Markus Pollak, österreichischer Volontär
Neutralität funktioniert nur, wenn man sich bewusst ist, dass man dabei auf der Seite des Aggressors steht
Wie begann Ihr Einsatz für die Ukraine? Wann und warum haben Sie sich entschieden, zu helfen?
Es begann mit einem großen Irrtum, den ich erkannt habe. Ich war – wie viele Österreicher – geprägt von einer ganz anderen Vergangenheit als die Menschen in der Ukraine.
Wir sind aufgewachsen mit dem Bewusstsein, dass unsere Vorfahren riesige Verbrechen verursacht haben – Verbrechen, die von den Alliierten gestoppt wurden. Und zu diesen Alliierten gehörte auch die Sowjetunion – also Russland.
Mit diesem Bild bin ich groß geworden. Für mich war Russland nie das, was es in Wahrheit ist. Die Ukraine kannte ich kaum – sie war für mich einfach ein Teil der Sowjetunion, also irgendwie dasselbe wie Russland. Ich hatte keine Ahnung von ukrainischer Geschichte, kaum von ihrer Politik. Ich dachte nur: Ost gegen West – und die Ukraine als Spielball dazwischen.
Aber als Russland – nicht nur Putin, sondern das ganze System – beschlossen hat, in die Ukraine einzumarschieren und Menschen zu töten, war für mich sofort alles anders.
In Europa haben wir gelernt: Wenn es Probleme gibt, reden wir. Wenn nötig, zehn Jahre lang – aber wir töten niemanden. Dieses Prinzip sitzt tief in mir. Putin und Russland haben sich für einen anderen Weg entschieden. Einen, der völlig unnötig war.
Ich verstehe, dass jedes Land Interessen hat – aber man setzt sie nicht mit Gewalt durch. Das war für mich der Auslöser. Heute verstehe ich viel mehr über Russland und die Hintergründe dieses Kriegs. Aber der Ausgangspunkt war klar: Ich konnte nicht akzeptieren, dass jemand seine Ziele mit Gewalt durchsetzt – und dabei Menschen tötet. Das war der Grund.
Erzählen Sie bitte, wie alles konkret begonnen hat. Was waren Ihre ersten Fahrten in die Ukraine?
Am Anfang dachte ich: Da kämpfen Soldaten gegeneinander. Dass Russland gezielt Zivilisten tötet, war mir damals noch nicht klar. Ich wollte einfach den ukrainischen Soldaten helfen – medizinisch. Ich wollte sicherstellen, dass Verwundete versorgt werden können.
Also begann ich in meinem Umfeld – das hauptsächlich aus Soldaten, Veteranen und Polizisten besteht – medizinisches Material zu sammeln. Ich hatte keine Kontakte in die Ukraine, kannte niemanden, wusste nicht, wie man über die Grenze kommt oder wo genau die Front verläuft. Aber ich war entschlossen zu helfen.
Ein weiterer Österreicher, Jürgen Hagen, kam dazu, weil ich ein Fahrzeug brauchte. Ich selbst hatte keines, mit dem ich größere Mengen transportieren konnte. Wir fuhren einfach los – mit medizinischen Hilfsgütern. Das Auto war nicht voll, also kontaktierte ich zusätzlich eine Organisation in Wien. Die kannten mich nicht, gaben mir aber trotzdem ein paar Sachen mit.
Ich wollte gleich nach Kyjiw fahren, aber die Wiener Organisation – YOUkraine – unterstützte das zunächst nicht. Sie meinten: „Fahr mal nur über die Grenze, gib’s dort ab.“
Also überquerten wir die Grenze, lieferten das Material an einer Okko-Tankstelle ab – und fuhren zurück.
Wann war das genau?
Das war März 2022. Ich habe fast unmittelbar nach der russischen Invasion begonnen, Hilfsgüter zu sammeln. Bereits am vierten Tag der Invasion habe ich geholfen, einen älteren Mann aus Kyjiw – ein deutscher oder vielleicht schweizer Staatsbürger – nach Deutschland zu bringen.
Beim zweiten Transport war für mich klar: Ich bringe die Sachen nicht mehr einfach irgendwohin und lade sie ab. Ich wollte wissen, wer sie bekommt und ob sie dort ankommen, wo sie gebraucht werden – nicht verkauft oder umgeleitet werden.
