Gustav Gressel, österreichischer Militärexperte
Wenn die Ukraine untergeht, dann sind wir die Nächsten
Gustav Gressel ist ein anerkannter österreichischer Politikwissenschaftler und Militärexperte für Sicherheitsfragen in Osteuropa. Nach seinem Dienst in den österreichischen Streitkräften und seiner Tätigkeit im Verteidigungsministerium (2003–2014), wo er für Verteidigungsplanung und strategische Analysen zuständig war, arbeitete Gressel mehr als zehn Jahre als Senior Policy Fellow im Berliner Büro des European Council on Foreign Relations (ECFR). Dort konzentrierte er sich vor allem auf den russisch-ukrainischen Krieg.
Heute ist er nach Wien zurückgekehrt und lehrt als Hauptlehroffizier und Forscher an der Landesverteidigungsakademie – dem zentralen intellektuellen Zentrum des österreichischen Bundesheeres, das unter anderem Sicherheitsstrategien des neutralen Österreichs unter den Bedingungen neuer Bedrohungen entwickelt.
Im Gespräch mit dem Korrespondenten der Presse Agentur Ukrinform in Österreich analysierte Gressel Russlands „Drohnenstrategie“ gegen Europa, die Perspektiven einer Flugverbotszone über der Ukraine, die Gefahr eines möglichen Angriffs Russlands auf NATO-Staaten sowie die Herausforderungen für die europäische Sicherheit im Falle eines möglichen Rückzugs der USA.
Außerdem bewertete der Experte die Wahrscheinlichkeit einer Lieferung von Tomahawk-Raketen an die Ukraine, kommentierte die Lage an der Front und teilte seine Einschätzungen über die weitere Entwicklung des Krieges und Wege, den Kreml zum Ende seiner Aggression zu zwingen.
Herr Gressel, ich möchte mit dem Thema der sogenannten „unbekannten Drohnen“ in Europa beginnen, die in der Nähe von Flughäfen, Militärbasen, Rüstungsfabriken und kritischer Infrastruktur gesichtet wurden. Diese Vorfälle und die Vermutung, dass Russland dahintersteckt – was offenbar der Fall sein könnte –, erinnern mich an die „grünen Männchen“ auf der Krim 2014, als Russland seine Beteiligung offiziell abstritt, um harte Reaktionen zu vermeiden. Was denken Sie über diese „unbekannten Drohnen“ in Europa?
Zuerst würde ich sagen, man muss grundsätzlich zwei Dinge unterscheiden: Drohnenabwehr in der inneren Sicherheit und militärische Drohnenabwehr, vor allem gegen Langstreckendrohnen. Zum ersten: Kleindrohnen sind ein gutes Mittel zur Spionage – um Dinge auszukundschaften. Wenn ich in Materialhöfe hineinschauen kann, wenn ich wissen will, wie viel Gerät wo herumsteht, kann ich Drohnen dafür ganz gut verwenden.
Das heißt: Kleindrohnen werden voraussichtlich weiter zur Aufklärung eingesetzt werden – unabhängig davon, ob Russland oder andere Akteure sie verwenden; die Technologie macht das möglich.
Zum Zweiten, also den russischen Drohnen in Polen: Putin versucht derzeit – oder es sieht sehr danach aus –, die Europäer zu verunsichern, vor dem Hintergrund, dass er den Krieg gegen die Ukraine nur gewinnen kann, wenn die internationale Unterstützung für die Ukraine wegbricht.
Damit diese internationale Unterstützung wegbricht – und das betrifft in erster Linie die Europäer, denn die lassen sich ja nunmehr zahlen –, müssen die Europäer entweder politisch zusammenbrechen, etwa durch den Wahlsieg populistischer Parteien, oder sie müssen das Gefühl haben, sie könnten es sich nicht leisten, sowohl die Ukraine zu unterstützen als auch für die eigene Sicherheit zu sorgen.
Russland versucht seit Langem, in Europa das Gefühl zu erzeugen, dass wir uns selbst schützen müssen und nicht mehr die Kapazitäten haben, die Ukraine zu unterstützen.
Aber warum Drohnen und gerade jetzt?
Das frage ich mich auch. Zum Beispiel haben die Anschlagspläne mit Brandbomben in Frachtflugzeugen 2024 zu keiner größeren Diskussion geführt. Denn eigentlich – wenn ich mir das vorstelle: fällt eine Frachtmaschine vom Himmel, dann wäre das ein viel größerer Schaden als das, was Drohnen anrichten. Aber offenbar hat das nicht so stark gewirkt.
