Oleksandra Matwijtschuk, Menschenrechtlerin

Die Liste der politischen Gefangenen wird immer länger, so lange ukrainische Gebiete von Russland besetzt sind

Im August kündigte der Leiter des Büros von Präsident Andrij Jermak Pläne für die gegenseitige Freilassung von Gefangenen zwischen der Ukraine und Russland im Format "100 pro 100" an. Dies ist jedoch nicht erfolgt. Von ukrainischer Seite äußert man sich nicht zum Fortgang der Verhandlungen, um diesen nicht zu schaden. Menschenrechtsaktivisten hoffen auf ein Neujahrs- und Weihnachtswunder.

Eine Koalition von NGOs, die sich für die Freilassung von Kreml-Häftlingen einsetzt, spricht von mindestens 103 ukrainischen Bürger, die von Russland illegal auf der Krim und auf ihrem Territorium festgehalten wurden. Der Sicherheitsdienst der Ukraine berichtet von 251 Geiseln im Osten des Landes.

Am 17. Dezember wurde bekannt, dass erneut Verhandlungen über die Befreiung der Geiseln gescheitert sind. Warum hat Russland politische Gefangene und was getan werden sollte, damit es keine neuen Gefangenen gibt – darüber sprachen wir mit Oleksandra Matwijtschuk, der Vorsitzenden des Vorstands des Zentrums für bürgerliche Freiheiten, Gewinnerin des OSZE-Demokratieverteidigerinpreises 2016, Initiatorin von #Prisoners Voice und #LetMyPeopleGo Kampagnen für die Freilassung ukrainischer politischer Gefangener.

Gibt es eine Hoffnung auf eine Freilassung bis Ende des Jahres?

Es gibt keine Gewissheit. Die Verhandlungen laufen nach einem Schema ab, und es sieht so aus, als würden sie feststecken.  Die Verhandlungen gehen jedoch weiter. Ich hoffe, dass die humanistischen Anfänge weiter Funken schlagen und die Befreiung im Dezember stattfinden wird. Aber es wird nicht im Format "100 pro 100" sein, wie Andrij Jermak im Sommer versprach.

Wer sind diese Menschen, die Russland illegal festhält?

Unter dem Begriff Kreml-Geiseln verstehen wir mehrere Gruppen von Menschen. Die erste Gruppe wird aus politischen Gründen in offiziellen Gefängnissen auf dem Territorium der Russischen Föderation oder auf der besetzten Krim inhaftiert.

Russland beansprucht, dass sie seiner Gerichtsbarkeit unterliegen. Wir haben unter anderem die Bestätigung, dass die Strafverfahren gegen diese Menschen politisch motiviert sind.

Die zweite Gruppe sind die Menschen, die im besetzten Donbass illegal der Freiheit beraubt wurden. Sie haben einen anderen Status. Wenn sie Militärpersonen sind, sind sie Kriegsgefangene. Zivilisten werden als zivile Geiseln bezeichnet. Russische Seite bestreitet vehement, Einfluss auf das Schicksal dieser Menschen zu nehmen. Obwohl sie sich völkerrechtlich leiten lässt, ist es offensichtlich, dass die Russische Föderation die tatsächliche Kontrolle über den Donbass ausübt und daher für alle dortige Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist.

Ich würde noch eine dritte Gruppe erwähnen: die 5,5 Millionen Ukrainer, die in den besetzten Gebieten der Krim und des Donbass leben. Sie sind auch eine Art von Geiseln, weil sie keine Chance haben, sich davor zu schützen, in die erste oder zweite Kategorie zu fallen.

Welche Ziele verfolgt Russland mit dem Drangsalieren auf seinem Territorium, in der Ostukraine und auf der Krim?

Russland will mindestens drei Ziele erreichen. Erstens nutzt die Russische Föderation solche Bürger der Ukraine für einen Informationskrieg. Es ist für das russische Fernsehen notwendig, regelmäßig so genannte ukrainische Spione und Saboteure zu präsentieren und Krimtataren als Terroristen und Extremisten darzustellen. Russland befindet sich seit sieben Jahren im Krieg mit der Ukraine und muss das feindliche Image konsequent darstellen und aufrecht erhalten.