Also habe ich Kontakt zu ein paar Ukrainern in Lwiw aufgebaut, die uns halfen, weiter nach Kyjiw zu fahren. Die E40 war zu dieser Zeit russisch besetzt – westlich von Kyjiw, im Raum Irpin. Wir konnten also nicht über Zhytomyr fahren, sondern mussten einen großen Umweg machen. Zu dieser Zeit war das eine Fahrt mit sehr hohem Risiko, besonders bei Nacht. In Kyjiw übernachteten wir bei Soldaten, luden schließlich unsere Hilfsgüter ab – und fuhren zurück. Danach war klar: Ich mache weiter. Meine Freunde merkten: Der hört nicht auf. Also sammelten sie weiter.
Dann kam großartige Unterstützung: Das Yamaha Austria Racing Team stellte uns kostenlos einen VW Crafter zur Verfügung. Später schenkte mir der Firmenchef das Fahrzeug sogar – unglaubliche Solidarität.
Mit der ersten Fahrt nach Kyjiw haben die Leute in Wien, aber auch bei Save Ukraine Graz bemerkt: Aha, da ist ein Österreicher, der fährt wirklich ins Land, nicht nur zur Grenze.
Ab da war mein Auto immer voll – rein in die Ukraine, zu allen möglichen frontnahen Orten fahren, abliefern und wieder zurück nach Wien. Manchmal kam ich frühmorgens in Wien an und fuhr abends schon wieder los. Kaum Pausen.
In den ersten neun Monaten bin ich über 140.000 Kilometer für Transporte gefahren.
Währenddessen wuchsen meine Kontakte in der Ukraine. Man bringt Sachen zu einem Ansprechpartner – sagen wir, zu Viktor. Gut, jetzt kenne ich Viktor. Beim nächsten Mal bringe ich ihm wieder etwas, und plötzlich steht noch jemand neben ihm. So wächst das Netzwerk.
In der Ukraine schließt man schnell Freundschaften. Die Menschen sind sehr offen, und 2022, am Anfang, waren sie für jede Hilfe unglaublich dankbar.
Irgendwann war die Motivation nicht mehr nur: Ich muss helfen, weil Krieg ist. Sondern: Verdammt, Viktor fährt nach Bachmut – ich kann nicht tatenlos zusehen. Ich muss mithelfen, also auf nach Bachmut. So hat sich alles entwickelt.
Wie viele Transporte haben Sie insgesamt gemacht?
Ich habe über 80 Stempel im Reisepass aus den ersten Jahren. Inzwischen habe ich ein Visum mit Aufenthaltsgenehmigung, mache keine Transporte mehr und fahre nicht mehr ständig hin und her. Aber damals, als ich regelmäßig Transporte gemacht habe, waren es wirklich viele Grenzübertritte.
Sie haben vorhin Bachmut erwähnt. Hatten Sie keine Angst, dorthin zu fahren? Gab es Situationen, in denen Sie direkt in Gefahr waren?
Ja, natürlich. Angst ist schwer zu definieren – aber die Anspannung war oft stark, besonders bei Fahrten in unbekannte Städte nahe der Front. Zum Beispiel meine erste riskante Mission nach Charkiw im Mai 2022 – einen Tag vor dem russischen Siegesfeiertag. Ein Freund bat mich, seine auf einen Rollstuhl angewiesene Mutter herauszuholen – es hieß, Charkiw werde an diesem Tag schwer angegriffen. Ich fuhr los, ohne zu wissen, ob ich wieder zurückkomme. Auf dem Weg: keine Autos auf meiner Fahrspur, nur entgegenkommende Flüchtende auf dem Weg nach Kyjiw. Da dachte ich mir schon, dass es vielleicht nicht die beste Idee ist, in diese Richtung zu fahren. Aber ich musste diese Frau rausholen.
Damals gab es auch viele Berichte über russische Agenten, überall Checkpoints. Ich fuhr mit einem großen Auto mit ausländischem Kennzeichen – ein auffälliges Ziel. In einer flachen Ebene dachte ich nur: „Ein Traumfeld für einen Scharfschützen.“ Natürlich Unsinn – aber damals konnten wir die Gefahr nicht richtig einschätzen.
