Engelhard Mazanke, Direktor des Landesamtes für Einwanderung (LEA)
Deutscher Pass kann es Ukrainern erleichtern, sich für Rückkehr in ihre Heimat zu entscheiden
Herr Mazanke, laut aktuellen Zahlen sind seit Beginn des russischen Angriffskriegs fast 1,3 Millionen ukrainische Geflüchtete nach Deutschland gekommen. Wie viele von ihnen sind in Berlin registriert?
Derzeit sind es etwa 56.000 Menschen in Berlin.
Die Verteilung innerhalb Deutschlands erfolgt nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel. Dieser richtet sich nach der Einwohnerzahl, der Wirtschaftskraft und weiteren Faktoren der Bundesländer. Für Berlin beträgt der Schlüssel 0,05. Vereinfacht heißt das: Jeder zwanzigste Mensch, der aus der Ukraine flieht, kommt nach Berlin. So ergibt sich die Gesamtzahl von rund 1,2 bis 1,3 Millionen Geflüchteten in Deutschland.
Darf man bei der Ankunft sagen, wo man bleiben möchte?
Grundsätzlich ist es ähnlich geregelt wie bei politisch Verfolgten, auch wenn das Verfahren selbst ein anderes ist. Die Entscheidung, wo jemand aufgenommen wird, funktioniert nach denselben Prinzipien. Es gibt jedoch die Möglichkeit einer sogenannten Verteilung in Überquote auf ein bestimmtes Bundesland, etwa wenn dort enge Familienangehörige leben, man bereits eine Arbeitsstelle hat oder eine spezielle medizinische Behandlung benötigt, die anderswo nicht verfügbar ist – Letzteres ist jedoch selten.
Ansonsten richtet sich die Verteilung nach der Auslastung der einzelnen Bundesländer. Wenn ein Bundesland sein Kontingent erfüllt hat, werden Menschen in andere Länder weiterverteilt. Grenznahe Bundesländer wie Sachsen oder Brandenburg nehmen häufig besonders viele Geflüchtete auf, die dann teilweise weitergeleitet werden.
Wie war das mit den bürokratischen Hürden?
Wir stellen fest, dass das Verfahren zur Aufnahme ukrainischer Kriegsgeflüchteter sehr gut funktioniert.
Als wir 2022 vom Angriff auf die Ukraine überrascht wurden, trafen zwei Welten aufeinander: verzweifelte Menschen, die mit wenig Besitz fliehen mussten, und deutsche Behörden, die für ihre gründlichen Prüfverfahren bekannt sind.
In Berlin beschlossen wir im März 2022, diese Gründlichkeit zugunsten von Pragmatismus zeitweise zurückzustellen. Innerhalb eines Wochenendes entwickelten wir ein digitales Verfahren, mit dem ukrainische Geflüchtete sich nach der Registrierung innerhalb von Sekunden selbst eine Bescheinigung ausdrucken konnten, die ihren rechtmäßigen Aufenthalt, ihren Status und die Arbeitserlaubnis bestätigte. Das war eine Notmaßnahme, denn normalerweise benötigt man in Deutschland ein fälschungssicheres Dokument, das nach Antragstellung, Prüfung und Produktion durch die Bundesdruckerei ausgehändigt wird. Diese Zeit hatten wir nicht.
Viele Menschen kamen zunächst mit dem Zug oder Auto nach Berlin – anders als 2015/16, als die meisten syrischen Geflüchteten in München ankamen. Berlin wurde zur Drehscheibe der Aufnahme, und unser beschleunigtes Verfahren war notwendig – auch wenn wir es vorher nicht mit der Bundesregierung abstimmen konnten. Dadurch wurden wir zum Vorreiter. Das Verfahren funktionierte gut, weil ukrainische Pässe sehr fälschungssicher sind. Diese Lösung galt ausschließlich für ukrainische Staatsangehörige.
Schwieriger war es bei älteren Menschen ohne Pass oder bei ausländischen Studierenden, die mit befristeten Aufenthaltstiteln aus der Ukraine kamen, etwa aus Nigeria, Kolumbien oder Tadschikistan. Viele von ihnen kehrten in ihre Herkunftsländer zurück, andere blieben, was zusätzliche Prüfungen erforderte.
Heute funktioniert das Verfahren weiterhin: Wer über 16 Jahre alt ist, wird beim Landesamt biometrisch erfasst und erhält eine vorläufige Bescheinigung. Nach bis zu elf Wochen gibt es einen Termin, bei dem die Aufenthaltserlaubnis fälschungssicher in den Pass geklebt wird.