Und jetzt haben wir bei den Drohnen etwas, das in die Nachrichten kommt und diese Verunsicherung streut. Deswegen ist das wohl gerade so „erfolgreich“ – weil es Nachrichtenwert hat. Ob das den politischen Effekt erzielt, den man erreichen will – also dass wir in Panik verfallen oder unsere Sicherungsmaßnahmen überpriorisieren – das steht auf einem anderen Blatt.
Ich glaube allerdings, dass die Europäer – zumindest die Mehrheit – klug genug sind, nicht in solche Panik zu verfallen. Vielmehr erkennen sie dadurch, wie wichtig die Ukraine als Sicherheitsgeber in Europa ist. Denn viele der aktuell wichtigsten Technologien, etwa Abfangdrohnen, kommen heute aus der Ukraine und nicht von europäischen Unternehmen.
Daher kann genau das Gegenteil passieren: Die Europäer schätzen die Unterstützung für die Ukraine womöglich mehr, weil sie das als ein wechselseitiges Verhältnis sehen.
Wie sollten die europäischen Länder – die meisten von ihnen NATO-Mitglieder – auf diese russische „Drohnen-Strategie“ sowie auf die demonstrativen Verletzungen des Luftraums durch Flugzeuge reagieren?
Ein einheitliches Rezept gibt es nicht, weil wir uns auf verschiedene Bedrohungsdimensionen vorbereiten müssen.
Erstens: Drohnenkrieg als Teil der Verteidigung – also die Abwehr großangelegter Angriffe mit Geran, Shahed oder ähnlichen Drohnen. Das ist primär eine militärische Aufgabe.
Zweitens: die Drohnenlage im Bereich der inneren Sicherheit – also Luftfahrtsicherheit, Abwehr von Spionage etc. Das ist eine andere Dimension, weil sie rechtlich anders eingeordnet ist. Wir können nicht für alles allein auf die Streitkräfte setzen. Kompetenzen müssen auch auf andere Ebenen verteilt werden. Nicht nur Polizei, sondern zum Teil auch Betreiber kritischer Infrastruktur oder Unternehmen selbst müssen in die Lage versetzt werden, kurzfristig zu reagieren.
Wenn ich etwa ein Rüstungsunternehmen außerhalb eines schützenswerten Geländes bin und plötzlich Drohnen auftauchen, habe ich nur begrenzte Zeit zum Reagieren. Ich kann nicht darauf warten, dass die Polizei erst anrückt. Es muss klare rechtliche Möglichkeiten geben, dass Betreiber kritischer Infrastruktur sich bestimmte Kapazitäten beschaffen dürfen – etwa Abfangdrohnen – und sich damit schützen können.
Was die präventive Verteidigung betrifft: Könnte die Schaffung einer Flugverbotszone über der Ukraine, zumindest über einem Teil davon, eine mögliche Antwort sein? Dies würde es ermöglichen, Ziele, die in Richtung EU- und NATO-Länder fliegen, frühzeitig abzufangen und ein klares Signal an Moskau zu senden, das nur die Sprache der Stärke versteht. Halten Sie eine solche Maßnahme für realistisch?
Gegenwärtig halte ich das für theoretisch möglich, aber ich bin mir nicht sicher, ob man es durchführen sollte – aus einem einfachen Grund: Wir müssen bei Fliegerabwehr und Flugbewaffnung von begrenzten Ressourcen ausgehen.
Es gibt beschränkte Fertigungskapazitäten für Fliegerabwehrraketen und Luft-Luft-Raketen; ein Großteil der Munition wird in den USA produziert. Wir müssen diese Systeme auch für die Ukraine beschaffen – und zugleich für unsere eigenen Streitkräfte. Das ist also in erster Linie eine Quantitätsfrage.
Derzeit wird die Produktion von Munition für Systeme wie Patriot, IRIS-T und AMRAAM zwar ausgebaut, aber der Aufbau der Produktion dauert sehr lange. Es gibt Lücken im Munitionsnachschub, mit denen die Ukraine aktuell zu kämpfen hat; diese werden teilweise durch Bestände europäischer Armeen, zum Beispiel der Bundeswehr, geschlossen.
