Gerald Karner, Brigadier a. D. des Bundesheeres

Europa muss an der Seite der Ukraine stehen – nicht nur hinter ihr

Nur wenige Fachleute und Politiker im Westen hätten erwartet, dass die Ukraine einem großangelegten Angriff Russlands standhalten könnte. Und noch weniger, dass nach mehr als dreieinhalb Jahren dieses Krieges die russische Armee immer noch im Donbass angreift – und dabei Verluste erleidet, die mit der Stärke mancher europäischer Armeen vergleichbar sind.

Der österreichische Militärexperte Gerald Karner – ehemaliger Brigadier des Bundesheeres, früher Leiter der Abteilung für Militärstrategie im Verteidigungsministerium und heute Berater für strategische Planung sowie gefragter Kommentator des russisch-ukrainischen Krieges in den österreichischen Medien – gibt zu, dass er am 24. Februar 2022 ähnlich dachte. Doch schon in den ersten Wochen der Invasion habe sich gezeigt, dass Russland sich gründlich verrechnet hatte – vor allem in seiner Einschätzung der ukrainischen Widerstandsfähigkeit.

Karner betont, dass die Ukrainer den Mythos von der „zweitstärksten Armee der Welt“ zerstört haben. Dennoch sei die Bedrohung aus Moskau für Europa keineswegs verschwunden – ihr Ausmaß hänge maßgeblich vom weiteren Verlauf des Krieges ab. Umso wichtiger sei es jetzt, dass Europa klar zeige, dass es an der Seite der Ukraine steht – und nicht hinter ihr.

Im Gespräch mit Ukrinform analysiert Gerald Karner die aktuelle Lage an der Front und ihre möglichen Entwicklungen, die Rolle der Panzer im „Drohnenkrieg“ und Wege aus dem Stellungskrieg. Außerdem spricht er über Russlands hybride Kriegsführung gegen Europa, die Zukunft der europäischen Sicherheitsarchitektur und die von ihm so bezeichnete „Kalte Krieg 2.0“ – die strategische Rivalität zwischen den USA und China.

Herr Karner, der großangelegte Krieg Russlands gegen die Ukraine dauert nun schon 1340 Tage – trotz der russischen Parolen, "Kiew in drei Tagen einzunehmen". Hätten Sie sich vorstellen können, dass die Ukraine so lange und so effektiv dem russischen Angriff standhält?

Das hätte ich mir am 24. Februar 2022 so nicht vorstellen können – dass die Ukraine diesem Angriff so lange standhält.

Aber wenige Wochen später wurde immer deutlicher, dass der russische Angriff nicht wirklich gut geplant und vor allem nicht gut durchgeführt wurde. Hier hat sich Russland ganz offensichtlich verkalkuliert, insbesondere in der Einschätzung der Widerstandskraft der Ukraine.

Kann man sagen, dass die Ukrainer den Mythos von der „zweitstärksten Armee der Welt“ zerstört haben?

De facto hat die Ukraine diesen Mythos zerstört, ganz klar.

Es haben sich alle Schwächen der russischen Streitkräfte in diesem Krieg offenbart. Beginnen wir auf der strategischen Ebene: Ganz offensichtlich wurde den Entscheidungsträgern wie Wladimir Putin ein falsches Lagebild gezeichnet, ein Lagebild, das darauf hindeutete, dass Kyjiw sehr rasch fallen, die politische Führung ins Ausland fliehen würde und die gesamten ukrainischen Strukturen zusammenbrechen würden.

All das ist nicht eingetreten.

Das ist sicherlich der Widerstandskraft sowohl der Streitkräfte als auch der Bevölkerung und der politischen Führung der Ukraine zuzuschreiben.

Der US-Präsident Donald Trump nannte Russland wegen seiner militärischen Misserfolge in der Ukraine einen „Papiertiger“. Stimmen Sie dieser Einschätzung zu – oder ist das vielleicht eine gefährliche Unterschätzung der russischen Armee?

Ich fürchte, dass die militärische oder militärstrategische Urteilskraft von US-Präsident Donald Trump nicht besonders ausgeprägt ist, um es vorsichtig auszudrücken.