Das zweite Ziel liegt in der Methode der Kriegsführung. Ich erinnere Sie daran, dass es im Jahr 2014 Menschen gab, die gewaltlosen Widerstand gegen die Besatzung leisteten, so wie den inhaftierten Filmemacher Oleg Sentsov, den ermordeten Krimtatar Reschat Ametow auf der Krim sowie den Horliwka-Abgeordneten Wolodymyr Rybak, der versuchte, die ukrainische Flagge an den Stadtrat zurückzugeben, und der dann mit zerfleischtem Bauch im Fluss gefunden wurde.

Diese Methode der Kriegsführung zielt darauf ab, außerhalb dieser Gebiete eine aktive Minderheit zu zerstören und zu vertreiben, sowie die passive Mehrheit einzuschüchtern. Auf diese Weise kann man schnell die Kontrolle über die Region gewinnen. Aber das Territorium muss auch erhalten bleiben, und deshalb werden diese politischen Verfolgungen weitergehen.

Schauen wir uns die Krim an. Dort verfolgt die Russland eine Politik der beschleunigten Umwandlung des ehemaligen Resorts in eine mächtige Militärbasis. Da sieht man, was sich aus der wachsenden Zahl von Militärkontingenten, militärischer Ausrüstung, der Anordnung bestimmter Orte für eine mögliche Lagerung von Atomwaffen ergibt.

Um diesen Wandel zu vollziehen, verfolgt Russische Föderation auf der Krim bewusst zwei politische Strategien. Erstens: der Austausch der Bevölkerung. Sie benötigen loyale Bewohner in und um die Militärbasis.

Seit mehreren Jahren gibt es eine Reihe von Programmen für die Umsiedlung von russischen Bürgern aus verschiedenen seiner Regionen auf die Halbinsel. Zuallererst geht es um Militärs, ehemalige Richter, ehemalige Geheimdienstler und deren Familien. In der Tat steigt die Zahl der Bewohner ständig. Russland verursacht allmähliche Veränderungen in der demografischen Zusammensetzung der Bevölkerung, was völkerrechtlich verboten ist.

Gleichzeitig übt die Russische Föderation absichtliche Repressionen gegen die illoyale und potenziell illoyale Bevölkerung aus. Mit den Inhaftierungen sollen Andersdenkende zum Verlassen der Halbinsel animiert werden.

Die Verfolgungen enden nicht von allein, weil sie mit Russlands Vision verbunden sind, die besetzte Krim in eine Militärbasis umzuwandeln.

Das dritte Ziel ist, politische Zugeständnisse von Kyjiw zu erreichen. Während der Verhandlungen sehen wir ständig politische Forderungen: wir lassen Menschen frei, wenn ihr die ukrainische Verfassung ändert, Wahlen im Donbass abhaltet, Wasser über den Nord-Krim-Kanal zur Krim gebt, eine totale Amnestie von Kriegsverbrechern billigt.

Der Kreml benutzt Menschen für Verhandlungen. Dabei ist es wichtig, zu verstehen, dass Russland, selbst wenn es heute alle unsere Listen hernimmt und alle Menschen aus unseren Listen freilässt, schon morgen doppelt oder dreimal so viele Bürger verhaften kann.

Die Crimean Human Rights Group weist Behauptungen ausländischer Medien zurück, dass sich die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine nach einem großen Austausch Ende 2019 etwas abgeschwächt hätten. Seitdem hat Russland 28 ukrainische Bürger illegal festgenommen. Damit ist die Gesamtzahl auf mindestens 103 Personen gestiegen. Wie viele Menschen aus den sogenannten Donjezk und Luhans'k Volksrepubliken sind inhaftiert? Und wie hoch ist die Zahl der neuen Gefangenen 2020?

Die Listen werden ständig länger. Laut jüngster Daten des ukrainischen Geheimdienstes um aktuell 251 Geiseln. Aber ich bin überzeugt, dass dies nur die Spitze des Eisbergs ist. Nach unseren Informationen gibt es erheblich mehr Gefangene, aber da die SBU-Liste der Öffentlichkeit unzugänglich ist, können wir deren Liste nicht mit unserer vergleichen.