Würde die NATO eine Flugverbotszone einrichten, müsste sie deren Durchsetzung garantieren – also alle Flugobjekte in einem Gebiet abschießen können. Das würde die Glaubwürdigkeit der NATO an die Fähigkeit binden, diese Zone dauerhaft durchzusetzen. Praktisch würde das bedeuten, dass Prioritäten bei Munitionslieferungen von der Ukraine auf diese NATO-Mission verlagert würden. Eine Flugverbotszone in der Westukraine würde automatisch weniger Munition für Kyjiw und östlichere Regionen bedeuten. Das könnte die Flexibilität der ukrainischen Flugabwehr einschränken, weil Batterien nicht mehr dort eingesetzt werden könnten, wo sie am dringendsten gebraucht werden.
Selbst wenn NATO-Staaten Flugabwehrbatterien in die Ukraine schickten, wären diese genauso von der begrenzten Munitionsversorgung abhängig wie die bereits in der Ukraine vorhandenen Patriot- oder IRIS-T-Batterien. Der Engpass bleibt die Munition.
Das heißt nicht, dass sich die Lage nicht ändern kann: Sobald die Munitionsproduktion in Europa durch neue Werke ausgeweitet ist, könnten solche Maßnahmen realistischer werden. Eine Flugverbotszone könnte dann Teil europäischer Sicherheitsgarantien für die Ukraine sein – um Moskau ein klares Signal zu senden. Allerdings müssten dafür die industriellen Voraussetzungen (insbesondere die Produktion von Fliegerabwehrmunition und Luft-Luft-Munition) ganz anders aussehen als heute.
Es stellt sich zudem die Frage, ob der politische Wille besteht, die Ukraine auf diese Weise zu unterstützen?
Kurz: Nein.
Unter der Hand gibt es viele Diskussionen – das hat sich seit der „Coalition of the Willing“ entwickelt – aber das bleibt meist in Planungsstäben. Eine echte, breite politische Debatte über die verschiedenen Optionen hat bislang nicht stattgefunden.
So wie ich die Diskussion um die „Coalition of the Willing“ verstanden habe, war sie ursprünglich als Mechanismus gedacht, um die Durchsetzung eines Waffenstillstands zu gewährleisten oder bereits vor dessen Inkrafttreten Wirkung zu entfalten, damit keine Sicherheitslücke entsteht.
Das Problem ist: Es gibt derzeit keine realistische Perspektive auf einen solchen Waffenstillstand. Deshalb führen viele europäische Politiker diese Diskussion offenbar noch nicht – sie sehen noch keinen konkreten Anlass dafür.
Die „Coalition of the Willing“ wirkt im Moment eher wie eine „Coalition of the Unwilling“.
Die ganze Debatte um die „Coalition of the Willing“ wurde durch Trumps Forderung nach einem Waffenstillstand ausgelöst. Die Europäer haben gesagt: „Wir haben mit den Minsk-Vereinbarungen genug Erfahrungen gemacht – ein Waffenstillstand muss abgesichert werden.“ Wenn die Amerikaner das nicht tun wollen, könnten die Europäer diese Aufgabe übernehmen.
Aktuell wollen die Amerikaner jedoch keinen Waffenstillstand absichern und üben auch keinen entsprechenden Druck auf Russland aus. Und die Hoffnung, dass Putin eines Morgens aufwacht und erkennt, dass der Krieg keinen Sinn mehr macht und ihn aus Liebe zum Frieden und zur Menschheit beendet, ist gering. Das wird kaum passieren.
Wenn Putin einen Waffenstillstand eingeht, dann nur, weil er dazu gezwungen wird. Doch weder die Amerikaner noch die Europäer haben eine klare Strategie, wie ein solcher Zwang herbeigeführt werden könnte.
Die Europäer erkennen jetzt, dass der Krieg länger dauert und teurer ist, als erwartet. Deshalb wird jetzt ernster über die Konfiszierung des russischen Staatsvermögens diskutiert – Reparationskredit und der Merz-Plan –, weil die Europäer plötzlich sehen: „Oh, das dauert viel länger und kostet viel mehr Geld, als wir jemals gedacht haben.“
Zurück zu den „grünen Männchen“: Nach der Annexion der Krim und dem Beginn der Aggression im Donbas unter dem Deckmantel von „Separatisten“ begann Russland eine großangelegte Intervention in der Ukraine. Kürzlich erklärte der EU-Kommissar für Verteidigung, Andrius Kubilius, unter Berufung auf deutsche Geheimdienstinformationen, dass der Kreml sogar einen Angriff auf ein NATO-Land diskutiert habe und dass solche Signale sehr ernst zu nehmen sind. Glauben Sie, dass Russland tatsächlich ein NATO-Land angreifen könnte?
Ja, natürlich. Die Frage ist jedoch, unter welchen Bedingungen. Putin würde die NATO nicht angreifen, wenn sie abschreckungsfähig, verteidigungswillig und militärisch bereit ist. Er ist nicht suizidal.