Nein, dem kann ich natürlich nicht zustimmen.

Russland hat in diesen drei Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen, um sich an die Verteidigung der Ukraine anzupassen. Es hat immer wieder Erfolge erzielt und gewaltige Kapazitäten aufgebaut, etwa für die Entwicklung und den Einsatz von Drohnen, Marschflugkörpern, ballistischen Lenkwaffen und dergleichen.

Russland hat gezeigt, dass es anpassungsfähig ist und, wenn es nicht eingedämmt wird, tatsächlich weiterhin eine Bedrohung für Westeuropa bleibt.

Wie bewerten Sie die aktuelle Lage an der Front?

Die Lage ist für beide Seiten sehr schwierig.

Jetzt beginnt die Schlammperiode. Der Krieg ist statisch geworden – mit Ausnahme punktueller Vorstöße werden keine großen Gebiete mehr in Besitz genommen.

Es gelingt der Ukraine jedoch auch wieder, Räume zurückzugewinnen – Stichwort: der Raum Sumy.

Vor allem aber schafft es die Ukraine mit weitreichenden Mitteln, wichtige Anlagen für die russische Kriegsführung in der Tiefe des russischen Raumes zu treffen, etwa Ölraffinerien, Munitionslager oder Treibstofflager.

Die Treibstoffproduktion Russlands ist – wenn man seriösen Quellen Glauben schenken darf – bereits um zumindest 20 Prozent, manche sprechen sogar von mehr, beeinträchtigt beziehungsweise nicht mehr verfügbar. Das ist eine erhebliche Einschränkung der russischen Kriegsführungsfähigkeit.

Und auch abseits der Front ist die wirtschaftliche Lage Russlands alles andere als gut: Die Mehrwertsteuer wurde auf 22 Prozent erhöht, die Inflation ist sehr hoch, und letztlich gehen Russland auch die Menschen für seine Kriegsmaschinerie aus.

Und wie beurteilen Sie die russische Sommer-Herbst-Offensive, die im Grunde nie aufgehört hat?

Für mich ist diese Offensive im Sommer dieses Jahres gescheitert.

Die russischen Truppen konnten keine entscheidenden Vorstöße erzielen – sie konnten zum Beispiel Kupjansk nicht einnehmen, geschweige denn Slowjansk oder Kramatorsk. Das wären die eigentlichen Ziele dieser Offensive gewesen.

Diese Ziele wurden nicht erreicht, daher halte ich die Offensive für gescheitert. Spätestens jetzt müsste die russische politische Führung erkannt haben, dass mit dieser Art der Kriegsführung nichts mehr zu gewinnen ist.

Welche Erwartungen haben Sie für den Verlauf des Krieges im Herbst und Winter 2025-2026?

Das Muster, das wir bereits kennen, wird sich wohl wiederholen – möglicherweise in verstärkter Form.

Wir wissen, dass Russland eine sehr hohe Produktionskapazität für Drohnen, Marschflugkörper und ballistische Raketen aufgebaut hat. Ich befürchte, dass Russland diese Kapazitäten einsetzen wird – beginnend im Herbst und dann vor allem im Winter –, um die kritische Infrastruktur der Ukraine zu treffen. Das betrifft alle Anlagen, die für die Aufrechterhaltung der ukrainischen Wirtschaft und die Versorgung der Bevölkerung entscheidend sind.

Wir sehen derzeit täglich etwa 300 bis 500 Angriffe mit Drohnen und Raketen. Diese Zahl könnte auf 1.000 oder mehr steigen.

Am Boden erwarte ich aufgrund der beginnenden Schlammperiode keine größeren Bewegungen mehr. Die russischen Kräfte sind dafür zu schwach – auch wenn die ukrainischen Linien ebenfalls stark ausgedünnt sind.

Sehen Sie Anzeichen dafür, dass Russland seine militärischen Möglichkeiten erschöpft, oder kann Moskau das derzeitige Kampftempo halten oder sogar steigern?

Russland hat zunehmend Probleme, neue Soldaten zu rekrutieren. Die astronomischen Summen, die für die Unterzeichnung von Verträgen geboten werden, lassen sich auf Dauer nicht aufrechterhalten.

