Meri Akopjan, Vize-Innenministerin

Dank der Hilfe von Partnern überwintern mehr Ukrainer zu Hause, ohne in Europa nach einem warmen Winter zu suchen

Der Sicherheits- und Verteidigungssektor der Ukraine hat in den letzten acht Monaten ein kolossales Hilfspaket unserer Verbündeten erhalten. Dabei sind dies nicht nur Ausrüstung, Waffen, warme Kleidung und Generatoren, sondern auch die Solidarität von Millionen Bürger in Dutzenden Ländern, die sich der Anti-Putin-Koalition angeschlossen haben.

Über den Beitrag unserer ausländischen Freunde zur Stärkung der Möglichkeiten des Innenministeriums sprachen wir mit Meri Akopjan, der stellvertretenden Innenministerin der Ukraine.

Wir treten aus dem „langen Schatten“ der Minderheit in die Kategorie eines vollwertigen Akteurs auf der internationalen Arena

Natürlich wäre es dem nationalen Sicherheits- und Verteidigungssektor äußerst schwierig, und manchmal unmöglich, den Schlag so hochwertig zu halten, wie wir das jetzt sehen, ohne Hilfe internationaler Partner. Es ist wichtig, dass diese Geschichte der Unterstützung eine lange und schwierige Entwicklung durchgemacht hat. Stimmen Sie der These zu, dass die Standhaftigkeit der Ukraine der demokratischen Welt geholfen hat, eine andere Sicherheitsarchitektur aufzubauen?

Das Ausmaß der Herausforderungen seit dem 24. Februar ist beispiellos. Aber die ukrainische Standhaftigkeit, ihre Dauer und Qualität bewiesen, dass die Ukraine der Architekt der gesamteuropäischen und sogar der weltweiten Sicherheit ist. Eben sie ist es, die als Mentorin und Anführerin ihres neuen Paradigmas fungieren sollte. Es scheint, dass Partner dies sowohl privat als auch ganz offiziell anerkennen. Wir erleben diese globale Transformation.

Bis vor kurzem herrschte die Narrative, dass Europa und die Welt vorne seien und die Ukraine nach ihrem Muster lernen und weiterentwickeln und um Hilfe bitten müsse. Die gegenwärtige Situation, nach 270 Tagen seit der groß angelegten Invasion der Russischen Föderation, hat deutlich gezeigt, dass niemand auf der Welt mit dem fertig geworden wäre, was die Ukraine bewältigt hat. Niemand hat ein solches Maß an Mobilisierung und Selbstorganisation, wie wir es haben, um so professionell und schnell die gesamte Sicherheitskomponente zu reformieren, wie wir es geschafft haben - nur wenige Stunden nach dem Angriff der Russischen Föderation! Schon jetzt sind unsere Partner bereit, von der Ukraine zu lernen, wie man in Krisenzeiten handelt.

Viele Institutionen des globalen Gleichgewichts waren meinetwegen in einer Art aktiver Lethargie, und wussten nicht, konnten nicht adäquat schnell auf Putins Aggression reagieren, die tatsächlich viel früher begann. Die Welt stürzte sich in Mythen wie beispielsweise ungeprüfte Vorstellung  über die  russische Militärmacht einerseits und die offensichtliche Schwäche der westlichen Länder vor der Ressourcenabhängigkeit von der Russischen Föderation und die Zurückhaltung, unverhohlene Aggression des Kreml zu stoppen, andererseits.

Tatsächlich gelang es der Ukraine, diese Schablone zu zerstören, historische Unabhängigkeit und Staatlichkeit zu beweisen, unabhängig von jedem russischen Projekt. Wir treten aus dem „langen Schatten“ der Minderheit in die Kategorie eines vollwertigen Akteurs auf der internationalen Arena, indem wir neue Zusammenhänge für die Sicherheit und wirtschaftliche Entwicklung der ganzen Region generieren. Eben jetzt ist die Schaffung eines neuen Gleichgewichts der Mächte auf der Welt im Gange - und wir sind wichtige Teilnehmer daran, da das bisherige Gleichgewicht zusammengebrochen ist.

Ist aber auch die NATO gezwungen, die grundlegenden Protokolle und Algorithmen zu revidieren, da der Krieg in der Ukraine für sie zu einer plötzlichen und nicht ganz angenehmen Revision geworden ist?