Entscheidend ist also, ob Putin die NATO für verteidigungsfähig und militärisch stark hält. Meine Antwort darauf ist: Nein.
Putin beobachtet vor allem die Amerikaner und sieht, dass sie die Europäer nicht mehr uneingeschränkt unterstützen. Er bemerkt, dass die Amerikaner sich zunehmend aus Europa zurückziehen wollen. Die Perspektive, dass Trump 2028 durch eine Neuwahl oder eine dritte Amtszeit die USA in eine innenpolitische Krise stürzen könnte, weckt bei ihm Hoffnungen.
Außerdem sehen die Russen offenbar nicht, dass die Europäer geschlossen und mutig genug sind, sich ohne die USA gegenseitig zu verteidigen. Das wurde auch in der „Coalition of the Willing“-Debatte sichtbar: Die Russen konnten ablesen, wie zögerlich und ängstlich einige europäische Signale sind. Wenn die Amerikaner nicht da sind, erscheint es unwahrscheinlich, dass die Europäer sich automatisch gegenseitig verteidigen.
Abgesehen davon sehen sie natürlich, dass wir erhebliche Probleme mit der Einsatzbereitschaft unserer Streitkräfte und der Munitionsverfügbarkeit haben. Wir haben bereits Schwierigkeiten, die Ukraine ausreichend zu unterstützen. Wie sollen wir dann die Amerikaner ersetzen und Europa verteidigen? Das geht sich zurzeit schwer aus.
Das heißt, Europa ist nicht bereit, zu einem solchen Szenario. Europa ohne USA?
Europa ohne USA ist politisch nicht bereit. Ich würde sagen, militärisch wären wir bereit, wenn wir gewisse Vorbereitungen getroffen hätten, die wir nicht gemacht haben.
Auf einer zweiten Ebene müssen wir die russischen Ziele durchdeklinieren. Diese Ziele sind eine neue europäische Sicherheitsordnung, die Auflösung von NATO und EU sowie der Abschluss großer bilateraler Sicherheits- und Freundschaftsverträge mit Russland, um Russland zur bestimmenden Macht in Europa zu machen.
Dazu muss Russland Europa so verunsichern, dass nicht nur irgendwo in der Peripherie, sondern auch wirklich in Paris, in Rom, in Berlin, die Schalter umgelegt werden und sagen, okay, nein, wir können uns sowas wie die NATO nicht mehr leisten, wir hören auf damit.
Und da ist eben das große Problem. Derzeit versucht Russland dies durch wirtschaftlichen Druck, etwa durch die Gaskrise, hybride Bedrohungen, Anschläge, Verunsicherung, Propaganda und politische Subversion. Wenn das nicht ausreicht und die Europäer sagen: „Gut, jetzt kommen halt Drohnen, dann sichern wir die Grenzen stärker“, könnte Russland den nächsten Schritt gehen.
In der Ukraine begann es nicht sofort mit einem großangelegten Einmarsch, sondern mit Wahlbetrug, Propaganda, Einschüchterung und politischen Proxy-Parteien. Erst nach acht Jahren hybrider Aggression folgte die offene Invasion. Die Frage ist, wie schnell würde Russland diesen Weg gegen Europa gehen? Wir sehen jetzt die hybride Phase gegenüber Europa: Aufbau militärischer Infrastruktur, Propaganda, Verunsicherung, dieselben Schritte, die gegen die Ukraine unternommen wurden.
Jetzt ist die große Frage: Kann Europa es schaffen, Moskau und Putin glaubhaft zu machen, dass es sich verteidigen würde – auch wenn die Amerikaner nicht da sind? Und können sie in Moskau dieses Bild erzeugen, dass der Kreml Angst hat, also glaubt, dass die Europäer im Notfall auch so reagieren, dass er eine Eskalation nicht mehr kontrollieren kann?
Denn wenn Moskau beispielsweise das Baltikum überfallen würde, würde Putin dies nur tun, wenn er glaubt, den Konflikt auf das Baltikum begrenzen zu können.
Und wenn zum Beispiel die USA eine interne Krise haben oder Trump sagt, ihn interessiert das alles nicht – das ist schon mal ein Faktor. Dann würde Putin mit nuklearen Drohungen gegen den Rest Europas vorgehen und einmal vortesten, ob er diesen Krieg begrenzen könnte. Wenn das gelingt, könnte er die baltischen Staaten „bestrafen“, in der Hoffnung, dass dies einen politischen Umschwung im restlichen Europa auslöst, sodass die großen europäischen Staaten die NATO auflösen und ein Appeasement gegenüber Moskau suchen.