Die russische Wirtschaft wird diese Belastung nicht mehr lange tragen können.

Das könnte dazu führen, dass die politische Führung in Moskau – vielleicht in absehbarer Zeit – erkennt, dass es vernünftiger wäre, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, diesmal aber mit realistischen Vorstellungen und einer echten Kompromissbereitschaft.

Was könnte das Kräfteverhältnis im Krieg zugunsten der Ukraine verändern?

Entscheidend ist die Stärkung der Luftverteidigung. Die Unterstützung Europas, der USA und der NATO sollte sich auf diese Systeme konzentrieren.

Gleichzeitig ist es zentral, dass die Ukraine ihre eigene Rüstungsindustrie – einschließlich Logistik, Reparatur und Instandsetzung – weiter ausbaut und schützt.

Ebenso wichtig ist, dass Europa deutlich zeigt, dass es weiterhin an der Seite der Ukraine steht – nicht nur hinter ihr. Das ist ein wesentlicher Unterschied.

Europa reagiert zwar langsam – ein Apparat mit 27 Regierungen ist schwer zu koordinieren –, aber wenn das System einmal läuft, funktioniert es gut und produziert Ergebnisse.

Das wird der Ukraine spätestens im kommenden Jahr zugutekommen.

Und läuft dieses System jetzt in Europa?

Nach den jüngsten Nachrichten aus Brüssel scheint das System tatsächlich zu funktionieren.

Die europäische Rüstungsindustrie wird angekurbelt, die Unterstützung für die Ukraine nimmt systematisch zu.

Europa kauft nun vermehrt amerikanische Waffensysteme, die anschließend an die Ukraine weitergegeben werden.

Die jüngsten Beschlüsse des Europäischen Rates deuten klar darauf hin.

Man spricht offiziell von einer „Stärkung der Verteidigung an der Ostflanke“ der EU und der NATO – tatsächlich bedeutet das aber auch eine vereinfachte Lieferung von Waffensystemen an die Ukraine.

Sie haben früher ein Jagdpanzerbataillon geführt. Aus dieser Erfahrung heraus – Wie hat sich die Rolle von Panzern und gepanzerter Technik im Krieg Russlands gegen die Ukraine verändert – und welche Zukunft sehen Sie für den Panzer in modernen Kriegen?

Ich denke, dass die derzeit oft betonte Überlegenheit der Drohnen als Hauptwaffensystem etwas überschätzt wird.

Natürlich haben Drohnen das Kriegsbild grundlegend verändert – sie dominieren es im Moment sogar.

Aber, wie immer in der Kriegsgeschichte, entwickeln sich auch die Gegenmaßnahmen weiter.

In den ersten Kriegsjahren war man von dieser Dominanz und der Vielseitigkeit des Drohneneinsatzes völlig überrascht.

Zunächst gab es kaum systematische Möglichkeiten, etwas dagegen zu unternehmen.

Dann begann man, ihre Fernsteuerung zu stören. Später hat man sie etwa mit Glasfaserkabeln zu steuern begonnen, um sie weniger störanfällig zu machen.

Und schließlich kamen Abfangdrohnen ins Spiel.

Die Ukraine hat hier sehr schnell reagiert – auch mit mobilen, kleinen Teams, die gemeldete Drohnen rasch aufspüren und sie mit Maschinengewehren vom Boden oder von der Luft aus bekämpfen können.

Das zeigt, wie dynamisch sich das Verhältnis zwischen Angriffs- und Abwehrtechnologien entwickelt.

Ich glaube, dass zukünftige Panzerfahrzeuge deutlich besser darauf ausgelegt sein werden, auch in einem Umfeld zu operieren, das von Drohnen „gesättigt“ ist.

Ja, der Panzer hat vordergründig an Bedeutung verloren, während Drohnen stark an Einfluss gewonnen und das Kriegsbild verändert haben – aber dieses verändert sich ständig.

Wer glaubt, den Krieg von morgen mit den Mitteln von heute führen zu können, irrt sich.

