Klaus Wittmann, Brigadengeneral d.D., Historiker
Drohung für Russland durch „Tomahawks“ wurde schon vor Gespräch mit Selenskiy durch Anruf von Putin neutralisiert
Klaus Wittmann diente 42 Jahre in der Bundeswehr und schied im Rang eines Brigadegenerals aus dem aktiven Dienst aus. Während seiner langen militärischen Laufbahn war er Kommandeur eines Raketenartilleriebataillons und einer Panzerbrigade; er leistete militärpolitische Arbeit im Bundesministerium der Verteidigung, im Internationalen Militärstab im NATO-Hauptquartier sowie beim deutschen NATO-Botschaft in Brüssel. In den 2000er Jahren war er Direktor Lehre an der Führungsakademie der Bundeswehr und im Anschluss Direktor Academic Planning and Policy am NATO Defense College (NDC) in Rom. Zudem war er für Evaluierungen an der Baltischen Verteidigungsakademie (BALTDEFCOL) in Tartu verantwortlich.
Im Ruhestand widmet sich Wittmann der Wissenschaft: Er ist Historiker, promovierter Doktor, Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Potsdam und Autor zahlreicher Publikationen zur Sicherheitspolitik sowie zum russischen Krieg gegen die Ukraine.
Im Interview mit Ukrinform teilte Klaus Wittmann seine Einschätzung der Lage im Lichte der jüngsten Entwicklungen.
Vor einigen Tagen hatten viele Ukrainerinnen und Ukrainer auf Tomahawk-Raketen gehofft. Nach dem Telefonat mit Putin und dem Treffen mit Selenskyj letzte Woche hat Trump diese Hoffnung offenbar gedämpft. Gelingt es Wladimir Putin immer wieder, Donald Trump zu beeinflussen?
Ich habe ja schon lange gehofft, dass Trump endlich einmal durchschaut, dass Putin auf Zeit spielt und keinen möglichen Waffenstillstand oder Frieden will und mit ihm spielt und ihn hinters Licht führt und dass Trump dadurch seine Geduld verliert mit Putin. Das zeichnet sich ja auch seit einiger Zeit ab, aber leider ist die Folgerung für Trump offenbar nicht, dass er jetzt die Ukraine mit allem unterstützt, was sie militärisch braucht, sondern dass er sich zurückzieht und den neutralen Vermittler spielen will anstatt den Unterstützer der Ukraine. Und dass er den Krieg gegen die Ukraine eher als lästiges Hindernis betrachtet, weil er ja eigentlich mit Russland wieder normale Beziehungen haben will und vor allen Dingen wirtschaftlich profitable.
Und deshalb ist wieder einmal die Drohung, die eigentlich in der Erwähnung der Tomahawk enthalten war gegenüber Russland, schon vor dem Gespräch mit Selenskiy durch den Anruf von Putin neutralisiert worden. Das ist sehr bedauerlich, aber mit dem Tomahawk braucht die Ukraine jetzt wohl nicht zu rechnen in absehbarer Zeit.
Ist das Thema Taurus aus Ihrer Sicht endgültig vom Tisch? Oder wird es vielleicht doch noch einmal aktuell?
Nein, für mich ist es nicht vom Tisch. Die Ukraine braucht unbedingt Deep-Strike-Fähigkeiten und die hätte sie schon vor zwei Jahren gebraucht, als die Taurus-Debatte im Gange war, um Logistik abzuschneiden, also russischen Nachschub abzuschneiden, um Kommandozentralen zu treffen, um Militärflugplätze, Abschussrampen und auch Industrieproduktionsstätten zu treffen und das, was sie ja schon mit ihren eigenen Mitteln macht, die russische Ölproduktion zu treffen. Für all das braucht man weitreichende Waffen, Deep-Strike, um im Hinterland auf russischem Boden Ziele zu treffen, die alle militärisch und kriegsvölkerrechtlich legitime Ziele sind.