Das ist vor allem eine Frage der Wahrnehmung. Also: Lässt sich die Sicherheit einzelner NATO-Staaten von der Sicherheit anderer entkoppeln?
Das war immer undenkbar – das sollte in der NATO undenkbar sein. Aber wenn man sich anschaut, wie der Eiertanz um die „Coalition of the Willing“ war – die Diskussion, ob es eine amerikanische Rückversicherung gibt, falls z. B. Russland auf Truppen schießt, die in die Ukraine verlegt werden – ist das dann ein Artikel-5-Bündnisfall? Oder wenn wir Kampfflugzeuge über der Westukraine einsetzen, die aber vom rumänischen Flughafen starten, und Russland schießt 20 Kinschals auf diesen Flughafen – ist das dann Artikel 5?
Diese ganze Diskussion hat auch gezeigt, dass zum Beispiel Staaten wie Deutschland – und auch andere – die französische nukleare Abschreckung nicht wirklich als Rückversicherung ansehen.
Und das ist natürlich wieder ein Signal für Moskau: „Ah, okay, ohne die Amerikaner würden sie sich nicht wirklich auf das Bündnis verlassen.“ Und dann würden die Russen natürlich probieren, mit nuklearen Drohungen, mit Säbelrasseln, mit vielleicht einem Oreshnik-Test – also konventionell – zu sagen: „Ja, aber die nächste Rakete, die fliegt, ist eine Rubezh“, um zu sehen, ob sie einen Staat isolieren können.
Und wenn Putin das Gefühl hat, dass er diesen Staat isolieren kann, dann wird Russland ihn überfallen.
Und um dem entgegenzuwirken, müssten wir eigentlich unsere gesamte europäische politische Kultur der Besonnenheit über Bord werfen – weil sie Putin in diesem Glauben bestärkt.
Und das sehe ich zurzeit schwierig, weil wir die Parteien der Besonnenheit und der Subversion überall auf dem Vormarsch haben: also AfD, Linkspartei, FPÖ, Le Pen, Farage.
Wie stark hängt dieses Szenario – ein Überfall auf NATO-Staaten – vom Verlauf des Krieges Russlands gegen die Ukraine ab?
Ganz elementar. Denn neben der Ukraine kann Russland kein zweites Land überfallen. Sie konnten nicht einmal Armenien helfen – gut, da wollten sie auch nicht –, aber Assad wollten sie eigentlich helfen, doch sie konnten nicht mehr. Es gab die Kräfte nicht mehr.
Die große Frage ist also: Wie schnell endet der Krieg, und unter welchen Bedingungen endet er?
Endet der Krieg für Russland mit einem Erfolg oder mit etwas, das man als Erfolg verkaufen kann, dann ist natürlich das Incentive größer, es weiter zu versuchen – weil man sich als Sieger fühlt und innenpolitisch auch so verkauft wird.
Wenn der Krieg aber mit einer Niederlage endet oder mit einem Ergebnis, das eher nach Niederlage klingt, dann kann es sein, dass man sich solche eskalativen Manöver spart, weil man das nicht wiederholen will.
Das Problem ist: Ich sehe bei den Europäern derzeit nicht wirklich das Bewusstsein oder die Entschlossenheit zu sagen: „Gerade weil wir jetzt angreifbar sind – durch den möglichen Rückzug Trumps – muss die Ukraine gewinnen.“
Mit Biden konnten wir immer noch „as long as it takes“ sagen, weil Biden unsere eigene Rückversicherung war. Wenn die Ukraine aber untergeht, ist es halt schade, aber nicht existenziell.
Das Problem ist jetzt: Wenn die Ukraine untergeht, dann sind wir die Nächsten in der Schusslinie.
Wir haben keine mobilisierte Armee, wir haben nicht so viele Soldaten am Feld. Wenn man sich anschaut: Wir haben zwar 1,5 Millionen Soldaten in Europa, aber die meisten davon sind in der Bürokratie, in Schulen usw.
Wenn morgen der Krieg beginnt – was kann man in dieser Nacht mobil machen, was an die Grenze geht? In den meisten Ländern gibt es nur ein Bataillon oder eine Brigade, die man gerade schicken kann.
Wenn man sieht, wie viele Brigaden die Ukraine hat und wie viele wir hätten, dann ist das weniger. Das ist das Problem einer Friedensorganisation: Es braucht immer Zeit, um militärisch hochzufahren und abschreckungsbereit zu sein.