Mein erster Besuch in Bachmut war am 10. Oktober 2022. Damals war die Hauptgefahr noch Artillerie. FPV-Drohnen gab es zwar schon, aber sie waren noch keine echte Gefahr. Ich fuhr in eine zerstörte Stadt, hörte Panzer, Artillerie – und sah gleichzeitig eine alte Frau, die ihr Fahrrad schob. Ich mit Helm und Weste im Auto – sie ganz normal draußen. Da zog ich die Ausrüstung aus, weil ich mich richtig blöd fühlte. Am Stabilisationspunkt angekommen, steige ich aus – das Erste, was ich höre: "Wo ist dein Helm? Wo ist deine Schutzweste?“. Die Leute kannten mich nicht, aber sagten sofort: „Rein mit dir – ohne Schutz läufst du hier nicht rum!“.
Einen Tag vorher war dort einer der Rettungsfahrer durch einen Angriff getötet worden. Für die Leute vor Ort war es der Alltag – für mich war es fast wie ein touristischer Ausflug. Ohne richtige Vorstellung wie ich mich zu verhalten habe um nicht als Fremdkörper wahrgenommen zu werden. Aber ich hatte dringend benötigtes Material gebracht, und die Leute haben sich darüber gefreut.
Ab da war klar: Ich kenne jetzt die Leute, weiß, wie es läuft. Also zurück nach Österreich, Auto vollpacken – und sofort wieder runter.
Aber die Lage wurde mit der Zeit gefährlicher. Die direkte Route nach Bachmut wurde bald gesperrt und ich konnte nur noch über die südlich gelegene Strecke in die Stadt. Im Dezember 2022 fuhr ich einmal bei Nacht hinein – mit Schlafsäcken und Medikamenten. Und am 6. Januar, zum orthodoxen Weihnachten, brachte ich den Jungs kleine Geschenke. Doch da war die Stimmung schon bedrückend.
Im Jänner 2023 war Bachmut kein "Abenteuer" mehr. Beim Ausladen des Autos schlug eine Kornett-Rakete direkt neben uns ein. In solchen Momenten wird einem plötzlich sehr bewusst, wo man ist – und was man dort eigentlich tut.
Sie haben auch militärische Erfahrung. Inwiefern hat Ihnen dieser Hintergrund geholfen?
Nicht viel. Wirklich nicht viel. Erstens: Meine militärische Erfahrung ist begrenzt. Ich war zwar beim Bundesheer in Österreich und habe auch einige Jahre beruflich beim Militär gearbeitet, aber ich war nie Teil einer Spezialeinheit oder Ähnlichem – überhaupt nicht. Meine praktische Erfahrung stammt nur aus der Friedenmission in Bosnien. Diese Erfahrung hatte ich, aber sie ist mit dem Krieg jetzt nicht vergleichbar – überhaupt nicht. Sie hilft mir also gar nicht.
Ich wäre allerdings froh, wenn es Anzeichen gäbe, dass sich Österreich oder Europa insgesamt ein wenig mehr auf diese Art von Krieg vorbereiten würde. Aber das sehe ich nicht. Ich sehe niemanden, der sich das wirklich anschaut und daraus lernt – und genau das wäre jetzt dringend notwendig.
Sie haben erwähnt, dass Sie mit dem Transport von Gütern in die Ukraine aufgehört haben. Womit beschäftigen Sie sich jetzt in der Ukraine?
Seit über einem Jahr arbeite ich ausschließlich im medizinischen Bereich. Irgendwann habe ich mit den Transporten aufgehört, weil die Hilfsgüter immer weniger oder qualitativ schlechter wurden. Es hat sich einfach nicht mehr gelohnt, mit einem Auto in die Ukraine zu fahren – die Dieselkosten waren oft höher als der Wert der transportierten Waren.
Also habe ich mich entschieden, in die medizinische Evakuierung zu wechseln – anfangs als Fahrer. Ich fahre gut, kann lange Strecken konzentriert zurücklegen und bleibe in Gefahrensituationen ruhig. Im Februar 2024 war ich noch in Awdijiwka, kurz bevor die Stadt von den Russen eingenommen wurde. Ich habe gemerkt: Ich kann mit solchen Situationen umgehen, ich bleibe fokussiert und reagiere nicht panisch.
Ab dann habe ich mich auf den Transport von Verwundeten konzentriert – eher Transporte als echte Evakuierungen, muss man präzisieren. Dabei wurde mir klar, wie groß der Bedarf ist und wie viele Missstände es gibt. Also habe ich beschlossen, eine eigene Organisation zu gründen – „Зелений Хрест МедЕвак“ (3XM) – um verletzte Soldaten aus frontnahen Gebieten in Krankenhäuser zu bringen und genau das umzusetzen, was ich für notwendig halte.