Solange die Krim und der Donbass besetzt sind, wird es ständig neue Fälle von Entführungen und illegalen Verhaftungen geben. Das bedeutet, dass die Strategien der Ukraine und der internationalen Gemeinschaft zur Beilegung dieses bewaffneten Konflikts nicht nur auf die heutigen Gefangenen, sondern auch auf künftige Gefangene ausgerichtet sein sollten.

Als Reaktion auf die Kritik über die politische Verfolgung auf der Krim sagen russische Politiker, insbesonders in PACE, dass Russland Terroristen verfolgt, unter anderem die in ihrem Land verbotene religiöse Organisation “Hizb-ut Tahrir”. Auch in Deutschland ist diese Organisation verboten. Der deutsche Bundesverfassungsschutz weist darauf hin, dass diese Organisation die Existenz Israels verneine und zur Vernichtung der Juden aufgerufen habe. Warum betrachten ukrainische und russische Menschenrechtsverteidiger die Hizb-ut Tahrir Fälle als politische Verfolgung?

Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Russland diese Menschen in Informationskriegen einsetzt und sie quasi etikettiert.

Erstens gibt es im Strafverfahren keine Beweise dafür, dass diese Personen zu Hizb-ut Tahrir gehören. Nehmen wir den anschaulichen Fall von Emir-Ussein Kuku, den Amnesty International als Gewissensgefangenen anerkannt hat.

Er war ein Menschenrechtsaktivist der Krimkontaktgruppe für Menschenrechte, der Familien von Vermissten während der Besatzung auf der Halbinsel beraten und ihre Interessen vertreten hat.

Er wurde vom FSB entführt, geschlagen, verhört und aufgefordert, die Menschenrechtsaktivitäten einzustellen.

Das erste Strafverfahren wurde wegen Anstiftung zu internationaler Feindseligkeit eröffnet, angeblich wegen eines Posts im sozialen Netzwerk. Und dann, nachdem sie versucht hatten, verschiedene Artikel des Strafgesetzbuches anzuwenden, hat FSB ihn der Teilnahme an Hizb ut Tahrir beschuldigt. Es gibt keine Beweise dafür, dass Emir-Ussein Kuku zu dieser Organisation gehört, aber dies wird als Tatsache dargestellt und er wurde zu einer realen Gefängnisstrafe verurteilt.

Russland drangsaliert Menschenrechtsverteidiger, Aktivisten und Journalisten der Zivilgesellschaft, die angesichts der unterdrückten Meinungsfreiheit auf der Halbinsel dortige Repressionen belegen können.

Vom 27. bis 28. März letzten Jahres nahm der russische Geheimdienst 24 Krimtataren fest. 17 davon waren Aktivisten der Bürgerinitiative “Krimsolidarität”, die Gefängnis-Lieferungen für politische Gefangene durchführten, sie in den Gerichten unterstützten, Informationen über Verfolgung verbreiteten und sich um die Angehörigen der Gefangenen kümmerten.

Dies ist der einfachste Weg, um Andersdenkende zu massakrieren. Man muss nur die neuesten Dissidenten als Terroristen und Extremisten bezeichnen und dies auf internationaler Ebene artikulieren. Für Russland ist es dadurch einfacher, sein Handeln zu erklären. Damit diskreditiert die Russische Föderation den Kampf gegen den Terrorismus als ein wirklich gefährliches Phänomen in der Welt.

Darüber hinaus handelt Hizb ut Tahrir in der Ukraine legal. Über die Jahre hinweg gab es keine gewalttätigen Aufrufe oder Taten in der Ukraine. Ähnlich sieht es in Russland selbst aus - nach der Schlussfolgerung des russischen Menschenrechtszentrums "Memorial", das sich dafür einsetzt, Hizb-ut-Tahrir von der Liste terroristischer Organisationen auszuschließen.

Außerdem, auch wenn ein Mensch Hizb-ut Tahrir angehört, so ist die Krim das Territorium der Ukraine. Dem Besatzerstaat ist es völkerrechtlich verboten, seine Ordnungen und Gesetze in dem besetzten Gebiet festzulegen.

In den sieben Jahren des russisch-ukrainischen Krieges gab es mehr Freilassungen im Osten der Ukraine als auf der Krim. Warum das?

Die illegal Inhaftierten im Donbass können in der Trilateralen Kontaktgruppe in Minsk zur Sprache gebracht werden. Was die politischen Gefangenen auf der Krim betrifft, so existiert die entsprechende Plattform einfach nicht. Und wo man über sie reden kann, bleibt unverständlich.

