beiden Großmächten.
Gibt es überhaupt etwas, das Diktatoren wie Putin abschrecken oder stoppen kann?
Gute Frage. Das ist bei Putin schwer zu sagen, der sich in den letzten Jahren immer weiter radikalisiert hat und jetzt wild entschlossen zu sein scheint, die Ukraine niederzuringen und dann auf dieser Basis, wer weiß, was noch gegenüber Europa zu tun.
Wenn wir — Europäer und Amerikaner — die Ukraine weiter massiv unterstützen, dann bin ich überzeugt, dass er militärisch nicht gewinnen kann. Ob er dann irgendwann einmal einlenkt oder ob er weitere Hunderttausende seiner Soldaten opfert, das weiß ich nicht, und ich habe auch Zweifel, ob er sich einsieht, dass er dann den Krieg nicht gewinnen kann und dann ein Verhandlungsangebot macht. Ich kann es nur hoffen, aber wir haben keine Alternative, als die Ukraine und die ukrainische Armee mit allem, was wir aufbieten können, zu unterstützen. Auch die ukrainische Rüstungsindustrie und die Kooperation mit ihr zu fördern und die Ukraine mit mehr Luftverteidigungswaffen zu unterstützen. Drohnen produziert sie schon selbst und zwar viel schneller als wir in Deutschland.
Wie bewerten Sie die Fähigkeiten der ukrainischen Soldaten und die Qualität der von der Ukraine produzierten Waffen?
Wir haben gehört — und das Urteil teile ich —, dass die Ukraine zurzeit die stärkste europäische Armee hat.
Sie hat Kriegserfahrung, sie praktizieren wohl auch das, was wir „Führen mit Auftrag“ oder Auftragstaktik nennen: Militärische Führer entscheiden vor Ort selbst, was sie in einer bestimmten Lage in ihrem Bereich für die beste Verteidigung zu tun haben, statt auf Befehle von oben zu warten. Das sogenannte Führen mit Auftrag ist das Grundprinzip moderner militärischer Führung, weil sie flexibler und effektiver ist als die sogenannte Befehlstaktik.. Und wenn die Ukraine dies praktiziert und dann weiter mit den richtigen Waffen ausgestattet wird und in der Lage ist, mit ihrer eigenen Rüstungsindustrie die Waffensysteme und Drohnen zu produzieren, die sie braucht, und wenn sie — und das ist ebenso wichtig —darin unterstützt wird, ihr Energiesystem zu stabilisieren und zu schützen, dann kann sie erfolgreich sein. Und dazu braucht sie vor allem Luftverteidigungskräfte. Dann, glaube ich, wird die russische Armee weiter nicht wirklich vorankommen und sich der russische Angriff totlaufen. Und dann muss es, wenn die russische Führung vernünftig und verantwortlich wäre, einen Punkt geben, zu dem sie zu einem Waffenstillstand bereit ist. Was Präsident Selenski ja angeboten hat und der amerikanische Präsident auch. Und dann sollte das Ziel von Verhandlungen sein, dass die Ukraine einer Aufgabe von Teilen ihres Territoriums nicht zustimmen muss.
Im Falle eines Waffenstillstands, würde Deutschland bereit sein, seine Soldaten als Peacekeeper zu schicken?
Ich glaube ja. Wobei ich da Verteidigungsminister Pistorius folge, der beton hat, dass wir jetzt nicht über theoretische Entwicklungen öffentlich diskutieren und konkrete Schlüsse ziehen sollten, die vielleicht in dem Moment, zu dem ein solcher günstiger Augenblick kommt, ganz anders aussehen. Grundsätzlich bin ich der Überzeugung: Wenn Putin einlenkt, wenn es zu einem vertraglichen Waffenstillstand kommt und dann in dem Vertrag steht, dass europäische und amerikanische Truppen diesen Waffenstillstand in der Ukraine überwachen, dann würde Deutschland sich mit Sicherheit beteiligen.
Aber das sind so viele, noch nicht absehbare Bedingungen. Deswegen verstehe ich, dass Minister Pistorius sich dagegen wehrt, jetzt darüber zu spekulieren und sogar — was ja einige angeblich getan haben — Pläne zu entwickeln, für die die politische Grundlage und militärischen Voraussetzung noch gar nicht gegeben sind.
Im Prinzip würde ich sagen: Wenn das passiert — Waffenstillstand, Putins Unterschrift in dem Vertrag, Überwachung des Waffenstillstands, zum Beispiel in bestimmten Schwerpunkt-Regionen, mit europäischen Streitkräften, ich würde dazu sagen: unbedingt auch mit amerikanischen Truppen, weil amerikanische Streitkräfte der meisten abschreckende Faktor für Putin sind – dann würde sich, davon bin ich überzeugt, Deutschland beteiligen.
Was wäre für den Westen gefährlicher: ein eingefrorener Konflikt oder der Sieg Russlands?