Und ich persönlich bin enttäuscht darüber, dass der Bundeskanzler (Friedrich Merz), der als Oppositionsführer noch sehr harte Kritik an seinem Vorgänger Olaf Scholz geübt hat, dass er keine Taurus liefert, dass er das jetzt auch nicht tut. Alleine die Entscheidung, dass man mit der Ausbildung ukrainischer Soldaten an der Taurus anfangen würde, wäre ja schon ein Signal.
Und wie sehr Russland diese Waffen fürchtet, das sieht man an der Reaktion auf die Erwähnung von Tomahawk.
Sehen Sie einen Zusammenhang: Wenn Deutschland Taurus liefert, könnten die USA im Gegenzug Tomahawks liefern?
Nein, das glaube ich nicht. Obwohl, wenn die USA das machen würden, dann wäre für Deutschland die Hemmung vielleicht geringer.
Aber auf jeden Fall muss man sich frei machen, sowohl in den USA, wo Joe Biden auch recht übervorsichtig war, und in Deutschland vor der Angst vor russischen Drohungen. Davor muss man sich frei machen.
Deutschland hilft der Ukraine beim Bau von Drohnen. Gibt es die Unterstützung bei der Entwicklung oder Lieferung von Langstreckenraketen?
Da gibt es eine Vereinbarung zwischen dem deutschen und dem ukrainischen Verteidigungsministerium, dass bei der Entwicklung von Langstreckenraketen in der Ukraine Deutschland hilft, auch finanziell.
Dieser Krieg wird derzeit vor allem mit Drohnen geführt. Panzer und schwere Technik sieht man auf dem Schlachtfeld kaum noch. Heißt das, dass klassische Waffensysteme in Zukunft ausgedient haben?
Nein. Die Fahrzeuge, die Gefechtsfahrzeuge sind zwar durch Drohnen, die überall sich befinden auf dem Gefechtsfeld, leichter aufklärbar und von oben her auch verwundbarer, weil sie oben nicht so gepanzert sind, wenn eine Drohne von oben kommt.
Andererseits haben die nicht völlig ausgedient, denn nur mit Gefechtsfahrzeugen kann man Gelände erobern, also nehmen und halten und auch Gelände wirklich verteidigen. Das alles kann man mit Drohnen nicht. Mit Drohnen kann man aufklären und zerstören.
Wie würden Sie die Innovationskraft und Findigkeit der Ukrainer im Krieg beschreiben? Kann Deutschland aus dieser Erfahrung auch etwas lernen?
Innovationskraft und Findigkeit der Ukrainer in diesem Krieg, die sind bemerkenswert, bewundernswert. Und dass es nicht nur das Militär im engeren Sinne ist, sondern ein großer Teil der Zivilbevölkerung, der Zivilgesellschaft, die dort helfen.
Auch mit Innovationen, IT und Technik und Erfindungen und Unterstützung. Das ist also wirklich ausgesprochen bewundernswert. Und natürlich können wir aus diesen Erfahrungen etwas lernen - taktisch, technisch, Waffenentwicklung, Drohneneinsatz und so weiter. Und die enge Zusammenarbeit mit der Ukraine ist insofern nicht nur im Interesse der Ukraine, sondern auch im Interesse von uns und im Interesse der NATO-Staaten, die mit der Ukraine einen ganz großen Mehrwert gewinnen würden, wenn die Ukraine eines Tages einmal NATO-Mitglied wird.
Russland testet die NATO immer wieder. Warum schießen europäische Staaten die Drohnen nicht ab? Liegt es an technischen Möglichkeiten, an organisatorischen Hürden oder an politischer Zurückhaltung? Was müsste passieren, damit die Allianz klar reagiert?
Einerseits haben wir lange nicht genügend Möglichkeiten für eine flächendeckende Luftabwehr, so wie Israel es beispielsweise kann. Aber das ist ein viel, viel kleineres Land als Deutschland oder die ganze Europäische Union.
Auf deutscher Seite gibt es den föderalen Staat und die Auseinandersetzung oder die Diskussion darüber wäre zuständig. Die Landespolizei, die Bundespolizei, die Bundeswehr kann in Amtshilfe natürlich den Ländern und den Polizeikräften helfen aber das muss alles ausgehandelt werden und da sind wir noch nicht so weit.