Wie Sie gesagt haben, hat der massive Einsatz von Drohnen den Charakter des Krieges völlig verändert. Wie kann man aus diesem Stellungskrieg herauskommen? Welche Innovationen sind nötig – und wer wird schneller sein: die Ukraine und ihre Partner oder Russland und seine Verbündeten?

Ich glaube, dass die Ukraine hier die Oberhand behalten wird – nicht aus einem einzigen, aber aus dem entscheidenden Grund: Die Ukraine hat gelernt, in westlichen Dimensionen zu denken.

Nicht mehr in den alten, sowjetisch geprägten Kategorien von Befehl und Gehorsam, sondern im Sinne eines Auftragsprinzips, einer sogenannten Auftragstaktik. Das bedeutet: Der Kommandant gibt das Ziel und die Mittel vor, überlässt aber die konkrete Ausführung den Unterführern – die dadurch ihre Kreativität einbringen können.

Gerade im Drohnenkrieg zeigt sich das besonders deutlich.

Ich weiß, die Frage ist eher militärischer Natur – aber die Führungskultur, Kommunikation und Motivation spielen dabei eine zentrale Rolle.

Russische Soldaten werden oft als Kanonenfutter eingesetzt und buchstäblich ins Feuer getrieben. In der Ukraine dagegen kämpft man um jeden einzelnen Menschen – und das ist ein gewaltiger Unterschied.

Militärisch-technisch könnte eine Entwicklung entscheidend sein, bei der die Ukraine – durch koordinierte Schutzmaßnahmen gegen Drohnenangriffe – wieder über eine größere Zahl gepanzerter Fahrzeuge verfügt.

Die Panzer, die 2023 zur Verfügung standen, haben bei weitem nicht ausgereicht. Das hat sich insbesondere im Süden der Ukraine gezeigt.

Wenn künftig mehr Panzer bereitstehen – nicht nur Kampfpanzer, sondern auch andere Fahrzeuge der mechanisierten Verbände –, und wenn es gelingt, einen wirksamen „Drohnenabwehrschirm“ zu etablieren, dann wären durchaus tiefgreifendere militärische Erfolge denkbar.

Ob es dazu kommt, bleibt allerdings abzuwarten.

In letzter Zeit hat Russland seine hybride Kriegsführung gegen Europa verstärkt – etwa durch Drohnenprovokationen und Luftraumverletzungen über Polen, Rumänien oder Estland. Welche Ziele verfolgt Russland damit? Und war die Reaktion Europas und der NATO ausreichend?

Wir sehen uns ja schon seit geraumer Zeit dieser hybriden Kriegsführung gegenüber.

Wenn man Wahlbeeinflussung, Destabilisierungsmaßnahmen und Desinformationskampagnen dazuzählt, dann hat diese Form der Kriegsführung bereits in den 2010er-Jahren – also spätestens ab 2014 oder 2015 – massiv eingesetzt. Sie hat sich aber in den vergangenen Jahren deutlich intensiviert, genau darauf haben Sie hingewiesen.

Ich denke, dass Europa früher und entschiedener hätte reagieren müssen, vor allem in der Information der eigenen Bevölkerung.

Zu lange haben wir so getan, als wäre der Krieg etwas, das weit entfernt ist und uns nur deshalb betrifft, weil die Ukrainerinnen und Ukrainer uns sympathisch sind.

Aber es handelt sich um einen existenziellen Konflikt, der auch für uns potenziell existenziell ist: Russland bedroht uns zurzeit weniger physisch unmittelbar, wohl aber unsere Lebensweise, unsere demokratischen Werte, unsere Freiheiten.

Was die Drohnenprovokationen in Kopenhagen, Polen und anderswo betrifft, gibt es zwei Punkte, auf die man achten muss. Einerseits darf man nicht hysterisch reagieren, denn das würde nur die eigene Bevölkerung verunsichern – genau das wäre im Interesse Russlands. Andererseits muss man entschlossen handeln.