Denn ich habe gesehen, dass es sehr viele freiwillige Helfer in der Ukraine gibt, die überhaupt nicht über die notwendige Qualifikation verfügen. Manche nennen sich „Medics“, obwohl sie nur vier Stunden Training hatten. Es gibt Fahrer, die schlecht fahren – bei einem Unfall wurde sogar mein eigenes Fahrzeug zerstört.
Wir wollten eine Evakuierungseinheit aufbauen, die es anders macht. Doch schnell wurde klar: Medizinische Transporte legal durchzuführen, ist in der Ukraine nicht einfach. Viele Organisationen arbeiten ohne Genehmigung – was rechtlich ein Problem ist. Als Ausländer darf man nicht einfach loslegen. Es braucht anerkannte Qualifikationen, eine registrierte medizinische Organisation, zertifizierte Fahrzeuge – kurz: klare Strukturen und Legalität.
Deshalb gehen wir den offiziellen Weg. Gemeinsam mit der UAEMT (Association of First Aid and Tactical Medicine Operators and Instructors) arbeiten wir daran, als medizinische Organisation legal anerkannt zu werden. Das ist ein langwieriger Prozess, aber wir arbeiten intensiv daran.
Parallel dazu bilden wir Soldaten in taktischer Medizin aus. Unser Team besteht aus professionellem medizinischem Personal. Aktuell trainieren wir mit vier Ausbildern in Rotation, das Ziel sind acht gleichzeitig.
Und um Missverständnisse zu vermeiden – gerade in Österreich: Wir sind eine rein zivile Organisation, keine militärische Einheit. Wir arbeiten ausschließlich im medizinischen Bereich, haben keinen Vertrag mit der Armee. Als Österreicher dürfte ich so etwas auch gar nicht haben, ohne meine Staatsbürgerschaft zu gefährden.
Heißt das, Sie führen derzeit keine Evakuierungen durch, sondern konzentrieren sich ganz auf Ausbildung in taktischer Medizin?
Genau. Wir konzentrieren uns derzeit vollständig auf taktische Medizin. Wir arbeiten mit der 93. Brigade „Kholodnyi Jar“, genauer gesagt mit dem Bataillon „Alcatraz“. Diese Einheit besteht aus ehemaligen Häftlingen, die sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet haben. Wichtig ist: Es handelt sich nicht um Schwerverbrecher, sondern um Männer mit kleineren Delikten – Gewaltverbrecher oder prorussische Personen sind ausdrücklich ausgeschlossen.
Diese Männer könnten theoretisch sicher im Gefängnis bleiben – sie wurden nicht zwangsrekrutiert. Aber sie haben sich bewusst entschieden, an die Front zu gehen. Sie kaufen sich damit nicht frei, sondern wählen einen schwierigen Weg.
Wir erleben sie im täglichen Training: einfache Bedingungen, oft ohne regelmäßige Versorgung, ständig Drohnen über uns. Einige wurden bereits an die Front verlegt, andere folgen bald. Leider bekommen sie außerhalb ihrer Einheit oft wenig Anerkennung. Ihre Ausbildung ist kürzer, ihre Ausrüstung schlechter, sie werden in besonders gefährliche Einsätze geschickt.
Als ich die Möglichkeit bekam, sie auszubilden und damit ihre Überlebenschancen zu verbessern, war das sofort meine Priorität. Und diese Priorität ist nur noch größer geworden, seit ich sie persönlich kenne. Sie sind für mich keine anonymen Fremden, sondern Kameraden mit Namen und Geschichten. Sie kommen auf uns zu, umarmen uns, freuen sich auf das Training – und sie wissen genau, warum sie es machen. Sie sind meine Kameraden. Das ist meine Aufgabe. Und das wird sie auch bleiben.
Sie sprechen weder Ukrainisch noch Russisch. Wie gelingt Ihnen dennoch die Kommunikation vor Ort – insbesondere in den Einsatzgebieten? Haben Sie inzwischen einige ukrainische Ausdrücke gelernt?
Die Kommunikation funktioniert, weil wir zum einen Ukrainer im Team haben und zum anderen mit Übersetzern arbeiten.