Vor allem: Ohne die US Air Force in Europa, ohne die amerikanische Luftkomponente, müssen wir das, was in der Luft fehlt, durch Feuerkraft und Präsenz am Boden kompensieren. Dafür war die NATO nie ausgelegt.
Wir haben immer gesagt: Wir haben wenig Landstreitkräfte, aber dafür viel Feuerkraft in der Luft, die viel zerstört – und dann brauchen wir weniger Bodentruppen.
Jetzt stehen wir vor dem Problem, dass durch den Wegfall der US Air Force ein riesiges Loch in unserer Feuerkraft entsteht.
Hier stellt sich die Frage nach dem zukünftigen Sicherheitssystem in Europa. Was denken Sie über eine europäische Armee, über europäische Streitkräfte? Und welche Rolle hätte die Ukraine in einem solchen System?
Ganz ehrlich: Eine gemeinsame europäische Armee sehe ich jetzt nicht kommen.
Selbst wenn die Amerikaner aus der NATO austreten oder ihre Mitgliedschaft nicht mehr ernst nehmen, bleibt die NATO die zentrale Organisation. Dort gibt es Stäbe, Institutionen, die funktionieren und die man weiter nutzen wird – unter europäischen Staaten, während die Amerikaner außen vor bleiben und ihr eigenes Süppchen kochen, wie die Türken.
Die Ukraine würde an diese Struktur im Grunde de facto angebunden. Ich tippe, dass nach dem Ende des Krieges und der Demobilisierung der ukrainischen Armee viele ukrainische Soldaten Beraterjobs bei europäischen Streitkräften bekommen – für Ausbildung usw.
Es wird eine militärische Präsenz der Europäer in der Ukraine geben, die, weil wir nur NATO-Führungsstrukturen für größere Heereskörper haben, und auch eine Mission in der Ukraine von der NATO geführt werden muss. Das heißt, es wird ein NATO-Kommando in der Ukraine geben.
Und dann ist es nur eine Frage der Papierform, wann die Ukraine formell aufgenommen wird.
Aber das ist dann eine politische Entscheidung. Alles andere kommt quasi unter der Hand mit der Zeit.
So wie Schweden im Kalten Krieg de facto NATO-Mitglied war: Schwedische Streitkräfte waren NATO-kompatibel, es gab direkte Kommunikationslinien nach London und Washington, und im Kriegsfall wären amerikanische Flugzeuge aus Großbritannien Richtung Schweden verlegt worden.
Genauso wird es nach dem Krieg mit der Ukraine sein: De facto Mitglied – und irgendwann dann Vollmitglied.
Der Verlauf des Krieges in der Ukraine hängt – trotz der wachsenden Rolle Europas – weiterhin stark von der Position der USA ab, insbesondere von der Verstärkung der Unterstützung für die Ukraine und dem Druck auf Russland. Jüngste Aussagen von Präsident Trump über eine mögliche Rückgewinnung verlorener Gebiete durch die Ukraine wurden von einigen Analysten als Wandel in seiner Rhetorik interpretiert. Sehen Sie tatsächlich eine Veränderung in seiner Haltung?
Ich glaube, der Krieg ist für Trump mittlerweile – nachdem er gesehen hat, dass er keinen schnellen Sieg erringen kann – diplomatisch mehr oder weniger egal.
Er tut derzeit nichts mehr, was der Ukraine aktiv schadet, wie etwa die Unterbrechung nachrichtendienstlicher Informationen oder von Hilfsleistungen. Aber er lässt es sich bezahlen.
Was tatsächlich geschehen ist: Er schickt nun auch nachrichtendienstliche Informationen an die Ukraine für Schläge gegen russische Infrastruktur in der Tiefe. Das ist die einzige wirkliche Veränderung – und sie ist positiv, aber natürlich noch nicht sehr groß.
Eine Rückgewinnung aller Gebiete würde ich der Ukraine wünschen, aber das passiert nicht von selbst – dafür muss man etwas tun.
Nach bald vier Jahren Krieg ist das für die Ukraine natürlich schwieriger: wegen Personalverlusten, wegen Materialverlusten, weil die Truppen erschöpft sind.
Es braucht viel Arbeit, um Russlands derzeitige Überlegenheit – sie haben trotz geringer Fortschritte an der Front eine materielle Überlegenheit, insbesondere bei der Feuerkraft – auszugleichen und der Ukraine wieder ein Kräfteverhältnis zu verschaffen wie im Herbst 2022, als die Ukraine an manchen Frontabschnitten sogar lokal überlegen war.