Absolut. Die Allianz versteht bereits die Dringlichkeit einer internen Umstrukturierung. Russland hat damit gerechnet, dass wir als ein Partner außerhalb der NATO eine so mächtige substanzielle und praktische Solidarität nicht erhalten werden. Aber wir haben starke Unterstützung im Kampf für gemeinsame Werte. Das Hauptergebnis dieser Geschichte ist, dass kein Land in Zukunft die völlige Abhängigkeit von einem Akteur – in politischer Hinsicht oder bezüglich Ressourcen - zulassen wird. Meines Erachtens ist eben dies eine Priorität in der heutigen Lage in Zentralasien, in Ost- und Mitteleuropa, in den Beziehungen zwischen Europa und China, zwischen Amerika und Europa. Und eine grundlegende Strategie sollte die vollständige Unabhängigkeit und gleichmäßige Partnerschaft mit vielen Akteuren unter Berücksichtigung unserer nationalen Interessen sein.

Die Ukraine ist eine Art Übungsplatz in der Technologieentwicklung zur Verhinderung verschiedener Risiken - militärischer, wirtschaftlicher, ökologischer, sozialer. Was ist die Rolle des Rechtsschutzorgans in diesem Labor, was wir hier für uns und die Welt Nützliches erzeugen können?

Wir verstehen, dass wir alle bisher existierenden Strategien revidieren müssen, um die Funktionalität der Komponenten des Innenministeriums wieder aufzubauen. Wir haben vorher nicht viele wirklich wichtige Dinge vorhergesehen, weil wir uns nicht vorgestellt haben, dass es einen solchen Bedarf geben würde. So wurde zum Beispiel in der normativen Basis der Nationalgarde nichts über Einheiten für Minenräumung gesagt. Und wir haben es schnell gesetzlich geregelt. Im Laufe des Krieges gibt es Dutzende solcher „Korrekturen“. Diese Arbeit geht weiter.

Und in der Tat wurden in der Ukraine, als ob auf einem Übungsplatz, eine große Anzahl von bisher unbekannten Instrumenten, neue Waffen, Ausrüstung und Taktik bereits getestet. Am Beispiel der Situation um das Atomkraftwerk Saporishshja, die die ganze Welt belastet, haben wir jedoch erkannt, dass die bisherigen Erfahrungen bezüglich der Beseitigung von Folgen der Katastrophe von Tschernobyl wieder als Modell und Szenario einer völlig nicht musealen Bedeutung erscheinen, auf die man sich vorbereiten muss und Partner in die Zusammenarbeit einbeziehen.

„Es schien, dass wenn man mindestens einen Anruf verpasst, dann kann man das Land verlieren“

Wie war die Suche nach Spender- und Partnerressourcen, wie sie aufgebaut wurde - vom Chaos bis zum System. Und was ist seine Grundlage geworden?

Ich habe das Gefühl, dass diese acht Monate als acht Jahre vergangen sind... Und vom Chaos zum System gingen wir wirklich über sechs Monate. Wenn ich mental und emotional in diese Zeit zurückkehre, erinnere ich mich zunächst an die verrückte Welle innerlicher Mobilisation...

Am 24. Februar, um 05:00 Uhr arbeitete ich bereits in meinem Büro. Der erste Gedanke war, womit zu beginnen, was zu tun. Eine Zeitlang gab es keine Antwort auf diese Frage. Als ob „wachte“ feindlicher  Treffer auf eines der großen Lagerhäuser in der Region Kyjiw, wo  ein erheblicher Teil unserer militärischen Ausrüstung und Munition gelagert wurde. Ich habe mich sofort um Menschen und Autos bemüht, um Einheiten und Fahrzeuge an sichere Orte zu bringen. Und gleichzeitig funktionierten alle meine körperlichen und geistigen Werkzeuge. Ich erinnere mich, dass ich ausnahmslos alle Partner im Ausland angerufen habe, weil es so schien, dass sie den Beginn eines echten Krieges nicht sahen und dass wir Hilfe brauchten. Ich erklärte, dass es einen katastrophalen Mangel an Ausrüstung, einen Bedarf an Selbstverteidigung gäbe... Seitdem wurden die Anrufe von Morgengrauen bis spät in die Nacht nicht aufgehört. Es dauerte Tag für Tag. Es schien, dass wenn man mindestens einen Anruf verpasst, dann kann man das Land verlieren.

