Borys Tarassjuk, Ständiger Vertreter der Ukraine beim Europarat
Rückkehr der russischen Delegation zur PACE - strategischer Fehler
19.02.2020 11:33

Der erfahrene ukrainische Politiker, Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, Diplomat Borys Tarassjuk war Ende Januar mit einer Mission nach Straßburg gekommen, die Ständige Vertretung der Ukraine beim Europäischen Rat zu leiten.

Über die Prioritäten der ukrainischen Seite betreffs der Zusammenarbeit innerhalb des Europäischen Rates angesichts einer tiefen Krise dieser Organisation und über die Bemühungen der Ukraine, das Vertrauen zum Rat der EU wiederherzustellen, sprach der Botschafter in einem ersten Interview mit dem eigenen Korrespondenten von Ukrinform in Straßburg.

DIE UKRAINISCHE PARTEI HAT UNTER DEN DERZEITIGEN UMSTÄNDEN DAS BESTE ERGEBNIS ERREICHT

Herr Botschafter, wie würden Sie die Ergebnisse der Wintertagung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und die Arbeit der Ständigen Delegation der Werchowna Rada der Ukraine (Parlament - Red.) schätzen?

Für mich und für den überwiegenden Teil unserer parlamentarischen Delegation war es die erste Tagung. In den Jahren 1993-1995 leitete ich den Prozess des Beitritts der Ukraine zum Europarat. Diese Organisation ist also für mich nicht neu. Aber die vergangene Tagungswoche erwies sich als reichhaltig und sogar schwer für ukrainische Parlamentarier und gewissermaßen auch für mich. Denn ich habe am Vormittag am ersten Sitzungstag offiziell begonnen, meine Aufgaben als Ständiger Vertreter zu erfüllen.

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass diese Tagungswoche das erste PACE-Forum seit April 2014 war, an dem die ukrainische und die russische Delegation vollwertig teilnahmen.

Aus psychologischen Gründen war die Situation daher ähnlich wie im vergangenen Juni, als sich die Mehrheit der Versammlung zugunsten der "Wiederaufnahme des interparlamentarischen Dialogs" mit der Russischen Föderation äußerte.

Wir halten diese Entscheidung für falsch, müssen jedoch die Gegebenheiten akzeptieren und arbeiten.

Die Delegation der Werchowna Rada und ich haben es geschafft, die Anstrengungen der Regierung und des Parlaments zu konsolidieren und die Herausforderungen zu bewältigen, vor denen wir stehen.

Im Hinblick auf die Ergebnisse unserer Delegation möchte ich darauf hinweisen, dass die ukrainische Seite unter den derzeitigen Umständen das beste Ergebnis erreicht hat. Die Situation realistisch betrachtet zu haben, angesichts der Retrospektive der Ereignisse, glaube ich, dass die Werchowna  Rada das Richtige getan hat, als sie die Verordnung über die Teilnahme an der PACE im Jahr 2020 annahm. Es war ein Signal für unsere Partner in der PACE und nicht nur für sie. Es war ein wichtiger Schritt, als das ukrainische Parlament die Positionen und den Tätigkeitsrahmen unserer Delegation abgegrenzt hatte.

OPTIMISTISCH SCHAUE ICH AUF DIE ARBEIT UNSERER NEUEN DELEGATION

Trotz alledem, wie sind die wichtigsten Ergebnisse der Januartagung der PACE für die Ukraine und unsere Verbündeten in der Versammlung?

Die ukrainische Delegation hat gemeinsam mit Partnern „Baltic+”  (informelle Gruppe im Europarat - Red.) grundlegende Änderungen in eine Reihe von Resolutionen eintragen können.

Schließlich lassen wir uns die Sprache der Dokumente sprechen. In der beschlossenen Resolution 2325 (2020) wird ausdrücklich über die "illegale Annexion der Krim (von Russland) und die militärische Aggression in der Ostukraine" gesprochen.