Jetzt ist das viel schwieriger, weil Russland auch rekrutiert und seine Wirtschaft auf Kriegsproduktion umgestellt hat.
Das ist nun der neue Maßstab, den man wieder einholen müsste. Und da sehe ich weder bei den Amerikanern noch bei den Europäern jemanden, der aufsteht und sagt: „Ja, wir machen das.“ Es soll nicht nur ein Waffenstillstand an der Kontaktlinie sein, sondern die Ukrainer müssen die Russen zurückdrängen. Aber das sagt niemand.
Und das finde ich schade, weil genau das Putin zu echten Verhandlungen bewegen würde – nämlich dann, wenn er plötzlich zu verlieren beginnt.
Das politische Ziel, die Ukraine nicht verlieren zu lassen und auf einen Waffenstillstand hinzuarbeiten, und das Ziel, die Ukraine gewinnen zu lassen, sind für viele Europäer zwei ganz unterschiedliche Dinge. Und das eine ist wesentlich ambitionierter als das andere.
Wenn ich mir den Verlauf des Krieges anschaue, ist es eigentlich fast dasselbe: Solange Putin nicht verliert, verhandelt er nicht. Das heißt, solange er nicht verliert, gibt es auch keinen Waffenstillstand.
Das heißt: Das „Spielen auf Waffenstillstand“ oder das „Spielen auf Sieg“ ist eigentlich dasselbe Spiel. Aber in Europa glaubt man oft, es ginge nur um einen Waffenstillstand.
Zudem glaube ich nicht, dass Putin wirklich gute Informationen kriegt, wie schlecht es seinen Truppen im Feld geht.
Laut US-Medien erwägt die US-Präsident die Lieferung von weitreichenden Tomahawk-Raketen an die Ukraine. Glauben Sie, dass diese Entscheidung getroffen wird, und wie könnte deren Einsatz den Kriegsverlauf beeinflussen?
Da bin ich ziemlich skeptisch. Die Ukraine müsste dafür auch Typhon-Launcher – also bodengestützte Starter – und dann Tomahawks bekommen.
Dann stellt sich die Frage: Wie viele? Und wer bezahlt das? Die Europäer müssten die Amerikaner dafür entschädigen. Wie hoch sind die Kosten pro Schuss, was sind die Opportunitätskosten?
Der konventionelle Tomahawk fliegt etwa 1.600 km, die neueren etwas weiter. Wenn der Preis pro Stück aber horrend ist, wäre es vielleicht sinnvoller, der Ukraine das gleiche Geld zu geben, um mehr Flamingos zu bauen, statt teure Tomahawks zu kaufen.
Wenn die Amerikaner tatsächlich von sich aus Lieferungen anstreben würden, würde ich eher auf JASSM oder ähnliche Systeme setzen. Die USA entwickeln derzeit günstigere Marschflugkörper, die billiger und in größerer Stückzahl produziert werden sollen. Zwei Prototypen gibt es bereits, und wenn sie in Serienproduktion gehen, wäre das meiner Meinung nach die sinnvollere Lösung – weil man damit mehr Quantität erreicht.
Das Problem bei den Tomahawks wäre ähnlich wie bei den ATACMS: Es sind gute Waffen, aber es kommen immer nur sehr wenige. Sie sind Teil verschiedener Kriegspläne, und es gibt Diskussionen, ob das Pacific Command oder das European Command mehr abgeben soll etc.
Bei Tomahawk wäre es genauso. Und dann ist die Frage: Wie viele bekommt man wirklich?
Wenn es immer nur wenige sind, können sich die Russen darauf einstellen. Sie sehen, wie das System funktioniert, lernen daraus – und wenn später größere Stückzahlen kommen, haben sie schon eine Gegenstrategie.
Bei den ATACMS war es genauso. Wenn sie in größerer Zahl und ohne politische Restriktionen geliefert worden wären, hätten sie wahrscheinlich einen deutlich größeren Effekt gehabt; so aber gab es einen langen Einlern- und Anpassungsprozess auf russischer Seite.
Wie bewerten Sie die ukrainischen Angriffe auf russische militärisch-industrielle Ziele, insbesondere auf den Ölraffineriekomplex? Könnten sie den Kreml dazu zwingen, seine Kriegspläne zu überdenken?
Das hängt davon ab, wie die Angriffe weitergeführt werden. Sie zeigen Wirkung – aber bis sich die Effekte über Inflation und Opportunitätskosten auswirken, also bis Russland Geld für den Reimport von Treibstoff ausgeben muss, das dann in der Rüstung fehlt, vergeht Zeit.