Ich denke, das ist – wenn auch spät – nun geschehen. Der polnische Außenminister Radosław Sikorski hat bei der UNO-Generalversammlung sehr klar Stellung bezogen und, wie ich es auch empfohlen hätte, eine deutliche Warnung ausgesprochen. Er machte unmissverständlich klar, dass bei einer weiteren Verletzung des Luftraums – etwa durch ein Flugzeug oder eine Drohne – abgeschossen werde. Es gebe eine Vorwarnung, und danach könne sich Russland nicht bei der UNO beschweren.

Das ist die richtige Sprache – und genau diese versteht Russland.

Wäre in diesem Zusammenhang eine Flugverbotszone über der Ukraine denkbar – als mögliche Antwort auf russische Angriffe?

Meiner persönlichen Meinung nach – ja.

Das würde ein wenig dauern, aber grundsätzlich wäre das technisch möglich.

Europa verfügt über starke Luftstreitkräfte und die nötigen technologischen Fähigkeiten, um den Luftraum über der Ukraine – insbesondere über der Westukraine – zu überwachen und zu schützen.

Gerade jetzt, da Europa intensiv in die ukrainische Rüstungsindustrie investiert, liegt es im unmittelbaren europäischen Interesse, diese Industrie in der Westukraine vor russischen Angriffen zu schützen.

Das erfordert eine integrierte Luftverteidigung zwischen der Ukraine und Europa. Das wäre aus meiner Sicht ein logischer nächster Schritt.

Wollten Sie sagen, die Ukraine zusammen mit der NATO? Sprechen wir über eine NATO-Mission?

Ich glaube, es ist klug, sich nicht auf eine einzige Organisation zu fixieren, sondern auf eine Koalition der Willigen. Also jene Staaten, die dazu in der Lage sind – und davon gibt es mehrere – sollten das System aufbauen.

Dafür braucht man nicht zwingend die NATO oder die Europäische Union als Institution; es genügen einzelne Staaten, die gemeinsam handeln.

Ob dabei Mittel der NATO genutzt werden, ist eine andere Frage. Wenn man aber gleich die NATO ins Spiel bringt, also Europa plus USA und Kanada, dann wird die Sache politisch deutlich komplizierter – vor allem wegen der unberechenbaren Haltung mancher politischer Akteure.

Wie hoch schätzen Sie das Risiko ein, dass Russland eines Tages ein EU- oder NATO-Land direkt angreifen könnte – also mit kinetischen militärischen Mitteln?

Dieses Risiko besteht dann, wenn Russland als Gewinner aus dem Krieg gegen die Ukraine hervorgeht.

Wenn ein Kriegsende zu einem Ergebnis führt, das für Russland vorteilhaft ist – begleitet von aufgehobenen Sanktionen und wieder fließenden Einnahmen – dann kann Russland seine Streitkräfte neu aufbauen.

In einem solchen Szenario würde Osteuropa über die Ukraine hinaus bedroht sein: beispielsweise das Baltikum und möglicherweise Polen (denken Sie an den Suwałki-Korridor).

Deshalb ist der Verlauf dieses Krieges so entscheidend: Geht Russland „ungeschoren“ hervor, entsteht eine direkte Gefahr für die Sicherheit Europas.

Sie sprechen häufig vom „Kalten Krieg 2.0“. Warum benutzen Sie diesen Begriff – und wie passt das zum faktischen heißen Krieg in Europa?

Wenn ich von einem „Kalten Krieg 2.0“ spreche, meine ich primär die Rivalität zwischen China und den USA – weniger Russland.

Russland befindet sich aktuell in einem offenen, kinetischen Krieg mit einem europäischen Staat. Die Ukraine ist ein europäischer Staat westlich-demokratischer Prägung.

Der neue „kalte Krieg“ bezieht sich auf die strategische Konfrontation zwischen China und den USA: Handelssanktionen, Zölle und massive Aufrüstungen, insbesondere im maritimen Bereich.

Das führt dazu, dass sich im Pazifik zwei gut gerüstete Blöcke gegenüberstehen – in Analogie zum europäischen Kalten Krieg zwischen NATO und Warschauer Pakt, nur dass die Akteure heute China und die USA sind.

Welche Interessen verfolgt China im russisch-ukrainischen Krieg? Ist China daran interessiert, dass Russland diesen Krieg beendet? Hat China wirklich großen Einfluss auf Russland, etwa um den Krieg zu beenden?