Sie haben persönlich die Aussagen von Gefangenen im Osten der Ukraine für den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) dokumentiert. Welche schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen sind das, die sie registriert haben?

Wir sprechen über eine groß angelegte und organisierte Praxis illegaler Entführungen, Folter, Zwangsarbeit und außergerichtliche Hinrichtungen. Das ist eine bewusste Politik, so ist es tatsächlich ein dauerndes Kriegsverbrechen.

Ich habe mehr als hundert Überlebende aus der Gefangenschaft interviewt. Die Leute erzählten mir, sie seien geschlagen, vergewaltigt, in Holzkisten geschlachtet worden. Mir wurde erzählt, wie sie sich die Finger abgeschnitten hatten, wie man ihnen eine Flasche in das Analloch gesteckt und mit einem Beintritt zertrümmert hat, als sie Strom durch die Genitalien führten. Eine Frau erzählte über Versuche der Augenentfernung mit einem Löffel.

Diese Geschichten klingen wild, wenn man bedenkt, dass heute im 21. Jahrhundert in Europa Kriegsverbrechen  passieren. In diesem Moment, in dem wir dieses Interview durchfrühren, werden Menschen im Geheimgefängnis namens "Isolation" auf dem Territorium der Militärbasis gefoltert. Und die meisten von denen, die dort festgehalten werden, sind Zivilisten.

Vor Kurzem kündigte die Anklägerin des IStGH ihre Entscheidung an, bei den Richtern des IStGH die Erlaubnis zur Durchführung einer vollständigen Untersuchung zu beantragen, weil sie die Begehung von Kriegsverbrechen in diesen Gebieten sieht.

Im August 2018 nahm eine von Russland unterstützte Gruppierung Olena Pech fest, die Deutsch -Russisch und Literatur an der Horliwka-Schule und Fachhochschule unterrichtete, sowie im Kunstmuseum arbeitete. Was ist über sie bekannt? Wo wird sie festgehalten?

Olena Pech ist eine Kunstkritikerin. Vor ihrer Gefangennahme arbeitete sie in einem Museum. Sie ist Jüdin und trug einen Davidstern. Im Gefängnis wurde die Frau aus religiösen Gründen dauerhaft gedemütigt. Die Militanten nannten sie eine "zhidowka". Am Ende schnitt ihr die militärische Superintendentin diesen Davidstern mit einem Messer aus dem Hals, obwohl sie flehte, dies nicht zu tun, denn der Glauben und die Symbole bedeuten ihr viel. Es verursachte ihr zusätzliches Leid.

Olena wurde sehr gewalttätig gefoltert. Sie schnitt sich sogar die Pulsadern auf, um diese Folterungen zu stoppen. Glücklicherweise überlebte sie.

Die Frau wurde oft mit Strom gefoltert, daher verspürt sie nun ständig starke Schmerzen in den Beinen, die nicht geheilt werden können.

Nach der Stromfolter wurde sie mit kaltem Wasser übergossen, was einmal einen Anfall von Epilepsie hervorrief, über den die Peiniger lachten. Als die Frau um Hilfe bat, erwiderten sie ihr: "Alles ok, wir werden dich heilen".

 

Am 27. März 2020 verurteilte ein "Gericht" sie zu 13 Jahren Haft, angeblich wegen "Verrat an der Heimat". Damit meine ich diese künstlich von Russland geschaffene "Donezk Volksrepublik". Jetzt ist sie in einer Frauenstrafkolonie in Snizhne.

Worin lag ihr Verrat, nach der Meinung von “DNR”?

Bitte suchen Sie nicht nach rationaler Rechtfertigung. Wenn ich die Opfer, die aus der Gefangenschaft freigelassen worden sind, interviewe, stelle ich definitiv die Frage über die Gründe der Inhaftierung. Ich kam zu dem entsetzlichen Schluss, dass es keinen Handlungsalgorithmus dafür gibt, wie man sich verhalten sollte, um ein solches Schicksal zu vermeiden.