In den ersten 20 Tagen des Krieges habe ich mehrere hundert neue Leute kennengelernt, die meine Telefonnummer auf eine unbegreifliche Weise erfahren hatten. Zuerst begann eine Welle von Anfragen - Hilfe, retten Sie, geben Sie uns einen Korridor für die Ausreise - Diplomaten, Ausländer haben gebeten. Es war notwendig, Bürger der Ukraine und griechische Bürger in Mariupol, Türken in Sumy, Italiener, Franzosen, Spanier im ganzen Land zu retten. Und in ein paar Tagen begann eine andere Welle (von Anrufen – Red.).  Man fragte, wie wir helfen könnten. Ausländer und Ukrainer*innen haben einen Strom privater Initiativen geschaffen- chaotisch waren sie auf der Suche nach Schlafsäcken, Isomatten, Schutzwesten und Helmen. Sie konkurrierten sogar miteinander. Eine solche dringliche Lösung von Problemen dauerte etwa einen Monat. Mit einer Hand mobilisierten wir nun die Nationalgarde, die Polizei, Retter zu einer etwas anderen Art von Tätigkeit, und mit der anderen sammelten wir alles, was wir bekommen konnten.

Wir haben nun unsere Arbeit systematisiert und stabilisiert. Wir haben bereits ein Register für bereitgestellte internationale Hilfen für das Innenministerium, das mehr als 500 Seiten enthält. Es gibt auch eine Liste von Bedürfnissen. Dabei entstehen Momente, die zu korrigieren sind, wie die aktuelle Energiekrise - jetzt bereiten wir uns sowohl auf eventuellen Blackout als auch auf den Bedarf vor, Zehntausende  Menschen zu erwärmen und zu ernähren.

Wie haben sich Ihre Prioritäten bei der Suche nach zusätzlichen Partnerressourcen verändert?

Es ist notwendig, die Architektur des Rechtsschutzsystems zu reformieren, klare Schlussfolgerungen zu ziehen, was funktioniert hat und was nicht. Wir verstärken deutlich die Aufmerksamkeit für den Sicherheitskontext von Stadt, Schulen, öffentlichen Orten. Wir erkannten, dass das Projekt, das bei Vorbereitung auf die Euro 2012 ins Leben gerufen wurde, und es in einigen Jahren bereits um die 112-Plattform ging, eine viel breitere Möglichkeit zur schnellen Reaktion und Austausch von Informationen als einzelne Telefonnummern von Notdiensten bietet. Dies ist richtig und effektiv. Und wir danken unseren europäischen Partnern, dass sie bereit sind, dieses Projekt zu finanzieren.

Jetzt prüfen wir mit Partnern genauer Bedürfnisse unserer Dienstleistungen unter Berücksichtigung der aktuellen Situation. Zum Beispiel stellte Großbritannien als die vierte Hilfstranche neun Feuerwehrfahrzeuge und Rettungswagen und Feuerwehr- und Rettungsausrüstung an den Katastrophenschutzdienst bereit Insgesamt wurden seit Beginn des Krieges rund 70 Feuerwehr- und Rettungsgeräte von Briten bereitgestellt erhalten.

„Information, dass die Ukraine bereitgestellte Hilfen irgendwo verstecke oder an Drittländer übergebe, ist ein absolut russisches Narrativ“

Gibt es Mechanismen zur Kontrolle der Verteilung und Übergabe von Technik, Ausrüstung, medizinischem Mittel seitens Geber, weil sie in ihren Ländern in der Regel genau überwachen, wie nationale Ressourcen verwendet werden?

Wir haben in den letzten Jahren eine Kultur von Transparenz und Demonstration von Wirksamkeit internationaler Hilfe entwickelt, als es uns gelungen war, eine Vielzahl gemeinsamer Projekte umzusetzen. Derzeit haben wir mehr als 50 davon in verschiedenen Phasen der Umsetzung. Das Innenministerium kann ganz offen über die Anzahl der Rettungsfahrzeuge, Ausrüstung, Labors usw. sprechen, aus welchem Land wir sie erhalten haben und wohin wir das weiterleiten. Unsere Offenheit ermöglicht es uns, den Partnern unter realen Bedingungen zu zeigen, wie wir ihre Hilfen einsetzen.