Aufgrund einer Entscheidung der Europäischen Union werden diese Aufenthaltserlaubnisse für Neueinreisende aktuell bis zum 7. März 2027 ausgestellt. Für Menschen, die schon eine Aufenthaltserlaubnis haben, gelten diese durch eine Rechtsverordnung der Bundesregierung ohne eine erneute Vorsprache automatisch weiter.
Spüren Sie jetzt einen Anstieg der Zahl der Geflüchteten?
Ja, das ist ein bundes- und wahrscheinlich europaweites Phänomen. Die Zusammensetzung der Geflüchteten hat sich seit März 2022 verändert. Anfangs kamen überwiegend Frauen, ältere Menschen und Kinder, da viele Männer in der Ukraine blieben. Seit August kommen zunehmend auch junge Männer zwischen 18 und 22 Jahren – teilweise zu ihren Familien, teilweise allein.
In Berlin treffen täglich zwischen 20 und 100 Menschen ein, derzeit eher steigend – also mindestens 150 bis 200 pro Woche, im Maximum 500 bis 700.
In den Medien gab es Berichte über schwierige Bedingungen in der Erstaufnahmeeinrichtung am Flughafen Tegel. Wie ist die aktuelle Situation in den Unterkünften? Gibt es langfristige Wohnstrategien, damit Geflüchtete nicht dauerhaft in Sammelunterkünften leben müssen?
Tegel ist eine Notunterkunft, konzipiert für maximal sechs bis acht Wochen, höchstens drei Monate. Tatsächlich leben dort nun seit über zwei Jahren immer noch mehr als 1.000 Menschen aus der Ukraine. Das ist ein großes Problem, weshalb der Senat die Einrichtung in der jetzigen Form zum 31. Dezember 2025 schließen und später mit einem neuen Konzept wieder eröffnen möchte.
Viele Geflüchtete kommen jedoch gar nicht erst nach Tegel, weil sie bei Verwandten oder Bekannten unterkommen oder mittlerweile Wohnungen finden. Oft ändert sich das jedoch nach einigen Monaten, wenn Gastgeber ihre Wohnungen wieder selbst benötigen. Dann treten Betroffene doch in das Unterbringungssystem ein.
Haben Sie Zahlen dazu, wie viele in Berlin lebende Ukrainerinnen und Ukrainer bereits eine Arbeit gefunden haben? Es gibt viele Klagen darüber, dass die Beschäftigungsquote in Deutschland sehr niedrig sei, oft aufgrund bürokratischer Hindernisse.
In Deutschland sagt man: Für manche ist das Glas halb voll, für andere halb leer. Bei der Arbeitsmarktintegration ukrainischer Geflüchteter trifft beides zu. 2022 haben wir vieles schneller gemacht als 2015/16, aber wir hatten zu wenig Vertrauen in die Selbstorganisation der Geflüchteten und der Zivilgesellschaft.
Man hätte vorhandene Räume – in Schulen, Vereinen oder Turnhallen – nutzen und geflüchteten Fachkräften wie Lehrerinnen oder Erzieherinnen ermöglichen können, gegen eine kleine Aufwandsentschädigung Kinder zu betreuen oder Unterricht anzubieten. Stattdessen wurde zunächst alles geprüft: Diplome, Berufserfahrung, Standards. Für viele Berufe gilt in Deutschland eine strenge Anerkennungspflicht – etwa für Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte, Lehrkräfte oder Handwerker. Das war ein Fehler.
Heute sehen wir, dass viele ihre ursprünglichen Berufe aufgegeben haben, weil der Anerkennungsprozess zu belastend ist. Ich kenne beispielsweise eine ausgebildete Zahnärztin, die jetzt als Zahnarzthelferin arbeitet. Aus gesellschaftlicher Sicht ist das schade, aber individuell nachvollziehbar: Sie ist integriert, spricht gut Deutsch und möchte kein langwieriges Anerkennungsverfahren mehr durchlaufen.
In vielen Dienstleistungsbereichen – Einzelhandel, Pflege, Gastronomie – trifft man heute häufig Ukrainerinnen.
Die aktuelle Beschäftigungsquote liegt bei etwa einem Drittel der Neuangekommenen – das sind rund 400.000 Arbeitskräfte. Ohne sie hätten wir erhebliche Probleme auf dem Arbeitsmarkt.