Russland fungiert in gewisser Weise als strategischer Partner Chinas auf dem eurasischen Festland. China profitiert davon, dass Russland eine Reichweite bis an die Grenzen Europas besitzt.

Praktisch ist Russland in diesem Krieg stark von China abhängig: finanziell, in Teilen der Versorgung mit Komponenten für die Rüstungsindustrie und indirekt auch durch Unterstützung aus Staaten wie Nordkorea (z. B. Manpower). Ohne diese Unterstützung wäre es für Russland deutlich schwieriger, den Krieg in der aktuellen Intensität weiterzuführen.

Anderseits hat China, wie der chinesische Außenminister kürzlich sehr deutlich gemacht hat, kein Interesse daran, dass Russland diesen Krieg verliert. Ein russischer Niedergang würde Chinas geopolitischer Lage nicht unbedingt nützen.

Gleichzeitig ist China nicht daran interessiert, selbst militärisch in den Konflikt gezogen zu werden.

Daher dürfte Chinas Strategie eher darin bestehen, Russland zu unterstützen – soweit es die eigenen strategischen Ziele fördert –, aber gleichzeitig darauf zu drängen, keine Eskalationsdynamiken zu provozieren, die China selbst schaden könnten.

Das heißt: Sollte Russland zu verlieren drohen, könnte China signalisieren: „Stopp, es wird nur noch schlimmer.“ Europas Ziel sollte sein, gemeinsam mit der Ukraine und Partnern China klarzumachen, dass ein weiteres Vorrücken Russlands nur Verluste bringt – wirtschaftlich, politisch und strategisch. Erkennt China das, könnte es Russland zum Einlenken bewegen.

Wie sollte Europa in Zukunft seine Sicherheit organisieren? Braucht es eine stärkere „europäische Verteidigung“ – als Ergänzung zur NATO oder als eigenständiges Modell?

Langfristig sehe ich trotz der derzeitigen amerikanischen Administration die gemeinsamen Interessen zwischen Europa und den USA als ungebrochen. Wir haben ein genuines Interesse, gemeinsam für Frieden und Sicherheit zu sorgen.

Wenn man diesem Gedanken folgt, sollte die Verteidigung Europas grundsätzlich in der Hand der NATO bleiben – allerdings mit einer deutlich gestärkten europäischen operativen Kapazität, damit Europa imstande ist, auch eigenständig militärische Operationen durchzuführen, falls nötig.

So, wie ich es zuvor beim Beispiel der Flugverbotszone über die Ukraine beschrieben habe: Die Europäer sollten in der Lage sein, das mit eigenen Mitteln zu tun.

Wenn die USA sagen: „Wir beteiligen uns im Rahmen der NATO nicht“, dann müssten die Europäer sagen können: „Gut, wir können das allein machen.“

Kurz gesagt: Ja zur NATO, aber mit wesentlich stärkeren europäischen Fähigkeiten.

Wie sehen Sie in dieser zukünftigen Sicherheitsarchitektur die Rolle der Ukraine?

Die Ukraine wird ein integraler Bestandteil der europäischen Sicherheitsarchitektur sein – als zukünftiges Mitglied der Europäischen Union, sobald sie alle Kriterien erfüllt.

Dazu gehört vermutlich auch eine Form von Friedensschluss mit Russland, so schwierig das auch sein mag.

Die Ukraine wird ein Schlüsselstaat der europäischen Verteidigungsarchitektur werden – ein militärisches Bollwerk gegen Russland.

Außerdem wird sie die europäischen Streitkräfte bereichern – etwa durch ihre Erfahrungen im Einsatz moderner Waffensysteme und Drohnen.

Und welche Rolle sollte Österreich dabei spielen – weiterhin als neutrales Land?

Ich sehe für ein neutrales Land innerhalb der Europäischen Union eigentlich keinen funktionellen Sinn mehr.

Die EU braucht Entschlossenheit, nicht Neutralität.