Natürlich nutzen wir bestimmte Kommandos, etwa beim Anlegen eines Tourniquets – das Nötigste können wir vermitteln. Ich verstehe inzwischen ein bisschen Ukrainisch: Wenn ich den Zusammenhang kenne, kann ich vieles nachvollziehen. Aber natürlich ist die Kommunikation ganz anders als in meiner Muttersprache.
Wie haben Militärangehörige und Zivilisten reagiert, als sie einen ausländischen Freiwilligen wie Sie an ihrer Seite sahen?
Wenn man die Entwicklung über den gesamten Kriegsverlauf betrachtet, war die Reaktion im ersten halben Jahr beeindruckend positiv. Viele haben gesehen: Da kommt jemand von außen, der wirklich helfen will.
Ab Herbst 2022 hat sich das jedoch verändert. Immer mehr Ausländer kamen – nicht alle, um zu helfen, sondern um sich zu inszenieren: „Ich bin cool, ich bin in der Ukraine.“ Manche sammelten Spenden und verwendeten sie für sich selbst. 2023 hatten wir ein ernsthaftes Problem mit solchen Leuten.
Heute ist das Umfeld unter den Freiwilligen deutlich professioneller. Diejenigen, die geblieben sind oder regelmäßig zurückkehren, leisten sehr gute Arbeit. Wir wägen genau ab, was wir tun – das Risiko bleibt, aber es ist kalkulierbarer geworden.
In unserer Einheit sind die Männer sehr dankbar. Unsere Ausbildung läuft ohne Druck ab, so gestaltet, dass sie gerne kommen. Nur dann lernen sie wirklich. Wenn jemand innerlich blockiert ist und nur denkt: „Wann ist das vorbei?“, bleibt nichts hängen. Unsere Methode wird sehr gut angenommen – wir sind sechs Tage die Woche am Übungsplatz und werden dort gern gesehen.
Viele Freiwillige haben sich nach drei Jahren zurückgezogen – zurück zu ihrem Beruf, ihren Kindern, ihrem eigenen Leben. Was gibt Ihnen die Kraft, weiterzumachen?
Ich habe das Glück, dass ich in Österreich eine Familie habe, die Verständnis zeigt. Aber sie wissen auch, dass ich nie wieder zurückkommen werde. Ich habe in Österreich alles abgebrochen – alles verkauft, alles zurückgelassen –, damit ich hier in der Ukraine meine Arbeit machen kann.
Die Kraft geben mir meine Kameraden. Die Menschen, denen ich ins Gesicht sehe und weiß: Sie müssen in ein paar Tagen auf ihre Position – und sie könnten dabei sterben. Wenn ich dann denke, dass sie vielleicht nicht sterben, weil wir hier sind und sie ausbilden, dann ist das für mich mehr als genug. Mehr brauche ich nicht. Das ist die Kraft, die mich trägt.
Wir sind vollkommen erschöpft. Und ich muss das vielen immer wieder erklären: Das ist keine Müdigkeit, die nach zwei oder drei Nächten Schlaf verschwindet. Das ist eine Erschöpfung, die tief geht. Aber jeden Tag stehen wir wieder auf, weil wir wissen, was wir zu tun haben. Ganz einfach.
Wie reagiert Ihr persönliches Umfeld – Familie, Freunde – auf Ihr Engagement? Haben sich Beziehungen dadurch verändert?
Sehr unterschiedlich. Zu vielen Menschen, mit denen ich früher befreundet war, habe ich heute keinen Kontakt mehr. Vor allem dann, wenn es darum geht, immer wieder erklären zu müssen, warum ich hier bin. Ich will das nicht mehr erklären. Entweder sie verstehen es – oder sie verstehen es nicht.
Wer bis jetzt nicht verstanden hat, was wir hier tun -und warum-, der wird es auch mit vielen Gesprächen nicht mehr verstehen. Wer heute immer noch glaubt, die Russen hätten irgendeinen vertretbaren Grund für das, was sie tun, der ist einfach ein Idiot. Wer meint, man könne mit den Russen reden, hat es nicht begriffen. Und wer denkt, dass alles für uns in Europa normal weitergeht, wenn die Ukraine diesen Krieg nicht gewinnt, der sieht die Realität nicht.