Die Leute erzählten mir, sie seien festgenommen worden, weil sie die Straße vor einem Auto überquerten, in dem ein Vertreter einer illegal bewaffneten Gruppierung saß, der sich dadurch angegriffen fühlte. Sei es, dass sie Fotos von einem Café machten und es erschien jemandem verdächtig. Oder sie haben zu verbrannte Haut -  was für eine Gemeinheit. Oder sie befanden sich einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.

Warum habe ich als dritte Gruppe von Geiseln über all jene gesprochen, die in diesen Gebieten leben? Weil es keinen rechtlichen Mechanismus gibt, um sich zu schützen. Man kann ein Porträt von Putin zu Hause haben und für ihn beten. Aber es wird nicht vor der Tatsache schützen, dass man früher oder später in Haft gerät.

Ich möchte die jüdische Gemeinde auffordern, Olena Pech zu befreien. Sie ist doppelt gestraft. Sie wird nicht nur der Untreue und der pro-ukrainischen Ansichten beschuldigt, sondern leidet zusätzlich darunter, dass sie Jüdin ist.

Nach der Krim–Annexion beobachtete die Ukraine Deutschlands politischen Willen zu Start und Fertigstellung des Nord Stream 2 Projektes. Auf der anderen Seite setzt die EU die Sanktionen gegen Russland wegen seiner Aggression in der Ukraine fort. Wie wirksam sind Solidaritätsaktionen Deutschlands und der EU und wie wünschen Sie sich, wie sie reagieren sollen?

Sie sind ineffizient, weil der Westen keine Strategie für Russland hat. Sie handeln reaktiv. Skripals wurden vergiftet – eine Art der Reaktion, Nawalny wurde vergiftet – es folgt die Reaktion, ein Hackerangriff wurde durchgeführt - man diskutiert die Ausweitung der Sanktionen. Man braucht eine Strategie. Sie kann kritisiert und verbessert werden. Aber wenn es überhaupt keine Strategie gibt und alles auf Postreaktionen aufgebaut ist, ist es der Weg ins Nirgendwo. Und der Kreml genießt und nutzt es.

Deutschland führt nun den EU-Vorsitz und unterstützt die Schaffung eines globalen EU-Mechanismus, der Schuldtragende wegen Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft ziehen soll. Auf der anderen Seite baut Deutschland und andere Länder mit Russland als Menschenrechtsverletzer Pipeline Nord Stream 2 weiter. Das ist wiedersprüchlich, eine Bewegung in Gegenrichtungen.

Es scheint mir, dass die Fertigstellung von Nord Stream 2 eine strategische Fehleinschätzung Deutschlands ist. Dort mögen politische Kreise denken, dass sie durch die Bindung Russlands an Handelsbeziehungen Sicherheitsgarantien für das Land schaffen. Aber wir haben bereits gesehen, dass diese EU-Politik bisher scheiterte.

Vor kurzem haben Sie beim IStGH einen Antrag auf politische Verfolgung gestellt. Was genau wollten Sie dem Gericht in Den Haag beweisen?

Eine unserer zuerst erhaltenen Informationen bezog sich auf Kriegsverbrechen in Form von Folter, sexueller Gewalt und außergerichtlichen Hinrichtungen, die an illegalen Haftorten in der Ostukraine stattfinden.

Der jüngste informelle Bericht betraf die Krim, in der wir dem Büro der Anklägerin des IStGH's Beweise vorgelegt haben, wie Russland die politische Verfolgung nutzt, um die Kontrolle über die vorübergehend besetzte Krim zu erhalten und welchen Platz die politische Verfolgung in der Strategie der Russischen Föderation einnimmt, die Halbinsel in eine Militärbasis umzuwandeln.

Russland betrachtet die gesamte Bevölkerung der Krim als illoyal, weil sie unter ukrainischer Gerichtsbarkeit gelebt hatte, wo es Freiheiten gab. 

Und die Russen, die auf die Halbinsel kamen, präsentierten sich anders, als wie man auf den Bildschirmen des Fernsehen sah.

Bereits 2015 sahen wir, wie manche Krimbewohner mit Porträts Putins zu Protesten aufbrachen, die von der Polizei zerstreut wurden. Sie konnten nichts Unrechtmäßiges vermuten, weil nichts mit dem Propagandabild im Fernsehen korrelierte.