Österreich hat seine Neutralität seit 1955 der Realität schrittweise angepasst. Heute hat sie vor allem symbolischen Charakter – sie signalisiert eine grundsätzlich friedfertige Haltung, hat aber keine echte außen- oder sicherheitspolitische Funktion.

Der einzige Unterschied zu anderen EU-Staaten besteht darin, dass Österreich kein NATO-Mitglied ist und daher nicht Teil der integrierten militärischen Struktur.

Als EU-Mitglied ist Österreich jedoch voll in die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik eingebunden. Es hat – wie Irland – ein sogenanntes Opting-out-Recht: Wenn ein EU-Staat angegriffen wird, kann Österreich militärisch unterstützen, muss es aber nicht.

Ich halte auch das für problematisch, weil Außen- und Sicherheitspolitik von Berechenbarkeit lebt, nicht von einem Wegducken oder Wegschauen. Ein „Sich-zwischen-den-Welten-Bewegen“ hat keinen Sinn.

Neutral bleiben bedeutet, diesen Status aufrechtzuerhalten, hochgerüstet zu sein und bereit sowie in der Lage zu sein, sich im europäischen Rahmen solidarisch an Verteidigungsmissionen zu beteiligen. Das ist das Mindeste, was ein neutrales Land tun muss. Dass dies allein teurer ist als in einem Staatenverbund, ist klar, aber für die österreichische Bevölkerung schwer vermittelbar…

Herr Karner, Sie waren auch Chefredakteur der Österreichischen Militärischen Zeitschrift. Ich möchte noch eine Frage zur Rolle der Medien in einem Verteidigungskrieg wie in der Ukraine stellen. Wie kann man informieren, ohne Panik zu erzeugen oder die Moral zu untergraben? Sollte es im Krieg eine Form von Zensur geben?

In einem westlich-demokratischen Land darf Zensur nur für militärische Geheimnisse gelten. Alles andere rechtfertigt keine Zensur.

Im Krieg ist oft schwer zu unterscheiden, was geheim ist – das ist der Preis, den eine Demokratie zahlt, selbst wenn die Bevölkerung verunsichert wird. Die Politik muss in solchen Situationen klar kommunizieren.

Jeder Journalist hat das Recht auf freiwillige Selbstbeschränkung. Differenzierte Berichterstattung muss aber möglich bleiben – ohne staatliche Zensur. Operative Informationen, etwa zu Schwächen in Luftverteidigung oder Rekrutierung, dürfen nicht an den Gegner gelangen; hier entscheidet die politische Führung.

Mit meinem Einblick in die ukrainische Medienlandschaft sehe ich, dass dies größtenteils gut funktioniert. Probleme ergeben sich vor allem durch innenpolitische Komponenten. Meine Meinung bleibt: Berichterstattung sollte so offen und differenziert wie möglich sein. Staatliche Zensur wäre ein klarer Schritt weg von demokratischen Grundprinzipien und EU-Standards.

Und abschließend: Wie sollte die Ukraine strategisch kommunizieren, um langfristige Unterstützung ihrer Partner und Verbündeten zu sichern?

Die Ukraine macht das bisher sehr gut. Die ukrainische Führung unter Selenskyj

bemüht sich, das Land als Teil der westlichen Familie zu positionieren und die Integration in westliche Strukturen voranzutreiben. Die ukrainischen Botschafter leisten dabei hervorragende Arbeit, vor allem in Richtung EU-Beitrittsperspektive.

Es ist wichtig, die Ukraine als verlässlichen Partner darzustellen, der über strategisch relevante Ressourcen verfügt – Ressourcen, die weder in die Hände Russlands noch unter alleinige Kontrolle der USA fallen dürfen. Gleichzeitig sollte gezeigt werden, welche Kapazitäten die Ukraine in der modernen Kriegsführung besitzt.

Die Kommunikation muss deutlich machen, welche Vorteile eine ukrainische EU-Mitgliedschaft für die Europäische Union hätte. Die Ukraine als fester Bestandteil der europäischen Familie zu präsentieren, ist meiner Meinung nach die zentrale Aufgabe. Dies gelingt bislang gut, auch wenn es natürlich immer Verbesserungspotenzial gibt.

Vasyl Korotkyi, WIEN.