In dem von der Versammlung gebilligten Bericht des Überwachungsausschusses für das Jahr 2019 wurden alle bis dahin beschlossenen Resolutionen der PACE, die die Ukraine und die Aggression der Russischen Föderation gegen unser Land seit 2014 betreffen, bestätigt. Anerkannt wurde auch, dass die Russische Föderation eine Partei der Abkommen von Minsk sei.

Können wir sicher sein, dass die entsprechenden Bestimmungen in diese für uns wichtigen Dokumente eingetragen würden, wenn sich die ukrainische Delegation der Wintertagung enthalten hätte?

Die Delegation hat auch praktische Erfahrungen der parlamentarischen Diplomatie gesammelt. Sie hat gezeigt, wie man seine Arbeit mit Partnern koordinieren kann: wo es sinnvoll ist, Kompromisse zu finden, wo es nötig ist, Härte zu zeigen.

Deshalb schätze ich die Arbeitsergebnisse unserer neuen Delegation positiv.

SEHR WICHTIG: PACE  ERKANNTE DIE RUSSISCHE FÖDERATION ALS EINE PARTEI VON "MINSK"AN

Insgesamt wurden die Befugnisse von neun nationalen Delegationen angefochten. Sechs wegen der Verletzung der Geschlechterbilanz, zwei wegen der Diskrepanz in der politischen Vertretung. Aber nur die Russische Föderation wurde aus zwei möglichen Gründen angefochten...

Unter den wichtigsten Fragen, auf die Ukraine bestand, sind die Befugnisse der Delegation der Russischen Föderation.

So ist die russische Delegation unter zwei rechtliche Gründe für die Anfechtung geraten. Leider wurden ihre Befugnisse nicht eingeschränkt. Warum? So ist das Gleichgewicht der Kräfte heute in der Versammlung. Es hat sich in den Jahren 2017-2019 etabliert. Aber die Tatsache, dass die russische Delegation in der PACE in Frage gestellt wird, ist für uns und die demokratische Gemeinschaft wichtig.

Durch die Initialisierung dieses Verfahrens gelang es der ukrainischen Delegation, der Entscheidung über die Befugnisse der russischen Delegation die Frage zur Umsetzung von früheren Beschlüssen der Versammlung als Reaktion auf die Aggression Russlands gegen die Ukraine hinzuzufügen.

Die Entscheidung, dass die Russische Föderation eine Partei der Abkommen von Minsk sei, konnte auch durchgesetzt werden.

Glauben Sie mir, es ist mühevolle Kleinarbeit, die selbst erfahrene, von den Amateuren ganz zu schweigen, Experten nicht in vollem Maße einschätzen können.

Außerdem haben es die Delegation der Ukraine und eine Gruppe unserer Freunde im Format "Baltic+" beim ersten Mal geschafft, die Bewilligung der Kandidatur des russischen Vertreters für das Amt des Vize-Vorsitzenden der PACE in Frage zu stellen.

Diese Tatsachen zeigen, in der Versammlung gibt es eine große Gruppe von Ländern, die, gelinde gesagt, Zweifel an der Möglichkeit haben, dass die russische Delegation in einem Raum mit ihnen bleibe. 

KRÄFTEVERHÄLTNIS IN PACE HAT SICH GEÄNDERT

Der Bericht des Überwachungsausschusses der Parlamentarischen Versammlung war für Russland positiv, um seine Befugnisse zu genehmigen. Wie bewerten Sie das?

Man kann dazu bemerken, dass der Ausschuss festgestellt hat, dass die Zahl von Menschenrechtsverletzungen in Russland höher liege. Auch die Besetzung der ukrainischen Gebiete durch die Russische Föderation dauert an, was von Menschenrechtsverletzungen in diesen Gebieten begleitet wurde. Und das ist, wie ich sehe, eine gemeinsame Leistung unserer Delegation in der PACE und der Freunde der Ukraine.