Rückblickend hätten wir vieles flexibler regeln müssen. Deutsche Bürokratie hat ihren Sinn – niemand möchte von jemandem operiert werden, dessen Qualifikation nicht geprüft ist –, aber in Krisensituationen braucht es andere Wege. Und obwohl Missbrauch nie ganz auszuschließen ist, war es ein Fehler, aus Angst davor manche Arbeitsbereiche zu stark zu reglementieren.
Wie bewerten Sie die Integration der Ukrainerinnen und Ukrainer in Berlin?
Viele Ukrainerinnen und Ukrainer, die bereits gut in Deutschland angekommen sind, wissen nicht, dass man nach fünf Jahren rechtmäßigen Aufenthalts die deutsche Staatsangehörigkeit beantragen kann. Dafür benötigt man allerdings eine bestimmte Aufenthaltserlaubnis. Die aktuelle reicht nicht aus – man braucht eine andere. Es genügt jedoch, wenn man die Voraussetzungen dafür erfüllt.
Um beim Beispiel zu bleiben: Die Zahnarzthelferin könnte im April 2027 sagen: „Ich weiß nicht, wie sich die Lage in meinem Land entwickelt. Vielleicht möchte ich irgendwann zurück. Aber zunächst werde ich Deutsche.“ Nach deutschem Einbürgerungsrecht kann sie gleichzeitig Ukrainerin bleiben. Mehrstaatigkeit ist zugelassen. Sie verliert also nichts.
Stellen wir uns eine Situation vor, in der sich die politischen Verhältnisse im eigenen Herkunftsland allmählich stabilisieren, auch wenn vieles noch unsicher bleibt. Wenn man zu diesem Zeitpunkt so gut integriert ist, dass man die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten kann – den Lebensunterhalt sichert, straffrei bleibt, die Sprache spricht –, dann bedeutet ein zweiter Pass keineswegs, für immer in Deutschland bleiben zu müssen. Im Gegenteil: Er schafft die Freiheit, jederzeit in die Heimat zurückzukehren, mit der Gewissheit, dass die Tür nach Europa offen bleibt.
Ein Bekannter hat es einmal sehr plastisch ausgedrückt: „Wenn ich zurück in mein Herkunftsland gehe, möchte ich jederzeit einfach zum Flughafen fahren, ein Ticket kaufen und meinen europäischen Pass vorzeigen können – ohne Visum, ohne Diskussion über Einreiserechte. Das ist Freiheit.“
Das Paradoxe daran ist: Gerade diese Sicherheit führt oft dazu, dass mehr Menschen den Schritt zurück in ihre Heimat wagen, weil sie wissen, dass sie jederzeit wieder nach Europa zurückkehren können. Das ist etwas ganz anderes, als ohne Rückfahrkarte aufzubrechen und zu wissen, dass man im Notfall vielleicht nicht mehr fortkommt.
Ich finde eine Frage besonders spannend. Ich beschäftige mich seit Jahrzehnten mit Migration. Der wirklich interessante Prozess wird beginnen, wenn sich – hoffentlich eher früher als später – die Verhältnisse in der Ukraine stabilisieren, ein Waffenstillstand kommt und all die Dinge eintreten, auf die wir hoffen. Dann werden Familien miteinander diskutieren, und die Familie steht vor einer Wahl: Der Mann, der noch in der Ukraine lebt, kann sagen: „Ich möchte mit meiner Familie zusammenleben“ und kommt nach Deutschland. Oder die Ehefrau sagt: „Ich verstehe, dass du nicht weg willst oder nicht weg kannst – dann komme ich zurück.“ Und die Kinder, die schon ganz erwachsen sind, bleiben hier. Oder – was leider auch passiert – die Familie trennt sich. Das ist tragisch, aber real.
In der Migrationsforschung hat man festgestellt – auch innerhalb der EU –, dass der entscheidende Punkt dauerhaft in einem neuen Land nach einer Einwanderung zu leben nicht Job, Sprache oder Ausbildung ist, sondern die Gründung einer neuen Familie. Der Integrationsanker ist weniger der Beruf als die Familie.
Wie viele Menschen würden Ihrer Meinung nach in Deutschland bleiben wollen?
Ehrlich gesagt, das ist schwer einzuschätzen. Niemand kann das derzeit sicher beurteilen. Vergleichbar ist vielleicht die Situation nach den Jugoslawienkriegen. Als dort Frieden einkehrte, kehrte ungefähr die Hälfte der Geflüchteten zurück – die andere blieb.