Diese Folgeeffekte, die den Krieg für Russland schwieriger machen, stellen sich erst mit der Zeit ein – und sie werden mit der Zeit stärker.
Deshalb muss man diese Kampagne durchhalten. Ich hoffe, dass der Ukraine das gelingt – dann werden wir auch Ergebnisse sehen.
Man muss allerdings immer einkalkulieren, dass Russland Gegenmaßnahmen ergreift, um die Auswirkungen zu begrenzen oder auszugleichen.
Die Ukraine schafft das übrigens auch: Es ist ja schon der dritte Winter, in dem ihre Energieinfrastruktur angegriffen wird – und trotzdem hat man neue Verteilungsinfrastruktur geschaffen, Backup-Kapazitäten aufgebaut, Batteriespeicher installiert, Prioritätspläne erstellt.
Die russische Propaganda versucht den Eindruck zu erwecken, dass ihre Truppen unaufhaltsam voranschreiten und täglich „neue Städte einnehmen“. Wie bewerten Sie die tatsächlichen Ergebnisse der russischen Offensivaktionen in der aktuellen Sommer-Herbst-Kampagne?
Nicht beeindruckend. Sehr hohe Verluste, sehr geringe Geländegewinne.
Das Problem ist, dass das strategische Ziel des Kremls darin besteht, die Ukraine so weit zu erschöpfen, dass ihre Verteidigung zusammenbricht. Dafür müssen sie hohe Verluste auf ukrainischer Seite verursachen, und das Verhältnis von russischen zu ukrainischen Verlusten muss so sein, dass die ukrainische Verteidigung schneller zusammenbricht als die russische Offensive.
Leider sind die Russen in diesem Rennen immer noch dabei.
Allerdings zeigen die jüngsten Daten, dass die russischen Verluste sehr hoch sind und das Material nicht mehr so leicht zu ersetzen ist. Wir könnten an einem Punkt sein, an dem die Leistungsfähigkeit der russischen Armee schneller abnimmt, als die Zufuhr an Personal und Material sie kompensieren kann. Damit erodiert sie mit jedem weiteren Angriff. Das wäre ein wichtiger Meilenstein für die Ukraine.
Die Frage ist, ob die Ukraine dies personell und materiell auch durchhalten kann.
Wenn ich Sie richtig verstehe, erwarten Sie also keine großen Veränderungen an der Front bis Jahresende?
Nein, bis Jahresende nicht.
Ich glaube auch nicht – es gibt zwar einige sehr mutige Stimmen, die von einer großen ukrainischen Gegenoffensive sprechen, – aber ich halte das unter den aktuellen Bedingungen für unrealistisch.
Ich würde es der Ukraine wünschen, unmöglich ist es nicht, aber mit den derzeitigen Ressourcen kaum machbar. Erstens personell: Viele Einheiten sind stark abgekämpft, und es müsste aggressiver mobilisiert werden. Zweitens materiell: Es fehlt an Unterstützungsgeräten – Pionierpanzer, Minenräumsysteme usw.
Die Ukraine forscht zwar intensiv, etwa an robotischen Systemen, um westliche Lücken zu kompensieren, aber bis diese in Massenproduktion gehen, dauert es.
Die Umstellung auf das Korps-System ist zwar gelungen und hat bereits Verbesserungen in der Defensive gebracht, aber bis diese Strukturen auch für Offensivoperationen einsatzfähig sind, braucht es noch Zeit – für Ausbildung, Stabsarbeit und die Bereitstellung spezialisierter Truppen: Pioniere, Drohneneinheiten, Artillerie mit großer Reichweite. Und mehr Soldaten, um abgekämpfte Verbände wieder aufzufüllen.
Abschließend: Wie sehen Sie eine mögliche Wende im Krieg, die das Ende der russischen Aggression einleiten könnte?
Wenn sich die Europäer zusammenreißen und der Ukraine deutlich mehr Material zur Verfügung stellen – und die Ukraine gleichzeitig entschlossener mobilisiert –, dann könnte bis Ende nächsten Jahres eine Situation entstehen, in der die Ukraine wieder in die Offensive gehen kann.
Das könnte für Putin das Signal sein: Jetzt ist Schluss, jetzt reicht es.
Und Friedensgespräche?
Ich glaube nicht, dass Friedensgespräche ohne militärischen Druck zu irgendetwas führen.
Vasyl Korotkyi, WIEN.