Natürlich muss man nicht naiv sein, wenn man erwartet, dass alle Vorschläge der ukrainischen Delegation unterstützt werden. Das Kräfteverhältnis in der PACE hat sich geändert.

Ich möchte aber betonen, dass 40 Abgeordnete aus 10 Mitgliedsstaaten des Europarats eine schriftliche Erklärung gegen die Bestätigung der Befugnisse der russischen Delegation abgegeben haben. Sie haben ihre  klare Haltung gegen diese Entscheidung bezeichnet. Das ist auch ein ernsthaftes und gewichtiges Ergebnis.

Herr Botschafter, wovon könnte das angesichts der aktuellen Machtverhältnisse im Europarat und bei seinem satzungsgemäßen Organ, der Parlamentarischen Versammlung zeugen?

Es deutet darauf hin, dass es vernünftige Kräfte in der PASE gibt, die bereit sind, hart aufzufordern, dass Russland seine Verpflichtungen als ein Mitglied des Europarats erfüllt und sich an das Völkerrecht hält.

Das zeugt auch von der Existenz einer Gruppe einflussreicher Staaten, die auch zukünftig dem Vorhaben bezüglich der Sanktionen gegen die Russische Föderation wegen Verletzung der Charta des Europarats widerstehen werden, indem sie ihre eigenen politischen und wirtschaftlichen Konjunkturinteressen verteidigen.

Aber im Juni 2019, nach der bedingungslosen Rückkehr der Delegation der Russischen Föderation, entstand die Frage bezüglich der Wiederherstellung des Vertrauen in den Europäischen Rat und der Reformierung der Organisation. Wie sind die Politik und die Haltung der Ukraine darüber?

Die Abstimmung über die Rückkehr der russischen Delegation in die Parlamentarische Versammlung des Europäischen Rats zeigt die Korrosion der grundlegenden Werte und Prinzipien, auf denen die Tätigkeit des Europarats basiert oder basiert hat.

Die Entscheidung über bedingungslose "Begnadigung" der russischen Delegation in der PACE steht mit der Charta des Europarats im Widerspruch. Sie hat die Autorität dieser internationalen Organisation untergraben und zerstört sie weiter.

Zudem hat die russische Seite seit der bedingungslosen Rückkehr Russlands in die PACE mit ihren Taten bereits mehrfach bewiesen, dass sie keine Absicht hat, ihr rechtswidriges Verhalten zu ändern. Die ukrainische Seite meint, dass kurzsichtiges Handeln des Europäischen Rats das Gefühl der Straflosigkeit nur verstärken, zusätzlich Russland wie andere potenzielle Verletzer zu noch aggressiveren Maßnahmen in der internationaler Arena, Missachtung der Rechtsstaatlichkeit und Missachtung der grundlegenden Menschenrechte  ermutigen wird.

Warum ist sowas in Europa geschehen?

Beigetragen hat dazu die drastische Veränderung der Haltungen der führenden europäischen Länder, insbesondere Frankreichs und Deutschlands. Das bestätigte die Entstehung einer neuen politischen Realität, darunter in einer der führenden internationalen Organisationen, die europäische Länder vereint.

FRANKREICH ALS LOKOMOTIVE EINES DIALOGS MIT RUSSLAND

Wie meinen Sie, warum möchten Frankreich und Deutschland mit Putin befreundet sein und auch, das ist unter anderem in Bezug auf die Haltung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, eine neue Architektur der europäischen Sicherheit zusammen mit der Russischen Föderation entwickeln? Ist es möglich, dass "das alte Europa" in der Komfortzone bleiben und Moskau nicht ärgern will?

Es ist eine Frage, die weit über den Europäischen Rat hinausgeht. Meiner Meinung nach haben hier innenpolitische Prozesse insbesondere in Frankreich eine gewisse Rolle gespielt. Es geht auch um den historischen Zusammenhang mit der Sehnsucht, als eine Lokomotive des Dialogs mit Russland aufzutreten.