Ich will mit niemandem mehr diskutieren, der das nicht versteht. Ich habe nicht mehr die Kraft dazu. Ich habe es oft genug versucht. Ich will nicht mehr.
Das ist auch einer der Gründe, warum ich weiß, dass ich nach dem Krieg nicht mehr in Österreich leben kann. Ich müsste dort mein restliches Leben immer wieder erklären, warum ich überhaupt hier war. In der Ukraine muss ich nichts erklären. Hier bin ich einfach einer von Millionen. Hier versteht jeder, warum ich hier bin.
Und wann waren Sie zuletzt in Österreich?
Ich war Ende April zuletzt in Österreich – aus familiären Gründen. Davor war ich zu Weihnachten dort, und zuvor fast ein Dreivierteljahr nicht. Ich bin zwei- bis dreimal im Jahr in Österreich, aber das ist kein Urlaub, sondern ein kurzer Besuch bei meiner Familie und unseren Spenderinnen und Spendern. Sie unterstützen uns großzügig, und ich möchte sie persönlich treffen, weil sie einerseits angenehme Menschen sind, die verstehen, was hier passiert, und andererseits ein Recht darauf haben, direkt informiert zu werden. Ohne ihre Spenden könnten wir unsere Arbeit nicht machen, denn wir finanzieren uns ausschließlich darüber.
Jeder von uns ausländischen Helfern hat schon alles verkauft, was er besaß. Ich habe 2022 mein Auto verkauft, später auch mein Haus. Es war kein großes Haus, aber es hat gereicht, um weiterzumachen. In Österreich habe ich jetzt nichts mehr – außer ein paar Menschen, die mir wichtig sind und die ich mein Leben lang besuchen werde.
Was denken Sie über die Haltung Österreichs zum Krieg – besonders im Rahmen der Neutralität? Wird die Ukraine aus Ihrer Sicht ausreichend unterstützt?
Die Regierung spricht sich klar aus – das freut mich. Sie steht eindeutig auf unserer Seite, ohne „Ja, aber“. Das finde ich sehr gut. Aber es fehlt an sichtbarer Unterstützung.
Wenn es um das Thema Neutralität geht, spreche ich sehr ungern darüber – aber ich tue es trotzdem, weil es hilft, die Dinge klarer zu sehen.
Ich war als Kind und Jugendlicher freundlich und ruhig. Ich wollte keinen Ärger. Aber auf meinem Schulweg gab es Ärger – nicht, weil ich ihn suchte, sondern weil dort Menschen waren, die ihn suchten: ältere, stärkere Schüler. Ich konnte dem nicht entkommen, es gab keinen anderen Schulweg. Ich war Gewalt ausgesetzt. Und es gab Erwachsene ringsherum, die das jederzeit hätten beenden können – aber es nicht taten.
Da habe ich gelernt, was Neutralität bedeutet: Neutralität heißt, zuzuschauen und abzuwarten, was passiert. Und es passiert immer das Gleiche – der Aggressor gewinnt. Neutralität funktioniert nur, wenn man sich bewusst ist, dass man dabei auf der Seite des Aggressors steht.
Das ist echte Neutralität. Es gibt keine Neutralität, ohne dem Stärkeren zu helfen. Ich bin nicht neutral.
Wie bewerten Sie die aktuellen internationalen Bemühungen um eine friedliche Lösung? Gibt es Ihrer Meinung nach realistische Chancen für einen gerechten Frieden?
Welche Bemühungen? Wer bemüht sich denn wirklich?
Russland interessiert sich nur dann für „Frieden“, wenn die Ukraine sagt: „Okay, wir gehören wieder zu euch. Ihr könnt kommen, nehmen, was ihr wollt, Menschen deportieren, Kinder verschleppen, und wenn eine Hungersnot kommt – egal, wir sind Russland, wir nehmen uns was wir wollen.“ Das ist die russische Vorstellung von Frieden.
Und von außen? Trump ist unzuverlässig – oder versteht einfach nicht, was hier passiert. Vielleicht interessiert es ihn auch nicht. Auch die vorherige US-Regierung hat nicht geholfen, obwohl sie es gekonnt hätte.
Europa schläft weiter – wie Österreich. Schöne Worte, aber wo bleiben die Taten? Alles, was geschieht, geschieht zu spät. Wir hätten in diesem Krieg längst an einem anderen Punkt sein können.