Russen nutzen das Thema der Hilfe aus, verbreiten Propagandafälschungen, an westliches Publikum gerichtet, über deren Diebstahl, ineffizienten Einsatz in der Ukraine und sogar Weiterverkauf an Dritte.

Das erklären wir unseren Partnern. Wir versuchen, mit ihrem Publikum zu kommunizieren, indem wir sagen: Die Information, dass die Ukraine etwas irgendwo verstecke oder bereitgestellte Hilfe an Drittländer übergebe, ist ein absolut russisches Narrativ. Wir kämpfen gerade deshalb, weil Europa und die Vereinigten Staaten nicht aufhören, alles Notwendige bereitzustellen. Gerade jetzt ist die Aufgabe, den Winter zu überleben. Und dazu bedarf es grundlegender Dinge, die das Stromnetz und das Leben der Bürger stabil und standfest machen. Wir konzentrieren uns auf Stromgeneratoren, Heizgeräte, Zelte und andere notwendige Komponenten. Die Partner verstehen das und wir bitten für diese Aufgaben um nichts Überflüssiges. Und zeigen anhand konkreter Regionen buchstäblich im Kalkulationsformat, welche Ressourcen und zu welchem Zweck wir benötigen. Ausländer kommen und sehen, dass ihre Generatoren im Betrieb sind und Energie für Schulen und Krankenhäuser erzeugen. Die Hauptsache ist, dass auf diese Weise mehr Ukrainer zu Hause überwintern, ohne in Europa nach einem warmen Winter zu suchen.

Wir bitten nicht um Geld. Wir erklären den Partnern konsequent, warum wir eine deklarierte Anzahl von Generatoren oder anderen Dingen brauchen. Und die Partnerländer entscheiden, wie viele unsere Bedürfnisse sie erfüllen können. So funktioniert es.

Wurden die Länder in diesen Monaten bezüglich der Art der Unterstützung für Komponenten des Innenministeriums spezialisiert? Zum Beispiel wurde Deutschland sofort führend bei der Hilfe für den staatlichen Notdienst und für Experten der Nationalpolizei.

Ja, es wurden bestimmte Nischen gebildet, in denen unsere Partner am effektivsten sind. Beispielsweise sind diejenigen Staaten, die noch nicht bereit sind, Waffen zu geben, bereit, humanitäre Missionen als Bestandteile des Innenministeriums zu unterstützen. Es gibt natürlich Staaten, die historisch seit langem mit uns zusammenarbeiten. Zum Beispiel haben die Vereinigten Staaten und Kanada zuvor große Hilfe geleistet, um die Stabilität des gesamten Systems zu stärken, insbesondere der Polizei, Grenzer. Dies hat ihre Fähigkeit, schon in einem umfassenden Krieg zu arbeiten, positiv beeinflusst.

Natürlich haben Länder, die die beste spezialisierte Technik produzieren, ihre Nischen im Unterstützungsprozess besetzt.

Und wenn Deutschland exzellente DNS-Labore, Reagenzien herstellt, die wir wirklich brauchen, dann wenden wir uns an unsere deutschen Kollegen. Frankreich ist der beste Hersteller von Brandausrüstung - unsere Anfrage an Paris ist darüber, und an Wien - über coole Nottreppen für Retter. Solche Fragmentierung und Ausrichtung der Partner ist ganz pragmatisch und logisch für die Spender selbst aufgebaut. Übrigens sind insgesamt fast 800 Feuerwehr- und Rettungswagen und Spezialfahrzeuge von ausländischen Partnern für Katastrophenschutzdienst erhalten worden.

Und wenn wir über Partner sprechen, meinen wir nicht nur Länder, sondern auch fürsorgliche Persönlichkeiten.

Sie sind es, die die Hilfe in Gang bringen, die bereits für die Ukraine arbeitet und deren Strom nicht aufhört zu fließen.

Gewöhnliche Europäer sind sehr solidarisch mit der Ukraine und es ist eine beispiellose Geschichte, wenn sie Millionen Ukrainer*innen in ihr Haus gelassen haben. Das konnte ich selbst sehen, als ich in diesen Ländern war. Man verhält sich dort gegenüber Ukrainern nicht als zu Opfern mit Bedauern. Sie zeigen Solidarität als gegenüber Starken.

Gennadij Karpljuk, Kyjiw

Foto: Pressedienst des Innenministeriums und Facebook von Meri Akopjan

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