Für die neue Vorlage beim IStGH interviewten wir Kreml-Häftlinge, die aus russischer Gefangenschaft kamen, gaben Aussagen von Anwälten und Verwandten von Häftlingen über die Praxis von erfundenen Gerichtsfällen, aber auch Folter und Misshandlung wider.

Wir begrüßen die Schlussfolgerung der Anklägerin des IStGH Fatou Bensouda, die vorschlägt, eine Untersuchung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf der besetzten Krim einzuleiten.

Die russische Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa stellt in ihrem Jahresbericht fest, dass die Zahl der Menschenrechtsverletzungen auf der Krim zurückgegangen ist. Haben ukrainische Menschenrechtsverteidiger an sie appelliert, die Praxis der Menschenrechtsverletzungen beenden zu helfen?

Die Kriterien für die Unabhängigkeit dieser nationalen Institution zum Schutz der Menschenrechte, die in den Pariser Grundsätzen der Vereinten Nationen verankert sind, werden von dieser russischen Beauftragten für Menschenrechte nicht erfüllt.

Sie ist völlig von der Verwaltung des Präsidenten der Russischen Föderation abhängig. Sie hat einen interessanten militärischen Hintergrund, bevor sie zur Hauptbeschützerin der Menschenrechte in Russland ernannt wurde.

Diese Institution ist eine Art Simulacrum, so wie die Gerichte in Russland. Jeder weiß, dass der Fall politisch wird, dann ist die Entscheidung bereits vor Prozessbeginn klar. Ihre Worte sollten nicht berücksichtigt werden.

Aber wir appellieren an unsere Kollegen – russische Menschenrechtsverteidiger, die sich wiederum an Moskalkowa oder andere russische staatliche Behörden wenden, die Rechte der ukrainischen Bürger zu schützen. 

Manchmal funktioniert es. Zum Beispiel, als ein ukrainischer politischer Gefangener in eine Zelle zu einem Patienten mit einer offenen Form von Tuberkulose gelegt wurde, was nach russischem Recht verboten ist, reagierte Moskalkowa.

Im Großen und Ganzen handelt es sich um einen Dialog zwischen russischen und ukrainischen Menschenrechtsverteidigern. Gegenseitige Initiativen während des andauernden Krieges zwischen den Ländern selbst sind sehr wichtig.

Ist die Ukraine selbst stark genug, um Anstrengungen zum Schutz politischer Gefangener zu unternehmen?

Die Ukraine hat keine Strategie zur Freilassung der festgehaltenen Bürger. Wenn ich die Handlungen der staatlichen Behörden analysiere, habe ich den Eindruck, dass sie ihre Aufgabe auf die Freilassung von Gefangenen beschränkt haben. Sie sollten aber an diejenigen denken, die morgen verhaftet werden und entsprechende Strategien aufbauen. 

Dann wird deutlich, dass es wichtig ist, strategische Veränderungen zu erreichen – freier Zugang zu Gefangenen für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, Schließung des Geheimgefängnisses "Isolation" auf dem Territorium der Militärbasis, sowie regelmäßige Termine mit Verwandten usw. 

Über sieben Jahren hinweg hat sich die Situation strategisch nicht geändert. Wir alle leiden jetzt unter den Folgen der Pandemie, aber stellen Sie sich nur die Situation im Donbass vor, wo die Gefangenen überhaupt keine medizinische Versorgung haben. Im jüngsten Bericht des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte bezeugen ehemalige Gefangene, dass sie während der gesamten Zeit der Gefangenschaft nur einmal einen Arzt gesehen haben, als er eine Injektion verabreichte, um sie wieder zum Leben zu erwecken, damit die Folter an ihnen weitergehen konnte.

In Gefangenschaft befinden sich aktuell Menschen mit gebrochener Wirbelsäule, teilweise gelähmt nach Folter, mit Verdacht auf onkologische Erkrankungen. Selbst die Vereinbarung über den Zugang von Ärzten und den reibungslosen Transfer von Arzneimitteln ist für sie eine große Last.

Es ist es sehr wichtig, strategische Veränderungen in der Situation als Ganzes zu erreichen, damit inhaftierte Menschen eine Chance haben, bis zur Zeit der Freilassung zu überleben.

Aufgenomen von Mykola Mirnyj, ZMINA Korrespondent speziell für Ukrinform.