Nehmen wir Awdijiwka. Ich war im Februar 2024 dort – kurz vor dem Fall. Die Stadt fiel nicht wegen Personalmangel, sondern weil es keine Munition gab. Unsere Leute konnten nicht einmal zurückschießen – manche Geschütze hatten ein oder zwei Geschosse pro Tag.
Wäre die Armee ausreichend mit Artilleriemunition versorgt worden, wäre Awdijiwka nicht gefallen. Dann wären die Russen nicht bis Pokrowsk vorgedrungen.
Wären die USA im Winter 2023/24 nicht ausgestiegen – oder Europa rechtzeitig aktiv geworden –, gäbe es heute kein Problem in Pokrowsk. Und auch Kramatorsk, Kostjantyniwka und Dobropillja wären nicht bedroht.
Wenn Hilfe ausbleibt, sterben unsere Leute. Meine Freunde sterben. Zivilisten sterben – jedes Mal.
Gibt es irgendeinen realistischen Friedensplan? Ich sehe keinen. Ich sehe nur die Möglichkeit, dass Russland irgendwann wirtschaftlich gezwungen sein wird, aufzuhören. Aber selbst dann – mit wem soll man Frieden schließen? Mit einem Volk, von dem wir wissen, dass es zurückkommt, sobald es kann?
Welcher Frieden? Wir brauchen eine Mauer. Eine riesige Mauer und tiefe Gräben – mit allen giftigen Tieren der Welt darin –, damit niemand von denen je wieder herüberkommt. Nur so kann es über Generationen halten, bis die Russen endlich menschlich werden.
Offenbar ist Ihnen dieser Krieg nicht fremd. Warum empfinden Sie das so?
Ich nehme das alles persönlich – aus mehreren Gründen.
Der erste ist meine Erfahrung als Kind: Ich habe gelernt, dass jemand, der aggressiv ist und stärker, seine Macht ausnutzt. Da kann man freundlich sein, da kann man versuchen, was man will – man entkommt dem nicht.
Es heißt immer: „Zum Kämpfen gehören zwei.“ Das stimmt nicht. Zum Frieden gehören alle. Zum Kämpfen reicht einer. Einer genügt. Wenn der Zweite nicht kämpft, ist er tot.
Und genauso ist es hier.
Für mich war völlig klar: Die Ukraine hatte gar keine Möglichkeit, diesem Kampf zu entkommen. Sie konnte entweder kämpfen oder sie würde leiden – über Generationen hinweg, wie es schon in der Vergangenheit war.
Planen Sie, nach dem Krieg in der Ukraine zu bleiben? Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?
Ich bleibe. Das ist fix.
Pläne haben wir keine. Niemand hier hat im Moment Pläne. Unser Plan ist es, möglichst gut durch den Krieg zu kommen – und zu überleben. Danach sehen wir weiter.
Wir planen immer nur für den nächsten Tag. Mehr geht nicht. Wir wissen nicht, wie sich die Lage entwickelt.
Ich glaube, ich habe das schon vor zwei Jahren gesagt, als ich dieselbe Frage bekommen habe: Jeder Tag ist gleich. Jeder Tag ist ein Tag im Krieg.
Zum Schluss: Sie haben ein Tattoo mit dem ukrainischen Dreizack (Trysub). Was hat Sie dazu inspiriert, dieses Tattoo zu machen, und welche Bedeutung hat es für Sie?
Dazu gibt es eine Geschichte, die mir sehr viel bedeutet.
2022 habe ich Insulin nach Saporischschja gebracht – für Zivilisten, die es weiter in die besetzten Gebiete bringen sollten, um dort Diabetes-Patienten zu versorgen. Einige von ihnen wurden dabei getötet.
Sie wurden von russischen Soldaten gestoppt, mussten das Fahrzeug verlassen und sich ausziehen. Jeder, der viele oder große Tätowierungen hatte, wurde erschossen. Die Russen sagten: „Asow, Nazi“ – wegen der Tattoos.
Aber das waren einfach nur Zivilisten, die Insulin bringen wollten.
Das war der Moment, in dem ich mir sagte: Wenn mich die Russen jemals erwischen, dann sollen sie wenigstens einen Grund haben, mich zu töten.
Deshalb steht bei mir jetzt „Slawa Ukrajini“ tätowiert. Und „Herojam Slawa“.
Wassyl Korotkyj, Wien
Wassyl Korotkyj, Wien