Und bis jetzt sind die Drohnen, die im Zuge dieser sogenannten hybriden Kriegführung Russlands, die im Gange ist, in Deutschland, Dänemark und anderswo gesichtet wurden, offenbar nicht bewaffnet gewesen. Das weiß man nicht genau, aber die scheinen eher für Unruhe sorgen zu wollen oder aufzuklären in Deutschland über Ausbildungsplätze, Kasernen und so weiter.
Aber ich meine auch, dass im Grunde man härter reagieren müsste und so wie es in Polen ja auch versucht worden ist, die Drohnen, die ins Land eindringen, dann auch abschießen.
Wie viel Zeit brauchen Deutschland und die Staaten an der östlichen NATO-Flanke, um wenigstens eine effektive Drohnenabwehr aufzubauen?
Es dauert eine Zeit lang, bis man sich die Fähigkeiten beschafft und zwar flächendeckend, aber punktuell kann es schnell gehen.
Und Deutschland beispielsweise hatte von dem neuen System Skyranger, das ist eine Flugabwehrkanonenwaffe, für nächstes Jahr 19 Stück bestellt. Und da spricht man jetzt von Hunderten, die man bestellen will. Also man baut die Fähigkeiten so schnell auf, wie man kann.
Die Europäische Union spricht von einem Drohnenwall, der aufgebaut werden muss, aber da gibt es natürlich Grenzen bei den industriellen Kapazitäten.
Experten warnen vor einem möglichen Angriff Russlands auf ein NATO-Land. Glauben Sie, dass Putin das Risiko eingehen könnte, ein NATO-Land direkt anzugreifen? Welchen Zeitraum halten Sie für besonders kritisch?
Man weiß es nicht, ob Putin das Risiko eingehen würde.
Welcher Zeitraum - es wird davon gesprochen, dass er mit seinen sichtbaren militärischen und personellen Vorbereitungen 2029 so weit wäre, dass er die NATO ernsthaft testen könnte. Solange der Krieg in der Ukraine dauert, glaube ich nicht, dass er dort weitergehen würde. Andererseits wäre er dumm, wenn er es vorhat auf 2029 zu warten, das Jahr auf das alle fixiert sind.
Es gibt ein Buch von Christoph von Marschall, der von einem Szenario ausgeht, Angriff auf Litauen, während des amerikanischen Präsidentenwahlkampfs 2028. Und gleichzeitig hat Putin sich in diesem Szenario mit China vereinbart, dass China gleichzeitig Taiwan angreift. Solche Dinge, man muss immer in der militärischen Planung immer den worst case, den schlimmsten Fall auch im Auge haben.
Andererseits glaube ich, selbst wenn Putin so etwas vorhat, dass das nicht ein Angriff auf große Breite wäre, sondern eher lokale Vorstöße, die dann auch möglicherweise so wären, dass im NATO-Hauptquartier, im NATO-Rat Unsicherheit gesät wird. Ist das schon ein militärischer Angriff oder noch nicht? Und die Abschreckung, die muss eben durchweg funktionieren und darf nicht ausrechenbar sein für die andere Seite. Und sie darf auch nicht, wie ein Experte kürzlich sagte, additiv sein, sodass man sagt, das reicht noch nicht, um von einem Angriff zu sprechen, das muss noch passieren, das muss noch passieren.
Nein, Putin muss überzeugt sein und überzeugt werden, dass jeder Vorstoß, Übergriff, Angriff auf irgendeinen Teil der NATO zu für ihn unkalkulierbaren und untragbaren Konsequenzen führen würde. Aber viel mehr kann man darüber nicht spekulieren, außer dass wir die Verteidigungspläne der NATO und die Herstellung der Fähigkeiten mit aller Kraft und so schnell wie möglich vorantreiben müssen.
Ist es nicht auffällig, dass manche internationale Akteure offenbar kein wirkliches Interesse an einer schnellen Niederlage Russlands haben? China profitiert von billigen Ressourcen, die USA verkaufen Waffen, Europa gewinnt Zeit für die eigene Aufrüstung... Ist das nicht – so zynisch es klingt – ein Kalkül?