Einen Sieg Russlands darf es nicht geben! Er muss unbedingt verhindert werden. Nicht nur aus militärischen, sondern auch aus politisch-strategischen Gründen. Denn dann würde Putin annehmen, er könne gegen die NATO in Europa vorgehen und auch gewinnen. Und er glaubte womöglich, dass er seine weitreichenden strategischen Ziele für die Rückkehr zu alten Einflusszonen in Europa, die er im Dezember 2021 in seinen beiden Vertragsultimaten an die Führungen von USA und NATO gesetzt hatte, dann angehen kann, weil er sozusagen befreit wäre von der Last des Krieges gegen die Ukraine, frische Kräfte sammeln könnte, die Kriegswirtschaft nach wie vor aufrechterhalten würde, die Produktion von Panzern und anderen Waffen nach wie vor hoch wäre und er dabei auf seine eigene Truppe und Bevölkerung weiterhin keine Rücksicht nehmen müsste.
Deswegen muss die Ukraine bestehen bleiben und weiterkämpfen können. Zumal sie, militärisch gesprochen, die russische Armee ständig stark abnutzt.
Und was ist mit Taurus? Das wäre ein gutes Mittel, zumindest als Symbol.
Finde ich auch.
Warum bekommt die Ukraine dann solche Marschflugkörper nicht?
Ich weiß es nicht. Ich fand die Rhetorik des ehemaligen Bundeskanzlers Scholz kontraproduktiv: „Kein Krieg, keine Eskalation“ – dies klang immer ängstlich und verzagt. Statt zu sagen: „Wir müssen die Ukraine mit allem, was wir haben, für ihre Verteidigung unterstützen, weil sie Teil unserer eigenen Sicherheit ist.“ Scholz hatte sich selbst in eine Art Falle geredet, nicht zu liefern. Warum die jetzige Regierung sich nicht entschließen kann TAURUS zu liefern, ist mir nicht erklärlich. Ich vermute, weil die SPD in der Regierungskoalition weiter dagegen ist.
Ich habe auch das folgende Argument gehört: Wir arbeiten mit der ukrainischen Rüstungsindustrie zusammen, und diese ist so weit, dass sie eigene weitreichende Marschflugkörper entwickelt, die sogenannten Flamingo Cruise Missiles, selbst rasch in viel größerer Stückzahl produzieren kann. Und das sei militärisch der bessere Weg. Die deutsche Industrie ist noch nicht darauf eingestellt, solche Systeme schnell in großer Zahl zu produzieren. Ist das ein hinreichender Grund aus meiner Sicht? Persönlich sage ich nein. Und deswegen muss ich schließlich auch eine eindeutige Antwort schuldig bleiben.
Ein weiterer Aspekt: Warum liefert Präsident Trump keine Tomahawks? Reichweite bis 2.500 Kilometer, sie sind noch effektiver als Taurus mit einer Reichweiter von mehr als 500 Kilometer. Das Pentagon hat ja erklärt, es stünden keine Gründe dagegen. Das heißt doch, dass die USA genügend haben, schnell genug weitere produzieren kann und das Pentagon eigentlich auch damit einverstanden ist, dass die Ukraine Tomahawk bekommt. Was Trump daran hindert, sie zu liefern? Vielleicht will er sich die Chance offenhalten, nach ein paar Monaten erneut mit Putin ins Gespräch zu kommen und ihm dann anzubieten: „Lass uns einen Deal machen und den Krieg beenden.“
Die Frage an Sie als ehemaligen hochrangiger NATO-Angehöriger: Was ist mit der ukrainischen Mitgliedschaft in der NATO? In der Ukraine wird oft erwähnt, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel einst eine Rolle dabei spielte, dies zu verhindern...
Beim NATO-Gipfeltreffen der NATO 2008 in Bukarest kamen die Staats- und Regierungschefs „überein, dass die Ukraine und Georgien Mitglieder werden.“
Das geschah hauptsächlich auf Initiative des amerikanischen Präsidenten Georg Bush jr., die nach meiner Erinnerung alle anderen Verbündeten völlig unvorbereitet traf; die Europäer waren darüber vorher nicht informiert. Und es stimmt, die meisten waren dagegen, vor allem auch Deutschland und Frankreich. Ich war damals mit im Raum, auch als Putin zum NATO-Russland-Rat kam. Ich habe erlebt, wie er die Staatschefs aus seiner Sicht historisch belehrte. So wie er es auch heute wohl noch tut, angeblich auch mit Präsident Trump in Alaska. Und er erläuterte, dass die Ukrainer aus seiner Sicht eigentlich Russen seien und immer schon zu Russland gehörten. Und dass Chruschtschow sie angeblich in die Selbstständigkeit entlassen habe. Und auch die Krim sei russisch, mit einer Bevölkerung, die zu 90% aus ethnischen Russen bestünde. Also das ganze Arsenal an Argumenten, dass wir von Putin kennen — das hat er damals schon ausgebreitet. Und dann fügte er hinzu: Auch in der Ukraine lebten Millionen von Russen; er sei der russische Präsident, er habe Verantwortung auch für diese Russen. Und dann drohte er: „Glauben Sie mir, Ich werde diese Verantwortung wahrnehmen.“ – Totenstille im Saal. Das war, wenn ich mich richtig erinnere, am Ende einer Diskussion, an der sich auch andere Staatschefs beteiligt hatten. Der lettische Staatspräsident hatte auf Russisch Putin daran erinnert, was die Sowjetunion bzw. Russland vorher unterschrieben hatten – beispielsweise die Charta von Paris, die NATO-Russland-Grundakte und so weiter – und an seine früheren eigenen Aussagen, dass er keine Einwände gegen eine NATO-Erweiterung hätte. Nachdem Putin geendet hatte, meldete sich die deutsche Bundeskanzlerin Merkel und sagte nur einen Satz: „Wladimir, darüber müssen wir noch einmal reden.“ Das war‘s.