Unseres Erachtens ist das eine fehlerhafte Haltung. Aber wir müssen diese Politik berücksichtigen.

Allerdings sehe ich, dass die Zustimmung zur Rückkehr der russischen Delegation ein strategischer Fehler seitens der führenden europäischen Länder war. Das wird Russland nicht aufhalten. Es wird diese Tatsache weiterhin als Anlass nutzen, "Geschäfte wie üblich zu führen" und die zahlreichen Entscheidungen internationaler Organisationen, einschließlich der Vereinten Nationen sowie PACE über die Verurteilung der russischen Aggression gegen die Ukraine und rechtswidrige Versuche der Annexion der ukrainischen Krim zu ignorieren.

Das erinnert schon an einen bestimmten Zeitraum, Ende der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, den die Geschichte Europas kennt.

DER EUROPARAT BEFINDET SICH IN DER KRISE

Jetzt befindet sich der Europäische Rat in einer institutionellen Krise angesichts der bedingungslosen Rückkehr der russischen Delegation in das satzungsgemäße Organ der Organisation - die Parlamentarische Versammlung. Welche Reformen sehen Sie im Europarat?

Die Tatsache, dass sich der Europarat ist in der Krise befindet, ist die objektive Realität. Ja, einige Mitgliedstaaten werden das öffentlich bestreiten, aber die allgemein bekannten Tatsachen sprechen für sich.

Heute ist der Wunsch der Führung der Organisation, insbesondere des Generalsekretärs und des Sekretariats, deutlich zu verzeichnen, Wege zur Reformierung der Organisation zu finden, um das Image des Europarats zu verbessern.

Dieser negative Ruf braucht Besserung nach der bedingungslosen Rückkehr der russischen Delegation in die PACE.

Am Vorabend habe ich an einer informellen Sitzung über die Reformierung der Organisation unter Leitung des Generalsekretärs teilgenommen. Dutzende Ideen wurden dazu geäußert.

Wir werden sehen, wie sie formuliert werden.

UKRAINE SETZT SICH GRUNDSÄTZLICH FÜR REFORMIERUNG DES EUROPARATS EIN

Welche Vorschläge hat die Ukraine bezüglich der Reformierung des Europäischen Rats?

Unsere Vorschläge wurden im Rahmen des Ministerausschusses sowie der PACE formuliert.

Was die Versammlung betrifft, ist das unter anderem der Beschluss der Werchowna Rada vom 16. Januar.

Im Ministerausschuss plädiert die Ukraine dafür, die Rolle des Europäischen Rats bei der Überwachung des Schutzes der Menschenrechte und des Standes der Demokratie zu verstärken und zu intensivieren. Das sind für uns grundlegende Prinzipien. Es ist ein Weg, dem Europarat zu helfen, seine statutengemäßen Ziele und Werte zu erfüllen.

Heute sind wir Zeugen einer de facto Überprüfung der Charta des Europarats außerhalb der ordnungsgemäßen Verfahren. Ein gutes Beispiel dafür sind die kürzlich in der PACE und im Ministerausschusses getroffenen Entscheidungen über die Einführung eines sogenannten komplementären Verfahrens zur Reaktion auf Verstöße der Mitgliedstaaten gegen ihre Verpflichtungen.

Genau gegen diesen Trend setzt sich die ukrainische Delegation konsequent ein.

Wir haben auch eine Reihe von Vorschlägen, die mit unseren Partnern noch durchgearbeitet werden müssen.

Jedenfalls wird die Haltung der ukrainischen Seite pragmatisch und notfalls hart sein.

Die Ukraine hat ein Interesse daran, dass der Europäische Rat seine Hauptrolle bei der Durchsetzung der Menschenrechte und der Demokratie zurückgewinnt.

Das ist unsere Grundhaltung.

Andrij Lawrenjuk, Straßburg

          nj

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