Dazu will ich mal nicht viel sagen und nicht weiter spekulieren, aber es gibt sicher Leute, die so etwas denken.
Für Deutschland kann ich das ausschließen. Wir wollen der Ukraine helfen, solange es geht. Und sie wissen ja, wie kritisch ich in den vergangenen zwei, drei Jahren dazu immer gestanden habe. Ich sage, man muss auch immer hinzufügen mit allem, was die Ukraine braucht und die Handbremse lösen.
Aber wir wollen und die Leute, die voll für die Unterstützung der Ukraine sind, wollen auch, dass die Ukraine siegt. Nicht in dem Sinne, dass nun Russland besetzt und zerstört wird, aber dass Russland gezwungen wird, abzuziehen.
Das ist eine schwere Aufgabe, aber Russland muss zu möglichst großen Zugeständnissen gezwungen werden. Und der Nimbus von der Unbesiegbarkeit Russlands, der ist im Grunde schon zerstört worden bei der ukrainischen Kursk-Offensive und der lange dauernden, völlig hilflosen Reaktion Russlands auf diese immerhin erstmalige militärische Besetzung russischen Boden seit dem Zweiten Weltkrieg.
Gibt es aus Ihrer Sicht Hinweise darauf, dass Russland für den Winter eine neue militärische Offensive vorbereitet?
Ja, das halte ich für möglich. Aber ich glaube, dass es trotzdem damit keine sehr viel größeren Erfolge haben wird als bisher.
Und dass die Ukraine das jetzt nicht aufgeben will, das hat ja auch damit zu tun, dass dieser Festungsring von verschiedenen Städten und Befestigungen damit kampflos aufgegeben wird. Und der ist wirklich für die Verteidigung sehr stark.
Einige Leute sagen, das kann eine letzte, sozusagen russische große Offensive sein. Sehen Sie das auch so oder nicht?
Kann ich nicht beurteilen. Das ist Spekulation.
Die Schwächen der russischen Streitkräfte, die sind ja in den letzten drei Jahren sehr deutlich geworden. Die unglaublichen Verluste, das Prinzip Masse statt Klasse. Und ob das nun der letzte große Versuch wird oder ob Putin weiter mit Abnutzung und Terrorkrieg gegen die Zivilbevölkerung anstelle von erfolgreichem Vorrücken auf dem Schlachtfeld arbeiten wird, das kann man schlecht voraussehen, aber man muss damit rechnen.
Wie sollten Sicherheitsgarantien für die Ukraine aussehen, und welche Rolle könnte Deutschland dabei spielen?
Wirkliche Garantien gibt es nicht.
Es muss natürlich alles getan werden nach einem Waffenstillstand oder Frieden, sogar Friedensvertrag, das gesichert ist, so gut wie möglich, dass die Ukraine nicht wieder angegriffen wird. Dazu muss die Ukraine selber gestärkt werden. Dazu müsste es mit UN-Mandat auch Überwachungskräfte geben, die einen stärkeren Biss haben, ein robusteres Mandat als die OSZE-Beobachter nach dem Minsk-II-Abkommen.
Aber die endgültige Sicherheitsgarantie in Anführungszeichen für die Ukraine sehe ich auf lange Sicht nur in der NATO-Mitgliedschaft.
Viele vergleichen diesen Krieg mit dem Ersten Weltkrieg. Sehen Sie als Historiker Parallelen – oder ist das ein unpassender Vergleich?
Vergleich mit dem Ersten Weltkrieg, da gibt es Parallelen, beispielsweise in der Beobachtung des Stellungskrieges und den nur ganz geringen Vorrücken des Angreifers und der Stärke der Befestigungen usw.
Anders als im Zweiten Weltkrieg ist Russland demografisch der Ukraine so weit überlegen, dass die Ukraine sich einen sehr langen Abnutzungskrieg nicht wird leisten können. Und deshalb braucht sie alle Unterstützung, um hier stärker zu werden und den russischen Angriff möglichst weit zu stoppen und wieder zurückzuschlagen.
Olga Tanasiichuk, Berlin