Aber seit jener Zeit steht ja der Satz: „Wir kamen heute überein, dass die Ukraine und Georgien Mitglied der NATO werden.“ Das ist ja eine definitive Aussage.
Die Staatschefs der NATO glaubten damals, durch den Umstand, dass die Ukraine damals keinen „Membership-Action-Plan“ erhielt, der den Weg in die NATO regelt, in Stufen und Schritten, mit bestimmten Bedingungen, sei der russischen Führung klar, dass die Aufnahme nicht auf der Tagesordnung stünde und weit in die Zukunft verschoben wäre, dass sie es also nicht so ernstmeinten. Aber Putin hatte es vermutlich ganz anders verstanden, nämlich als definitive Willensäußerung.
Und dann kamen später die Folgegipfel, vor allem der von Vilnius 2023 und der von Washington 2024, die praktisch feststellten, die Ukraine ist auf dem Weg in die NATO — und zwar unumkehrbar. Diese Feststellung wurde nicht wiederholt als Gipfelbeschluss von Den Haag. Auch das war aus meiner Sicht ein Signal, dass es dafür keine Einigung in der NATO gibt.
Nun gibt es eine Grundregel in der NATO: Wenn und solange ein Staat im Konflikt mit einem Nachbarn ist, wird er nicht in die NATO aufgenommen. Das ist ein generelles Prinzip in der Allianz. Sie will keine ungelösten Konflikte importieren. Daraus folgt, es macht keinen Sinn, jetzt darüber zu spekulieren, ob und wann die Ukraine in die NATO kommt. Solange sie sich im Krieg befindet, weil sie angegriffen wurde, ist die Aufnahme in der NATO kein Thema.
Ich weiß, dass es zynisch klingt: Die Ukraine ist angegriffen, kann gar nichts dafür und hat sich eigentlich darauf verlassen, dass das Versprechen der NATO gilt. Es ist also aus ukrainischer Sicht mindestens äußerst unfair. Das verstehe ich.
Es gibt aus meiner Sicht noch einige weitere Überlegungen, die man in diesem Zusammenhang anstellen muss. Die Ukraine ist ein riesiges Land. Wenn sie unter außergewöhnlichen Umständen Mitglied der NATO würde, müsste die NATO dort Truppen stationieren, und zwar nicht nur in der Ukraine allein. Sie müsste Pläne haben und Vorsorge dafür treffen, dass man die Ukraine verteidigen und dazu mindestens schnell verstärken könnte. Aber wenn die Abschreckung für die Ukraine und in der Ukraine glaubwürdig sein sollte, müssten aus meiner Sicht NATO-Truppen dort stationiert werden. Vor allem gegenüber einem möglicherweise immer noch aggressiven Russland. Das wäre eine große Herausforderung. Es müssten aus meiner Sicht auch amerikanische Verbände dabei sein. Das wäre schwierig, weil die Amerikaner ihren strategischen Schwerpunkt im asiatisch-pazifischen Raum sehen und die Sicherheit Europas am liebsten den Europäern überlassen würden. Für die Bundeswehr wäre neben der Panzerbrigade 45 in Litauen eine weitere, größere Stationierung außerhalb Deutschlands eine große Herausforderung. Und wären die anderen Verbündeten bereit, Truppen in der Ukraine neben der ukrainischen Armee zu stationieren? Vielleicht ja.
Kann man sich vorstellen, dass die NATO sich entschlösse in einer künftigen Lage, in der Putin sich zurückzöge, die Ukraine in die NATO aufzunehmen als Vorsorge, aber nicht mit alliierten Truppen dort, sondern mit Plänen zur Verstärkung? Dies hätte weitreichende militärische Folgen im restlichen Teil Europas und darüber hinaus. Wir müssten vermutlich Kräfte in Europa vorverlegen — Polen, Amerikaner, Deutsche. Und wer noch? Frankreich, Großbritannien, Skandinavier? Eine denkbare, künftige Möglichkeit wäre dies möglicherweise schon. Aber jetzt gilt bis auf weiteres Satz 1: Solange die Ukraine im Krieg ist … Das ist in ukrainischen Augen zynisch, aber wohl realistisch.
Olga Tanasiichuk