Je nach Entwicklung halte ich es für realistisch, dass etwa die Hälfte der Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland bleiben könnte.
Zur Einbürgerung: Wer Bürgergeld bezieht und nicht arbeitet, kann nicht mit Einbürgerung aber rechnen…
Wer bis dahin nicht wirtschaftlich selbstständig ist oder strafrechtlich auffällt, hat weder eine Chance auf Einbürgerung noch auf einen dauerhaften Aufenthalt.
Deshalb kann ich nur alle motivieren, die bleiben wollen: sich zu integrieren, Deutsch zu lernen, Arbeit zu suchen und die Regeln einzuhalten. Dann hat man sehr gute Perspektiven in Europa.
Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag festgelegt, dass neu einreisende Menschen künftig reduzierte Leistungen bekommen sollen.
Das Gesetz gibt es noch nicht, aber es ist in Arbeit. Es hängt mit Ressourcen und gesellschaftlicher Akzeptanz zusammen. Derzeit gilt: Alle, die jetzt kommen, erhalten aktuell dieselben Leistungen wie im Vorjahr, da das Gesetz noch nicht in Kraft ist.
Eine rückwirkende Kürzung wäre möglich, aber wohl nicht so, dass Menschen Geld zurückzahlen müssten. Was genau im Gesetz stehen wird, entscheidet der Bundestag. Wann es kommt und ob es rückwirkend gelten wird, ist derzeit offen.
Was erwartet ukrainische Geflüchtete nach März 2026, wenn die EU-Regelung möglicherweise ausläuft?
Die aktuelle EU-Entscheidung gilt bis März 2027. Das ist noch anderthalb Jahre entfernt. Niemand weiß, was bis dahin geschieht.
Was meiner Einschätzung nach nicht passieren wird: dass 2027 ernsthaft darüber diskutiert wird, 1,3 Millionen Menschen innerhalb kurzer Zeit und ohne Ausnahmen zurückzuschicken. Das wird in Deutschland sicher nicht passieren – egal, wie sich die politische Lage entwickelt. Und selbst wenn jemand so etwas fordern würde – was derzeit nicht der Fall ist –, wäre die praktische Umsetzung unmöglich.
Offen bleibt, welchen Aufenthaltsstatus Geflüchtete künftig bekommen und welche Integrationschancen sie haben werden. Wir hatten in Deutschland noch nie eine Situation, in der so viele Menschen aus einem uns kulturell nahen Staat in so kurzer Zeit eingewandert sind.
Neu ist auch, dass diesmal überwiegend Frauen mittleren Alters mit Berufserfahrung und Kindern gekommen sind – und die Männer nicht. Normalerweise ist es umgekehrt.
Spüren Sie prorussische Netzwerke, die Desinformation über Geflüchtete verbreiten?
Wir sehen selbstverständlich Versuche autokratischer Staaten, Einfluss auf die öffentliche Meinung in Deutschland und Europa zu nehmen. Das ist aus öffentlich zugänglichen Informationen ersichtlich, etwa wenn der Präsident des Bundesnachrichtendienstes öffentlich davor warnt. Dann gibt es dafür belastbare Hinweise.
Für ein Land wie Deutschland, das seit Jahrzehnten Frieden, Pluralismus und Meinungsfreiheit kennt, ist es schwierig zu begreifen, dass Informationen in sozialen Medien gezielt manipulativ verbreitet werden – nicht zur Information, sondern zur Desinformation.
Was hat Sie emotional am meisten berührt, seit ukrainische Geflüchtete nach Berlin kommen?
Ich war einmal bei einem Verein namens „Panda“. Dort traf ich auf eine Gruppe älterer ukrainischer Frauen, die man liebevoll „Babushkas“ nannte. Einige trugen Kopftücher wie meine Großmutter früher. Bei einem Konzert einer ukrainischen Popsängerin tanzten sie – zuerst zögerlich, dann frei und voller Freude. Das hat mich tief berührt. Es zeigt, wie sehr Menschen ankommen, wie sie Gemeinschaft finden und wie Humanität entsteht. Ich finde das sehr schön.
Was mich auch besonders berührt hat: In dieser Stadt gibt es Menschen, die russische Wurzeln haben, – nicht „sowjetisch“, sondern klar russisch. Und gerade diese Menschen haben 2022 und 2023 gesagt: „Genau deshalb engagiere ich mich jetzt in der Flüchtlingshilfe für Ukrainerinnen und Ukrainer.“
Olga Tanasiichuk